National Geographic Germany - 10.2019

(vip2019) #1

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92 NATIONAL GEOGRAPHIC


DIE NATURGESCHICHTLICHE SAMMLUNG von Pro-


fessor Royal D. Suttkus ist der Traum eines jeden


Horrorfilmregisseurs. Um zu ihr zu kommen,


fährt man von New Orleans aus 15 Kilometer


nach Südosten, bis zu einem Gelände, das an


einer Flussbiegung des Mississippi liegt. Es be-


steht zum Teil aus Sumpf und zum Teil aus


Wald. Weiter geht es auf einem Feldweg mit dem


Namen Wild Boar Road. Mississippi-Alligatoren


und Wasser-Mokassinottern leben in dem un-


durchdringlichen Waldgebiet zur Linken. Rechts


taucht ein alter Munitionsbunker auf. Seine Be-


tonmauern wurden aufgrund der Explosionsge-


fahr mit Erdwällen verstärkt. An der Laderampe


nagt der Zahn der Zeit. Sie hat Risse und neigt


sich nach außen. Alles ein bisschen unheimlich.


Auf dem etwa 160 Hektar großen ehemaligen

Militärgelände befinden sich noch 25 weitere


Bunker, die meisten davon ungenutzt. Im Zwei-


ten Weltkrieg luden Schiffe der US-Marine hier


auf dem Weg zum Meer Artilleriegeschosse. Und


im Kalten Krieg bildete der amerikanische Ge-


heimdienst CIA auf dem Gelände Guerilla-


kämpfer für die Invasion in der Schweinebucht


auf Kuba im April 196 1 aus.


Wer heute die Bunker betritt, stößt auf Mil-

lionen tote Fische. Sie schwimmen in Gläsern


verschiedener Größe, die mit Alkohol gefüllt


und luftdicht verschlossen sind. Die Behälter


stehen auf zahlreichen drei Meter hohen und


elf Meter langen Regalen. Manche Präparate


haben bizarre Formen: So drängen sich zum
Beispiel rund zwei Dutzend Löffelstöre in einem
1 9 Liter fassenden Gefäß. Ihre durchsichtigen
Schädelfortsätze sind alle nach oben gerichtet.
Dieses morbide Kabinett gehört der Tulane
University. Es ist die letzte Ruhestätte für knapp
acht Millionen tote Wasserbewohner – die größ-
te Fischsammlung der Welt.
Doch der Superlativ bedarf einer Erläuterung:
„Genau genommen ist es die größte Sammlung
von Fischen jenseits des Larvenstadiums“, er-
klärt der 38 Jahre alte Sammlungsleiter Justin
Mann. Er verbringt einen großen Teil seiner
Arbeitszeit im Kampf gegen den Schimmel, der
sich auf den Wänden ausbreitet.
Außerdem sei es die größte Sammlung von
Einzelexemplaren, aber nicht von einzelnen
Fischarten, fügt Mann hinzu. Über eine Million
Objekte gehören allein zur Elritzenart Cyprinel-
la venusta. Einige Exoten aus Indonesien und
anderen weit entfernten Teilen der Welt befin-
den sich ebenfalls in der Sammlung. Aber die
Mehrheit stammt aus dem Südosten der Verei-
nigten Staaten, also dem Landesteil zwischen
der texanischen Golfküste und den Bundesstaa-
ten North und South Carolina. Das Besondere
ist hier die Konzentration auf das Unauffällige.
Als der ehrgeizige junge Fischbiologe Royal D.
Suttkus 1 9 50 seine Professur an der Universität
antrat, folgte er beim Aufbau der Sammlung
dem Prinzip, dass man die aquatische Welt erst
versteht, wenn man sie sieht und erforscht, und
dass man nur schützen will, was man versteht.
In den 50 Jahren danach verbrachte Suttkus
viel Zeit damit, durch das Wasser zu waten, in
der Hand das Ende eines drei Meter langen
Schleppnetzes. Andere Fischbiologen fahren
zum Sammeln an viele verschiedene Orte und
sind stets auf der Suche nach neuer und inte-
ressanter Wasserfauna. Der 2 009 verstorbene
Suttkus kehrte über Jahrzehnte immer wieder
zu denselben Fundstellen an denselben Flüssen
zurück.
Suttkus führte für Papierfabriken und andere
Wasserverschmutzer Umweltverträglichkeits-
prüfungen durch. Gewöhnlich wählen Biologen
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