Einsteigen, bitte: Die Künstlerin und Schriftstellerin
Cemile Sahin, 1990 in Wiesbaden geboren
Fotos: Paul Niedermayer; Andreas Pein/laif (u.); Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT
Mit einem Wisch zur nächsten Wahrheit
Eine Begegnung mit Cemile Sahin, einer Künstlerin und Autorin, von der schon bald alle reden werden VON CAROLIN WÜRFEL
J
emand ist tot, so viel ist sicher. Ver-
mutlich war es Mord, und vermutlich
ist es an einem Dienstag passiert. Das
sagt jedenfalls die alte Frau mit dem
verschmierten Lidstrich. Immer wie-
der schreit sie in die Kamera: »Tuesday
was it. Tuesday, not Monday. On Tues-
day!« Es wäre leichter, ihr zu glauben, wäre da
außer der alten Frau nicht noch eine junge Frau
mit kurzem Bob, die felsenfest behauptet, sich an
einen Montag zu erinnern, einen Montag, an
dem es geregnet habe und sie, nachdem es pas-
siert sei, den Fernseher in ihrem Hotelzimmer
einschaltet habe. Andererseits: Vielleicht war es
gar kein Mord, sondern nur ein Unfall. Das sagt
der Mann mit den stecknadelkopfgroßen Pupil-
len. Dinge, sagt er, passierten eben.
Als Zuschauerin traut man diesem Typen, der
jeden Satz aus seinem Körper zu pressen scheint,
am allerwenigsten über den Weg. Das ist womög-
lich ungerecht, aber um genau diesen Zweifel geht
es in Center Shift. In insgesamt fünf Episoden, von
denen bisher zwei fertig sind, rekonstruiert die
Künstlerin Cemile Sahin mithilfe der drei Protago-
nisten und deren trügerischen Erinnerungen, was
an diesem Montag oder Dienstag passiert sein
könnte. Es ist eine unmögliche und erschreckende
Suche nach Wahrheit. Unmöglich, weil Sahin auf
die Frage: »Wer hat die Hoheit über eine Geschich-
te?« keine klare Antwort gibt und die Zuschauer
stattdessen mit diesen Fragen konfrontiert: Wem
glaubt man aus welchem Grund? Wie weit lassen
sich Ereignisse umschreiben, für die es weder echte
Bilder noch Beweise gibt? Erschreckend, weil der
Versuch, die Wahrheit herauszufinden, den drei
Protagonisten auf brutale Weise vorführt, wie fragil
die eigene Existenz ist und wie sehr dieses Ereignis
ihr Leben verändern könnte.
Plötzlich stellt der Mann unter Tränen fest,
dass sein bislang routiniertes, langweiliges Leben
vielleicht gar nicht so schlecht war. Immerhin,
sagt er, seien seine Gedanken frei gewesen. Nun
gibt es ein Gegenüber, eine Kamera, die alles hin-
terfragt, jeden Schritt und jedes Augenzucken.
Von Samstag an wird die etwa 20-minütige Epi-
sode Center Shift #01 in der Galerie für Zeitgenös-
sische Kunst in Leipzig ausgestellt (bis zum 12.
Januar). Sahin präsentiert den Film über vier große
Screens, geschnitten ist er von oben nach unten
oder von links nach rechts, als würde eine unsicht-
bare Hand über ein riesiges Tablet wischen und als
seien die Bilder ein Instagram-Feed, der sich endlos
weiterscrollen lässt.
An Instagram, wo Dinge, die vielleicht lieber
privat bleiben sollten, zur Schau gestellt werden und
es ständig an Distanz mangelt, erinnert auch die
Kameraführung. Sie rückt den Protagonisten auf
den Leib, sitzt ihnen auf dem Gesicht oder im Rü-
cken und tritt so dicht an sie heran, dass sich jeder
Gefühlzustand, Angst, Panik, Wut, Verzweiflung,
auch auf die Zuschauer überträgt.
Ganz ähnlich wie ihr Film entwickelt sich
auch das Buch, das Sahin gerade veröffentlicht
hat, ein bereits vielfach gelobtes Debut, im Kor-
binian Verlag erschienen. In Taxi überredet eine
Mutter nach dem ungeklärten Tod ihres Kindes
einen jungen Mann, bei ihr einzuziehen und ih-
ren Sohn zu spielen. Er bekommt Geld, sie die
Macht über sein Handeln. Im Laufe des Buchs
gerät der Deal aus den Fugen.
Die Sätze sind kurz und wuchtig, eine Szene
knallt auf die nächste, und man steckt entweder
im Kopf der Protagonisten fest oder steht direkt
neben ihnen. Eine Vogelperspektive gibt es nicht.
Das ist anstrengend, weil man beispielsweise aus
unmittelbarer Nähe dabei zusehen muss, wie je-
mand gefoltert oder einem Kind ein Auge aus-
gestochen wird. Manchmal möchte man laut
»Cut« rufen, um die Geschichte kurz anzuhalten
und verschnaufen zu dürfen, aber Sahin will ge-
nau das: Überforderung, nicht wegschauen kön-
nen, hinsehen müssen.
Cemile Sahin, 1990 in Wiesbaden geboren.
Ihre Eltern sind Kurden aus dem Osten der Tür-
kei. Für ihre Geburt kam die Mutter hoch-
schwanger nach Deutschland, ging danach aber
wieder in ihre Heimatstadt Dersim zurück. Sa-
hins Erinnerungen an diese Zeit seien ver-
schwommen, sagt sie, während wir in ihrem
großen Atelier in der Akademie der Künste im
Berliner Hansaviertel sitzen. »In meinem Kopf
sehe ich eigentlich nur Feuer und Autos, mit de-
nen Menschen verschwanden«, sagt sie. Das sei
nicht viel, das würde aber auch daran liegen, dass
von dieser Zeit im Osten der Türkei kaum etwas
Greifbares übriggeblieben ist.
Es gibt keine alten Kinderfotos oder Videoauf-
nahmen, anhand derer sie überprüfen könnte, was
dieses Kind damals wirklich erlebt hat. Unzuver-
lässige Erzählungen, die ihre Arbeit als Künstlerin
und Autorin heute bestimmen, sind auch ein Teil
ihrer eigenen Biografie.
Als Sahin vier Jahre alt war und die politische
Situation in Dersim unerträglich wurde, flüchtete
die Familie wie viele Kurden Anfang der Neunzi-
ger nach Europa. Der Neuanfang in Wiesbaden
war hart. »In der Türkei gehörte ich zu einem ko-
mischen Volk aus dem Hinterland. Für viele wa-
ren wir Terroristen. Hier in Deutschland war ich
plötzlich eine eingewanderte Türkin, weil die we-
nigsten wussten, wer oder was Kurden sind.« Auf
der Straße durfte aus Angst vor weiteren Repres-
sionen trotzdem kein Kurdisch mehr gesprochen
werden, in der Schule schikanierte man sie.
Sprachlosigkeit machte sich breit.
Sahins Rettung in Wiesbaden war das Kino.
Einmal in der Woche schaute sie mit ihrem Vater
amerikanische Filme an und träumte sich nach
New York, weil die Stadt für sie jene Freiheit und
Offenheit versprach, die sie daheim in Wiesbaden
so sehr vermisste. Ihr Roman Taxi ist auch mehr
Drehbuch als klassische Erzählung.
Vergangenes Jahr hat Sahin, nach Stationen in
London und New York, ihren Abschluss an der Uni-
versität der Künste in Berlin gemacht. In diesem
Frühjahr wurde sie vom Kulturkreis der deutschen
Wirtschaft mit dem »ars viva«-Preis für herausragende
Nachwuchskunst ausgezeichnet. Wäre es nach ihren
Eltern gegangen, hätte sie aber besser Ärztin oder
Anwältin werden sollen oder wenigstens Politikerin.
Zivilcourage und politisches Engagement waren im
Hause Sahin lange Zeit die einzigen Werkzeuge, die
im Kampf um eine Daseinsberechtigung als nützlich
anerkannt wurden.
Manchmal, sagt Sahin, fühle es sich deshalb so
an, als hätte sie mindestens eine Generation in der
typischen Einwanderungsgeschichte übersprungen.
Meistens seien es erst die Enkelinnen, die Künstlerin-
nen würden, nicht die Töchter. Die Töchter würden
sich einen Beruf suchen, der vor allem Sicherheit
verspricht. Vielleicht hat sie recht. Andererseits,
scheint es, wenn man etwas von Sahins Arbeiten
gelernt hat, überhaupt keine »typischen« Geschichten
zu geben, weil »typisch« ja auch bedeuten würde, dass
es nur eine Erzählperspektive gibt.
Auf eine Autofußmatte hat Sahin mal diesen
Satz gedruckt: »Erinnere mich nicht mehr an vie-
les, aber an so viel erinnere ich mich. Die Ge-
schichte klemmt an mir – so wie ich an meiner
Rolle klebe. Ich schwitze und fühle die Schweiß-
naht, die mich zusammenhielt, aufgehen.«
Z
uletzt hatte die Türkei vor 17 Jahren eine
Koalitionsregierung. Seither wird das Land
vom »Ein-Mann-Eine-Partei«-Regime ge-
führt. Seit 17 Jahren dient das Wort Koalition nur
dazu, die »alte Türkei«, die Prä-Erdoğan-Zeit, zu
diskreditieren. Erdoğan meint, Koalition sei »ein
Boot mit Loch im Rumpf. Sie bedeutet Krise,
Arbeitslosigkeit, Pleite. Sie bedeutet, dass eine
Handvoll Reiche gleich Zecken auf dem Rücken
der Leute hängen. Koalition ist ein Albtraum.«
Die letzte Koalition vereinte Nationalisten und
Liberale unter dem sozialdemokratischen Premier
Ecevit. Sie stürzte in der Wirtschafts-
krise 2002. Die verarmten Massen
straften alle Systemparteien ab und
wählten eine unbekannte »alternative«
Partei. Seither gewann die AKP fünf
von sechs Parlamentswahlen.
Das ist im Zusammenhang mit
dem globalen Gang der Politik zu se-
hen. An vielen Stellen der Welt kam
es zu einem die Gesellschaft spalten-
den Gleichgewicht des Schreckens.
Sieben Monate nach den Wahlen 2015, bei
denen die AKP 49,5 Prozent holte, stimmten
51,8 Prozent der Engländer für den Brexit, nur
48,2 Prozent wollten bleiben.
Fünf Monate darauf gewann Trump die US-
Präsidentschaftswahlen mit 48 Prozent gegen
Clinton mit 47,2 Prozent.
Im selben Jahr lehnten 50,2 Prozent den Frie-
densvertrag in Kolumbien ab.
Die starke Spaltungstendenz erzeugt weitere
Gemeinsamkeiten: In Großbritannien, den USA
und der Türkei wuchs die Kluft zwischen gering
Gebildeten und Akademikern. Gebildete entschie-
den sich seltener für Trump, Erdoğan oder den
Brexit. Vergleichbar ist auch die Spaltung zwischen
Großstadt und Provinz. In Istanbul erhielt Erdoğan,
in New York Trump, in London der Brexit weniger
Zustimmung. Deren Anhänger leben meist fern
der Metropolen, haben die Hoffnung auf die Sys-
temparteien aufgegeben, sind weniger gebildet und
schon über das mittlere Alter hinaus.
Dazu kommt die Angst. Die Ängste der Bri-
ten vor Ausbeutung durch die EU, der Amerika-
ner vor Okkupation durch illegale Migranten aus
Mexiko, der Türken vor einem kurdischen Staat
an ihrer Grenze, der Europäer vor dem Ansturm
syrischer Flüchtlinge dienten der Polarisierung
und brachten in Ländern mit schwachen Demo-
kratien Alleinherrscher ans Ruder.
Die Türkei wird seit 17 Jahren von einem
Despoten regiert, der die Ängste, die er schuf, als
Stütze seiner Macht nutzt. Das Parlament ist aus-
gehebelt, die Opposition schwach, die Presse
perdu, die Justiz abhängig, die Zivilgesellschaft
stumm. Die Folge? »Eine Handvoll Reiche, die
gleich Zecken auf dem Rücken der
Leute hängen ... Krise, Arbeitslosig-
keit, Armut, Pleite ...«
Das Mehrheitssystem, das dem Sieger
auch bei nur einem Prozent Differenz
diktatorische Kompetenzen gibt, steckt
in der Sackgasse, da es sämtliche Aus-
gleichsmechanismen zunichte gemacht
und die Hälfte der Gesellschaft ausge-
grenzt hat. Die Politik hat die Bevölke-
rung polarisiert und die Lage zum
Zerreißen gespannt. Nicht bloß Erdoğan in der
Türkei, auch Trump in den USA und die Brexit-
Anhänger in Großbritannien sehen sich mit den
bitteren Folgen der Spaltung konfrontiert.
Unser Ausgangspunkt waren Koalitionen, die
auf Kompromissen gründen, die Kunst der Ver-
ständigung. Der Brauch, eine gemeinsame Grund-
lage zu schaffen und gemeinsam zu regieren, der in
Deutschland nach der bitteren Erfahrung der Al-
leinherrscherära zur politischen Kultur wurde, reift
jetzt in der türkischen Opposition. Unter den
Trümmern eines Despotismus, der die politische
Struktur erodiert hat, lebt der Wunsch nach einer
Politik, die nicht auf Konfrontation, sondern auf
Ausgleich der Unterschiede beruht.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Auch wenn Präsident Erdoğan es verhindern möchte, entsteht in der Türkei
allmählich eine politische Kultur des Ausgleichs VON CAN DÜNDAR
Rückkehr der Koalition
Can Dündar ist Chefredakteur
der Internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich
über die Krise in der Türkei
MEINE
TÜRKEI (161)
Sahins Rettung in
Deutschland war das
Kino: Im Dunkeln
träumte sie sich nach
New York
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- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 FEUILLETON 59
WIE WIR DIE ZUKUNFT
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