Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Abb.: »I might die before I get a rifle_Device VII.« 2004/2018, Courtesy Walid Raad & Sfeir-Semler Gallery Hamburg/Beirut

Doppelt falscher Boykott


Die BDS-Bewegung, aber auch ihre Gegner befördern eine israelbezogene Kunstfeindlichkeit VON MICHA BRUMLIK


B


ekanntlich waren Kunst und Künstler
schon Platon verdächtig, weshalb er sie
aus seinem Ideal staat verbannen woll-
te. Nun sind Dortmund und Aachen
gewiss keine Ideal staa ten, gleichwohl
offenbart die dort geführte Debatte um die – man
entschuldige das Wortungetüm – Nichtpreis-
verleihung an Kamila Shamsie und Walid Raad
ein neues Phänomen: die israelbezogene Kunst-
feindlichkeit.
Der Autorin Kamila Shamsie wurde der Nelly-
Sachs-Preis der Stadt Dortmund aberkannt, im
Falle von Walid Raad verweigerte ihm die Stadt
Aachen den Kunstpreis. Beide Male ging es darum,
dass sich die britisch-pakistanische Autorin hier
und der libanesisch-amerikanische Künstler dort
nicht von der gewaltfreien BDS-Bewegung distan-
ziert haben. Die Bewegung (»Boykott, Desinvestio-
nen und Sanktionen«) organisiert internationale
Kampagnen, um Israel kulturell zu isolieren. Der
Bundestag hat sie für anti semi tisch erklärt.


Bei dem Kamila Shamsie zugedachten Nelly-
Sachs-Preis, einem Preis mit dem Namen jener jü-
dischen Nobelpreisträgerin, die den Versuch unter-
nommen hat, den Mord an sechs Millionen euro-
päischen Juden dichterisch zu fassen (zu bewältigen
gibt es hier nichts), mag das gerade noch einleuchten.


Dies ist die
Arbeit
»I might die
before I get a
rifle « von Walid
Raad. Dem
Künstler wurde
der Aachener
Kunstpreis
wegen seiner
israelkritischen
Haltung
aberkannt

Gleichwohl veröffentlichten Künstler und Intellek-
tuelle einen offenen Brief, in dem sie gegen die Ab-
erkennung des Preises protestierten. Unter ihnen
neben zwei vormaligen Preisträgern – Javier Marías
und Michael Ondaatje – auch der im Irak geborene
Avi Shlaim. Der jüdische Israeli, der international
anerkannte Studien zum Konflikt der zionistischen
Bewegung mit Palästinensern und der arabischen
Welt verfasste, hatte schon 2005 die Europäer zum
Boykott israelischer Waren aufgerufen – für ihn die
einzige Hoffnung auf eine gedeihliche Zukunft von
Israelis und Palästinensern. Will man behaupten, Avi
Shlaim sei ein Anti semit? Und wäre es dann nicht
nur konsequent, auch Javier Marías und Michael
Ondaatje wegen ihrer Solidarisierung mit Shamsie
den Nelly-Sachs-Preis rückwirkend abzuerkennen?
Freilich unterliegt diese Form israelbezogener
Kunstfeindlichkeit einer eigenen Dialektik. Die Freun-
de der israelischen Regierungspolitik sind nämlich
keineswegs die Ersten, die Kunst und Kunstschaffen-
de boykottieren. Zuerst hat die BDS- Bewegung diese
Strategie eingeschlagen. So riefen – um nur wenige
Beispiele zu nennen – im Fe bru ar 2015 über 700
britische Künstler als »Artists for Pa les tine« zum kul-
turellen Boykott Israels auf, sagten die Sänger Elvis
Costello und Carlos Santana Auftritte in Israel ab,
während Regisseur Ken Loach 2009 einen Film von
einem Festival in Mel bourne deshalb zurückzog, weil
es vom Staat Israel mitfinanziert wurde.
Politische Meinung und Kunst markieren, wie
das Beispiel Platon zeigt, ein keineswegs neues
Spannungsfeld. Geht es doch um eine seit Jahr-
tausenden diskutierte Grundsatzfrage: Ist die poli-
tische Meinung von Künstlern sogar dann, wenn
sie in ihrem Werk gar nicht zum Ausdruck kommt,
wichtiger als das Werk selbst? In einer aus dem
Nachlass publizierten Vorlesung über Sokrates aus

dem Jahr 1954 hat Hannah Arendt den griechi-
schen Begriff der dóxa, also der »Meinung«, unter-
sucht und für Pluralismus plädiert: »Die Annah-
me«, so Arendt, »war, dass sich die Welt jedem
Menschen verschieden eröffnet, je nach seiner
Stellung in ihr.« Und, so fuhr Arendt fort, dass sich
»die Gleichheit der Welt, ihre Gemeinsamkeit,
ihre Objektivität daraus ergibt, dass sich ein und
dieselbe Welt jedem anders eröffnet«.
Diese Erkenntnis gilt nicht nur für die Welt
des Politischen, sondern auch für all jene, die
Kunstwerke schaffen und rezipieren. Sind doch
Kunstschaffende und ihr Publikum allemal mehr
als lediglich ausdrucksstarke Verbreiter politischer
Ansichten. Wenn das zutrifft, ist der BDS-Bewe-
gung kritisch vorzuhalten, mit ihrem gegen Israel
gerichteten Kunstboykott die Aufgeschlossenheit
des dortigen Publikums zu unterschätzen und da-
mit der eigenen Sache zu schaden. Die Städte
Dortmund und Aachen aber haben die verfehlte
Strategie der BDS-Bewegung spiegelbildlich ver-
kehrt übernommen – auch das ein Fall von israel-
bezogener Kunstfeindlichkeit.
Und Nelly Sachs? In einer Rede zu ihrem hun-
dertsten Geburtstag, 1991 in Frankfurt am Main
gehalten, sagte Peter Hamm: »Nelly Sachs hat an
die viel beschworene Autonomie des Künstlers
keinen Augenblick lang geglaubt, sie sah sich nie
als souveräne Erfinderin, sondern als Werkzeug,
als folgsame Übersetzerin aus jenem vorgegebenen
Urtext, aus dem zu übersetzen jedem von uns auf-
getragen ist.« Ob die in buchstäblich letzter Minu-
te – im Mai 1940 – dem Tod, diesem »Meister aus
Deutschland« (Paul Celan), entronnene Dichterin
der Aberkennung des nach ihr benannten Preises
zugestimmt hätte? Nelly Sachs votierte sogar gegen
das Todesurteil für Adolf Eichmann.

62 FEUILLETON


Auf dem Kulturforum in Berlin, zwischen
der Neuen Nationalgalerie von Mies van der
Rohe und der Philharmonie von Scharoun,
will der Bund eines neues Museum errichten.
Seitdem der Entwurf der Architekten
Herzog & de Meuron vorliegt, wird darüber
gestritten: Der Bau sei zu groß, zu hässlich,
zu teuer, lautet die Kritik. Auch bleibe
unklar, warum Berlin noch ein weiteres
Ausstellungshaus brauche. Hier verteidigt
die Unternehmerin Gabriele Quandt das
Vorhaben, sie ist seit 2014 die Vorsitzende
des Vereins der Freunde der Nationalgalerie.
Die endgültige Entscheidung soll
der Bundestag im November treffen.

Es darf nicht sein, dass eine Stadt, die so eng ver-
bunden ist mit dem Aufstieg und Fall der Kunst
der Moderne, weiterhin keinen Ort hat, an dem
die Kunstdiskurse des 20. Jahrhunderts in um-
fassender Weise erfahrbar sind.
Dabei zählt die Sammlung der Berliner Na-
tionalgalerie heute international zu den größ-
ten Sammlungen zur Kunst des 20. Jahrhun-
derts und ist damit wesentlicher Bestandteil
unseres gesellschaftlichen wie kulturellen Erbes.
Sie umfasst, vom Symbolismus und Jugendstil
bis in die digitalen Videoräume der 1990er-
Jahre, rund 6000 Kunstwerke! Ohne den Neu-
bau als Ergänzung zur Neuen Nationalgalerie
wird dies alles weiterhin kaum oder nur in
Probe-Dosierungen zu sehen sein. Nur mit
dem Neubau können die weit verzweigten Be-
stände endlich zusammengeführt werden.
Wie auch schon die Gründung der National-
galerie eng mit dem privaten Engagement des
Kunstsammlers und Bankiers Joachim Heinrich
Wagener verbunden war, ist die Idee des Museums
des 20. Jahrhunderts verknüpft mit der großarti-
gen Bereitschaft der privaten Sammler Heiner und
Ulla Pietzsch, Erich Marx und Egidio Marzona,

ihre Sammlungen der Bevölkerung zu übergeben.
Dies ist wieder ein historisches Momentum. Es
ist an uns, es nicht zu verpassen.
Die Kunst des 20. Jahrhunderts – mit all
ihren Brüchen – ist wesentlich geprägt durch
Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland,
die aus einer radikal demokratischen und den
Menschen zugewandten Haltung neue Aus-
drucks- und Schaffensformen sichtbar gemacht
haben, die in der Welt einzigartig sind. Diese
Haltungen zu zeigen ist heute wichtiger denn
je! Im Haus der Neuen Nationalgalerie ist dafür
schon lange viel zu wenig Platz.
Was für eine Chance, am Kulturforum diese
großen und komplexen Sammlungen inner-
halb der nächsten Dekade neu ordnen zu kön-
nen und auf vernetzte und anschauliche Weise
einem breiten Publikum von Aufstieg und Fall
im 20. Jahrhunderts zu erzählen. Deshalb müs-
sen wir diese Chance jetzt ergreifen.
Ja, eine Summe von mehr als 450 Millionen
Euro ist ein großes Engagement der Steuerzah-
ler – niemand will damit leichtfertig umgehen.
Und die Erfahrung zeigt: Ein so starkes staatli-
ches Engagement wird auch den Einsatz priva-
ter Mäzene inspirieren! Hinzu kommt, dass in
dieser Summe Index-Steigerungen bis zur Bau-
fertigstellung und Risikovorsorge bereits ent-
halten sind.
Ja, man könnte sicher auch einen anderen
Entwurf entwickeln oder den vorliegenden
modifizieren, aber diese würden andere Fragen,
andere Kritik und in jedem Fall Verzögerungen
aufwerfen.
Ja, das große, weite Haus, entworfen von
Herzog & de Meuron, ist für mich eine ideale
Architektur. Es handelt sich nicht um wahrzei-
chenhafte Architektur, sondern um eine weite,
lichtdurchflutete Halle für alle!
Ja, irgendwann muss man sich trauen zu
entscheiden. Dieser Moment ist jetzt!

Lange schon wird über den Neubau für die Nationalgalerie in Berlin gestritten.
Nun muss endlich entschieden werden. Ein Aufruf VON GABRIELE QUANDT

Deutschland braucht


dieses Museum – jetzt!


So einladend soll das »Museum des


  1. Jahrhunderts« eines Tages aussehen


Abb.: Herzog & de Meuron


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42


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