Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
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»Drecksfotze«, »Stück Scheiße«, »Sonder-
müll«, »Geisteskranke« – das hört sich für Sie
nach Beleidigungen an? Für mich auch –
nicht aber für das Landgericht Berlin, das
diese Face book- Kom men ta re über Renate
Künast als Meinungsäußerungen be- und
nicht als Beleidigungen verurteilte. Die Vor-
geschichte reicht bis ins Jahr 1986 zurück:
Frau Künast soll in einer Debatte im Berliner
Landesparlament einen Zwischenruf getätigt
haben, der als Forderung nach Straffreiheit für
Sex mit Kindern aufgefasst wurde, sofern da-
bei keine Gewalt angewendet werde. Sie selbst
wies diesen Vorwurf zurück. Der rechte Netz-
aktivist Sven Liebich nahm in einem mittler-
weile gelöschten Beitrag darauf Be zug und
provozierte damit die Kommentare.
Die Richter finden, zum Berufsbild von Poli-
tikerinnen gehöre das Hinnehmen von Kritik
in einem stärkeren Maß dazu. Doch der erste
Artikel unseres Grundgesetzes lautet: »Die
Würde des Menschen ist unantastbar.« Die
zitierten Beleidigungen verletzen die Würde
Renate Künasts, die auch als Politikerin durch
Artikel 1 geschützt sein sollte.
Das Urteil kann ein Präzedenzfall für sämt-
liche Beleidigungen im Netz werden, vor allem
gegenüber Frauen. Renate Künast verdient
unsere Solidarität, und wir können nur hoffen,
auch für die künftige Rechtsprechung in
Deutschland, dass ihre Beschwerde Erfolg hat.
Isolde Sellin, Schülerin, per E-Mail

Das Urteil und vor allem seine Begründung ist
ein Hasskommentar im Namen des Volkes.
Schon deshalb darf es so nicht stehen bleiben.
Jutta Gehrig, Frankfurt/M.

Auch wenn ich die Kritik von Jochen Bittner
im Ergebnis teile: Sollte er sich nicht seiner-
seits schämen, dass er seine Richterschelte äu-
ßert, ohne sich mit den Urteilsgründen aus-
ein an der zu set zen? Der Leser kann sich kein
eigenes Urteil über die angeblich sachgerechte
Kritik machen, wenn die »Sache« mit keinem
Wort erwähnt wird. Der Kommentator er-
weckt den Eindruck, als habe es sich um an-
lasslose Diffamierungen – verbrämt als sach-
gerechte Kritik an der Politikerin – gehandelt
und das Landgericht habe gemeint, als Politi-
kerin müsse Frau Künast diese hinnehmen. So
zerstört man Vertrauen in die Justiz!
Eckart Contag, per E-Mail

Der Verrohung der Sprache müssen klare
Grenzen aufgezeigt werden. So können wir
nicht mit ein an der umgehen. Es ist ein Unding,
wenn ein mittleres Gericht ein gesellschaft-
liches Tabu »mal eben« außer Kraft setzt. So
gesehen wirkt das Urteil selbst wie Hassrede.
Ernst Hankammer, Tönisvorst

Hasskommentar


im Namen des Volkes


In Ihrem Artikel vermisse ich den Hinweis auf
die verheerenden Folgen der Nazi-Ideologie,
die den gesunden Menschenverstand in ein
»gesundes Volksempfinden« umfunktionierte,
welches die Demokratie verhöhnte, die
Gleichschaltung und das »Führerprinzip« ein-
führte und zu den bekannten Folgen der
Juden verfolgung, zum »totalen Krieg« und zur
totalen Niederlage führte.
Ekkehard Scheven, per E-Mail


Nachdem ich mich gezwungen hatte, diesen
geistigen Erguss zu lesen, erinnerte ich mich
an Aphorismen von Arthur Schopenhauer:
»Gesunder Menschenverstand kann fast jeden
Grad von Bildung ersetzen, aber kein Grad
von Bildung kann einen gesunden Menschen-
verstand ersetzen.«
Friedrich Küspert, Wunsiedel


Gesunder Verstand


Zur Ausgabe N


o

(^40) IM NETZ
Weitere Leserbriefe
finden Sie unter
blog.zeit.de/leserbriefe
»Greta und Luther? Wieso nicht gleich der Heiland selbst? Hier scheint
jegliches Augenmaß verloren gegangen zu sein, vielleicht wie derzeit
überhaupt in der Klimadebatte.« Von Christoph Maurer
DAS LESERZITAT ZUR WUT VON GRETA THUNBERG:
Philipp Ther erzählt in seinem Artikel das
Märchen, dass die Ungleichheit »vor allem in-
folge der Hartz-Reformen« gestiegen sei, und
zwar auf das Niveau von Polen. Beides ist
falsch. Der Gini-Koeffizient der verfügbaren
Einkommen betrug 1991 0,246 (Zahlen der
Hans-Böckler-Stiftung) und stieg bis 2004
(dem letzten Jahr vor Einführung des Arbeits-
losengeldes II) auf 0,278. Bis 2009 hat es einen
weiteren Anstieg auf 0,280 gegeben. Der grö-
ßere Teil des Anstiegs fand also vor den Hartz-
Reformen statt. Und in Polen war der Gini-
Koeffizient 2009 mit 0,336 deutlich höher.
Martin Wendler, per E-Mail
Die UdSSR ließ nach 1945 in ihrem Einfluss-
gebiet auf deutschem Boden zahlreiche Indus-
trieanlagen demontieren und in die Sow jet-
union bringen. Auch musste die DDR noch
Jahre nach ihrer Gründung Entnahmen aus
ihrer Produktion durch die UdSSR dulden. Im
Vergleich waren die Demontagen durch die
westlichen Siegermächte wesentlich geringer.
So war es auch eine Frage der Gerechtigkeit,
dass nach der Wiedervereinigung erhebliche
Transferleistungen von West nach Ost gingen.
Eckhard Knoblauch, Bochum
Die Perspektive des Autors entspricht auch
meiner Sichtweise, nur der Untertitel ist irre-
führend: Ich habe in Deutschland (Mecklen-
burg-Vorpommern) und Polen je eine Profes-
sorenstelle. Profil und Umfang beider Stellen
sind vergleichbar. Die Gehälter stehen aber im
Verhältnis 5,5 : 1, von der Altersabsicherung
ganz zu schweigen. Da kann man wirklich
nicht behaupten, dass es den Ostdeutschen
»nicht viel besser« als den Polen gehe.
Prof. Wolfgang Kresse, Neubrandenburg
Philipp Ther: »Was lief da schief?«
ZEIT NR. 40
Die Misere Ost
und ihre Ursachen
Maximilian Probst: »Anschlag
auf die Vernunft« ZEIT NR. 40
Jochen Bittner:
»Zum Schämen« ZEIT NR. 40
W
indschiefe Buchstaben, die sich in-
ein an der verkeilen, und schwan-
kende, kaum entzifferbare Krakel-
schriften kennen Unterrichtende
und Eltern nur zu gut. Sie stehen ratlos vor einem
Problem, das so vielen Kindern das Lernen in der
Schule erschwert. Obschon die weiterführenden
Schulen seit Jahrzehnten klagen, kennt die Wis-
senschaft meistens keine andere Erklärung als
motorische Störungen. Es gibt keine Ursachen-
forschung in Richtung Schriftdidaktik und zu
Vorteilen und Nachteilen bestimmter Schrift-
typen. Das zitierte Mercator-Institut bringt die
landläufige Meinung auf den Punkt: Der Schrift-
typ ist so egal wie die Farbe des Schwimmrings
beim Schwimmenlernen.
Diese Auffassung hat sich durchgesetzt, und man
legt zudem auch kaum noch Wert auf bewe-
gungsrichtiges Schreiben. Mit abenteuerlichen
Konstrukten aus Linien, Bögen und Kringeln
basteln viele Erstklässler sich ihre Druckbuchsta-
ben, die an beliebiger Stelle beginnen. Dem neu-
esten didaktischen Trend zufolge gibt es dann von
Lehrerseite den Tipp, mit einem einfachen Ver-
bindungsstrich eine Art Schreibschrift daraus zu
machen. Zu viele Kinder landen so unverschuldet
in einer Sackgasse. Wenn die Schrift selbst nicht
funktioniert, helfen auch keine motorischen
Übungen. Ist die Handschrift einmal »verkorkst«,
ist guter Rat teuer. In den weiterführenden
Schulen verschlechtert sich die Handschrift und
wird manchmal ganz und gar unlesbar. Solide
Handschriftvermittlung – mit einem geeigneten
Schrifttyp – gehört wieder ins Zentrum des
Schriftspracherwerbs, statt sie als sinnlosen Drill
zu verunglimpfen.
Bernhard Winters, Hamm
Mein Mann hat vor etwa vier Jahren eine Gehirn-
blutung überlebt. Körperliche Schädigungen
hatte er so gut wie keine. Allerdings leidet er im-
mer noch darunter, dass sein Gehirn die Buch-
staben auf einer Tastatur teilweise nicht erkennen
kann. Handschriftlich hat er jedoch überhaupt
kein Problem, Wörter und Sätze fehlerfrei zu
schreiben. Bei der Suche nach dem richtigen
Buchstaben auf der Tastatur findet er diesen erst,
wenn er ihn vorher aufschreibt.
So viel dazu, wie wichtig es sein kann, die Hand-
schrift zu beherrschen.
Ulrike Osthushenrich, per E-Mail
Also ich freue mich immer noch, wenn ich mei-
ne alten Liebesbriefe in die Hand bekomme. Ich
weiß nicht, wie die jüngere Generation damit
klarkommt, wenn Texte im Computer wegen
der Überalterung der Technik nicht mehr zu
lesen sind. Sie sind dann einfach aus der Welt
verschwunden.
Adam Sedgwick, per E-Mail
Ich gehöre noch zu der Generation, die das
Fach »Schönschreiben« in ihrem Fächerkanon
hatte – und liebte. Was konnte man alles mit
Schrift gestalten! Vor allem beim Abschreiben
von Gedichten!
Die Handschrift ist so unverwechselbar wie un-
sere Stimme, unser Fingerabdruck oder unsere
Gestalt; sie verleiht unserer Persönlichkeit Aus-
druck. Man kann so vieles aus einer Handschrift
herauslesen, sogar aus einer Unterschrift (Bei-
spiel: Trump)!
Meine Empfehlung: Aus der Druckschrift als
Ausgangsschrift sollten die Kinder zu einer ge-
bundenen Schrift (etwa der SAS) geführt wer-
den. Damit vermeidet man eine unkontrollierte
Schriftentwicklung, die in die Unlesbarkeit
führen kann. Eine gebundene Schrift ist zudem
notwendig, um die Schreibgeschwindigkeit zu
steigern.
Monika Hader, Bendorf-Sayn
Das ist ja der größte Witz! Sie reden vom Nutzen
der Handschrift und setzen computergebaute
»handschriftliche« Buchstaben darunter. Ja kann
denn keiner der Damen und Herren Journalisten
mehr mit der Hand schreiben?
Dr. Dieter Jung, per E-Mail
Es gibt ein handgeschriebenes Buch aus dem Jahr
1983, Die Kinderstation von Ina Seeberg (Lange-
wiesche-Brandt). Der Verlag hatte sich für Hand-
schrift entschieden, weil sie die Beobachtungen
der Autorin noch authentischer rüberkommen
ließ. Das Buch ist erstklassig und erzählt in künst-
lerischen und literarischen Bildern über schwer
kranke Kinder. Ich empfehle es ausdrücklich.
Dr. Miriam Wray, Department of Germanic
Languages and Literatures, Harvard University
Ulrich Schnabel/Anna-Lena Scholz: »Die Anspitzung des Denkens« ZEIT NR. 40
Schön schreiben von der Liebe
Die heutige Ausgabe enthält folgende Publikationen
in einer Teilauf lage: Linvosges Société Anonyme
Simplifiée (S.A.S.), 88400 Gérardmer; W WF
Deutschland Umweltstiftung, 10117 Berlin; sowie
in der Auf lage Schweiz: Denner AG, 8045 Zürich
(Schweiz); sowie in der Auf lage Christ & Welt:
Gesundheitskontor B.V., 6467 JE Kerkrade (Nie-
derlande); Kirche in Not, 81545 München.
BEILAGENHINWEIS
Gretas heiliger Zorn
D
as Mädchen aus Schweden
hat vieles bewirkt – aber
längst nicht in allem recht.
Die Klage, ihr und ihrer
Generation werde die Kind-
heit gestohlen, ist nicht be-
rechtigt. Keine Generation
zuvor ist mit besseren Chancen ins Leben ge-
startet. Dann: Ihre Zweifel am Nutzen der Tech-
nologie für den Klimaschutz sind einfach un-
vernünftig. Was sonst sollte die Welt vor dem
Kollaps bewahren?
Dr. Wolfgang Hachtel, Bonn
Greta und Luther? Wieso nicht gleich der Hei-
land selbst! Hier scheint jegliches Augenmaß ver-
loren gegangen zu sein, vielleicht wie derzeit
überhaupt in der ganzen Klimadebatte. Greta ist
eine Stimme unter knapp acht Milliarden, nicht
mehr und auch nicht weniger. Sie ist nicht ge-
wählt, sie hat kein Mandat. Sicher ist sie eine ge-
wichtige Stimme mit vielen Anhängern, die ver-
vielfältigt und gefördert wird, auch von der ZEIT.
Trotzdem sollte vielleicht nicht vergessen werden,
dass Greta eine 16-jährige ehemalige Schülerin
mit Asperger-Syndrom ist, die, wie viele Personen
mit diesem Krankheitsbild, ein ausgeprägtes In-
teresse für ein Spezialgebiet entwickelt hat. Das
Problem dabei ist, dass die Betroffenen darüber
andere Dinge vernachlässigen, die mindestens
genauso wichtig sind. Da hilft auch Wut nichts.
Dr. Christoph Maurer, per E-Mail
Luther hatte in Worms keinen medialen Tross
hinter sich, wie Greta Thunberg ihn bei allen ih-
ren Auftritten hat. Martin Luther musste um sein
Leben fürchten. Gemeinsamkeiten kann ich zwi-
schen den beiden wirklich nicht finden.
Der Klimawandel ist erleb- und spürbar und
kann auch nicht geleugnet werden. Wir sollten
aber zu einer argumentativen Diskussion zurück-
kommen, welche die ganze Gesellschaft ein-
bezieht. Sie schreiben, die Politikerinnen und
Politiker betrieben eine »Homöopolitik« und dass
diese Politik von Greta Thunberg nicht mehr
akzeptiert werde. Unsere Bundeskanzlerin hat
nach meinem demokratischen Verständnis aber
einen vollkommen richtigen Satz gesagt: »Aufga-
be jeder Regierung ist es, möglichst alle Menschen
mitzunehmen.«
Tausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
gehen zurzeit auf die Straßen, weil sie um den
Erhalt ihrer Arbeitsplätze und um ihre Existenz
kämpfen. Das sind doch die Mütter und Väter
der Teenager der FFF-Bewegung.
Hubert Klemenjak, Mindelheim
Woran noch mal erinnert der Auftritt von Greta
Thunberg? Genau, an den Wiedertäufer Jan van
Leiden, der als Prophet des nahen Weltunter-
gangs im Münster der 1530er-Jahre eine Massen-
hysterie entfachte.
Der Unterschied: Jan van Leiden wurde zu Tode
gefoltert und anschließend in einem Käfig hoch
an einem Kirchturm zur Abschreckung auf-
gehängt. Greta hingegen durfte die beim UN-
Klimagipfel in New York zahlreich anwesenden
Staats- und Regierungschefs beschimpfen und
wurde dafür von diesen auch noch mit Beifall
bedacht.
Ernst-Peter Hoffmann, per E-Mail
Ein großes Kompliment an diese erlesene Gruppe
an ZEIT-Redakteuren, die diesen Artikel verfasst
haben! Sehr gut, der Vergleich mit Luther, hier
wissen wir ja, wer langfristig »recht« hatte. Sehr
gut auch der Begriff der Kompromissverdünnung
im Klimapaket.
Der Großteil der Mittelschicht kann es nach mei-
ner Überzeugung ohne Weiteres verkraften, etwas
mehr für die Zukunft beizutragen. Insgeheim hat
sie es erwartet. Und selbstverständlich sollten die
»unteren Schichten« wenig belastet werden.
Merkel hat ihre große Chance verpasst, in die Ge-
schichte einzugehen mit einer mutigen Entschei-
dung. Jeder ihrer Vorgänger hatte so einen Mo-
ment und hat ihn genutzt: Brandt die Ostpolitik,
Schmidt den Deutschen Herbst, Kohl die Wende
und Schröder die Agenda 2010.
Gunnar Finck, Prag
Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten
Schritt, sagte Laotse. Ja: Das vorliegende Klima-
paket ist nur ein erster Schritt. Aber: der Anfang!
Überhaupt anzufangen mit der Klimawende ist
ein ganz entscheidender Schritt. Das könnte
man würdigen. Darauf könnte man stolz sein.
Aber schon im Bundesrat sollte nun ein zweiter
Schritt folgen.
Reinhard Koine, Bad Honnef
Vielen Dank für die klaren Sätze. In einem Ne-
bensatz klingt an, dass die Entscheidung »zu spä-
ter Stunde« getroffen wurde. Die Kanzlerin
konnte kaum mehr die Augen offen halten. Was
einigen nach heroischem Ringen klingen mag, ist
bei Licht betrachtet dumm und verantwortungs-
los. Eine Weichenstellung, die seit Jahren offen-
sichtlich dringend notwendig ist, in einem über-
müdeten Showdown zu tätigen, ist politischer
Dilettantismus und bestenfalls ein dramaturgi-
sches Element in der Kaschierung der eigenen
Handlungsunfähigkeit. Auch das macht wütend.
Dr. Christian Voll, per E-Mail
P. Dausend/A. Mayr/P. Pinzler/M. Schieritz/B. Ulrich: »Wut« ZEIT NR. 40



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42


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