Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Itay Tiran, 39, stammt aus Petach Tikwa (Israel). In Wien, so sagt er, finde er eine Stadt,
die vor dem Holocaust kulturell weitgehend jüdisch geprägt war

Othello aus Foto: Katarina Šoškić


dem Nahen


Osten


Von Tel-Aviv über Stuttgart nach Wien ans


Burgtheater – eine Begegnung mit Itay Tiran,


Israels großem Bühnenstar VON CHRISTIAN GAMPERT


D


iesen Othello wird man
nicht so schnell vergessen.
In der grandiosen Stutt-
garter Inszenierung von
Burkhard Kosminski, Ende
der vergangenen Spielzeit
herausgekommen, ist der
»Mohr von Venedig« kein Schwarzer, er ist weiß.
Sein angeblicher Makel ist ein anderer. Er ist ein
Fremder, ein Ausländer. Diese Regiekonzeption
hat sehr viel mit dem Hauptdarsteller zu tun. Der
israelische Schauspieler Itay Tiran gibt den
Othello, obwohl er eigentlich gar kein Deutsch
kann. Er ist dabei, es zu lernen. Er spielt die Rolle
mit erkennbar hebräischem Akzent – und das
reicht völlig aus, ihn zum Außenseiter zu machen,
trotz aller Shakespearescher Sprachfinessen, die
sich Tiran auf Deutsch angeeignet hat.
Ein israelischer Jude, der in Deutschland den
Othello spielt – und in dieser Rolle dann in den
Wahnsinn getrieben wird: Da schwingt viel Ver-
gangenheit mit. Und Itay Tiran ist nicht irgend-
wer: Er ist der bekannteste, filigranste Theater-
schauspieler Israels, ein Kaliber wie Martin
Wuttke, Ulrich Matthes oder Edgar Selge. Dass
er überhaupt in Europa ist und dass er für die
neue Saison nun von Stuttgart nach Wien an die
Burg ging, hat viel mit dem Nahen Osten, aber
auch mit dem Stuttgarter Intendanten Burkhard
Kosminski zu tun – der ihn in sein Ensemble ge-
holt und ihn dort gefördert, geschützt, ihm Zeit
gegeben hat. Kosminski ließ ihn ziehen, weil
Martin Kušej in Wien ein multikulturelles, viel-
sprachiges Ensemble aufbaut und Tiran dort
unbedingt haben wollte.
Itay Tiran fiel der Abschied aus Stuttgart
nicht leicht, so wie er sich auch das Weggehen
aus Israel nicht leicht gemacht hat. Und doch
musste es sein. Er wolle dringend etwas Neues
probieren, sagt Tiran bei unserem Gespräch. Er
habe in Israel nur noch Stagnation gespürt, poli-
tisch, aber auch persönlich, als Schauspieler. In
Stuttgart fühlte er sich gut aufgehoben. Und
doch: Es ist nicht nur die Verführung, an der
Burg zu spielen und zu inszenieren, es ist auch
die jüdische Vergangenheit Wiens, die ihn in
diese Stadt zieht.
Ich habe Itay Tiran zum ersten Mal 2004 in
Tel Aviv gesehen, als fürchterlich wütenden
Hamlet in der Werkstattbühne des Cameri-
Theaters. Da war er 24 und kam gerade von
der Schauspielschule. Die Inszenierung von
Omri Nitzan war wie ein Faustschlag. Sie
begann mit der staatstragenden Rede des Clau-
dius, der seine Vermählung mit Hamlets laszi-
ver Mutter Gertrud bekannt gibt und nebenbei
den Vertrag zerreißt, der den feindlichen
Norwegern ihr Land zurückgegeben hätte.
Kurz vor Ende der zweiten Intifada konnte das
in Israel nicht missverstanden werden. Itay
Tiran dagegen spielte einen ungeduldigen,
intellektuellen Rocker im Geist der israelischen
Opposition. Er ironisierte die Hochkultur, weil
die Hochkultur den Mord deckt.
Die starke Inszenierung blieb ganz nah bei
Shakespeares Figuren, wurde aber auch der
politischen Doppelbödigkeit des Stücks gerecht.
Tiran hat die Aufführung über tausendmal ge-
spielt, vormittags für Schulklassen, nachmittags,
abends. Tiran erzählt viele Geschichten über
diese Zeit: Schulkinder warnten ihn beim
Schwertkampf mit Laertes vor dem Gegner
(»Vorsicht, Hamlet! Hinter dir ist einer!«). Die
Leibwächter des im Publikum sitzenden Staats-
präsidenten Mosche Katzav, der später wegen
Vergewaltigung verurteilt wurde, brachten sich
in Kampfstellung, als Hamlet den Dolch heraus-
holte. Der Hamlet war für Tiran der Beginn
einer großen Karriere und landesweiter Bekannt-
heit. Schon vorher hatte er mit Paulus Manker
ein Projekt über Alma Mahler-Werfel gemacht
und war in Joshua Sobols iWittness dabei, einem
Stück, das – mittels der Erzählung einer Kriegs-
dienstverweigerung im »Dritten Reich« – die
Rolle der israelischen Soldaten in den besetzten
Gebieten infrage stellte. Er hat in Joshua Sobols
Ghetto den SS-Offizier Kittel gespielt, in Omri
Nitzans leider zu opulenter Inszenierung am
Cameri; er war Woyzeck und der böse, hässliche
Richard III.; er hat Opern inszeniert und eine
Vielzahl von Filmen gedreht, unter anderem die
Tel-Aviv-Krimis der ARD.
Aber die Hamlet-Figur war der Schlüssel für
vieles – und das Motiv für Tiran, es überhaupt
mit der Schauspielerei zu versuchen. Für seine
Eltern und Brüder war nämlich klar, dass er Pia-


nist werden würde. Tiran beschreibt sich als
träumerisches Kind, das manisch Klavier geübt
habe; im Alltag sei er ein Tollpatsch gewesen –
mit ausgeprägter Rechenschwäche. Dann, mit
17 Jahren, eine große Krise. Nichts ging mehr.
Er brach die Schule ab, und wenn er sich ans
Klavier setzte, wimmelten die Noten vor seinen
Augen wie Ameisen, Auftritte waren eine Pein.
Bei der Musterung zum Militärdienst sah eine
aufmerksame Offizierin, dass mit ihm etwas
nicht stimmte – er wurde, was selten geschieht,
vom Dienst befreit. Tiran machte eine Weile gar
nichts, schloss sich in seinem Zimmer ein und
gab vor, zu schreiben und zu komponieren. Ne-
benbei sang er in einer Rockband und hatte da
zum ersten Mal das Gefühl, Kontakt zum Publi-
kum zu bekommen.
Eines Abends saß er mit seinem Vater vor
dem Fernseher und sah den Hamlet-Film von
Kenneth Branagh. Er sei gebannt gewesen, sagt
Tiran, und deshalb nicht sehr erfreut, als er den
Hund der Familie zum Pinkeln nach draußen
führen musste. Auf der Straße habe er die
Hamlet- Szenen weiterimprovisiert – und im
Fahrstuhl dann in den Spiegel geschaut, genau
wie Branagh im Film: to be or not to be, that is the
question. Zurück vor dem Fernseher habe er sei-
nen Vater gefragt: Was würdest du davon halten,
wenn ich Schauspieler würde? Am nächsten Tag
rief er bei der Schauspielschule an. Seitdem sei
ihm die Bühne zur Heimat geworden, egal wo.
Aber die Politik begleitet ihn. Auch der
Othello, den Itay Tiran in Stuttgart spielte, hat
viel mit Israel und dem Nahostkonflikt zu tun.
Der scheinbar selbstbewusste General, der in
weißer Uniform die Kommandozentrale betritt
und die Insel Zypern von den Türken zurücker-
obern soll, ist ein Technokrat des Krieges, ein
Manager moderner Kommunikations- und Waf-
fentechnik. So wie er Konflikte über die richtige
Strategie unter den Offizieren moderiert, die wie
schwarz gewandete kalte Engel den Planungs-
Tisch umringen, so virtuos geht er auch mit Sa-
telliten, Zielkameras, Drohnen und Nachtsicht-
geräten um. Auf einer Projektionsfläche sehen
wir, womit moderne Armeen heute hantieren:
saubere Kriegsführung aus der Luft.
Itay Tiran dirigiert dazu Wagner, vor einer
Videowand, er dirigiert den Angriff wie eine
Symphonie – als wäre der Krieg eine Kunst und
Othello ein überlegenes Wesen, das sich die Welt
untertan macht. Dabei ist er innerlich unsicher
und schwach. Dieser Othello ist von Tiran
schauspielerisch als das Gegenteil des Aufrührers
Hamlet angelegt. Aber was ihre Seele betrifft,
kommt auch diese Figur aus dem Nahen Osten:
Da ist immer dieses Sich-Fremd-Fühlen in einer
Gesellschaft, die Sozialisation im permanenten
Krieg. Auch das ist ein Grund für die lodernde
Eifersucht des Othello.
Im Gegensatz dazu gelingt es dem Stuttgarter
Intendanten Burkhard Kosminski offenbar, in
seinem Ensemble ein Klima des Vertrauens zu
schaffen. Itay Tiran jedenfalls macht seinem alten
Chef auf Jiddisch ein Kompliment, wie man es
hierzulande selten hört: Er habe sofort gespürt, der
Burkhard sei »e Mensch«. A good person. Und trotz-
dem wechselte Tiran nun ans Burgtheater – schwe-
ren Herzens. Die Gründe dafür sind vielfältig. Tiran
kommt aus einer ungarischen Familie, die in den
1960iger-Jahren nach Israel einwanderte. Die
Großmutter hat den Holocaust überlebt. Ihm sei
immer klar gewesen, sagt Tiran, dass er nicht nur
ein israelischer Sabra sei, ein in Israel geborener
Jude, sondern dass eine größere Geschichte hinter
ihm stehe: die europäische Kultur. Die ist in Israel
sowieso höchst präsent. Als Klavierschüler begeis-
terte sich Tiran für Bach, Mozart und Beethoven,
für Schubert und Schumann. Er entdeckte Heine
und Schiller. »Ich verliebte mich in diese Dinge«,
es seien »authentische Erfahrungen« gewesen. Der
Klang der deutschen Sprache zog ihn an, und es
verwirrte ihn, dass diese Kultur für ihn so wichtig
wurde. Die Widersprüche mussten erkundet wer-
den. In Stuttgart sei er auf den Spuren des Joseph
Süß Oppenheimer gewandelt, den Roman Jud Süß
von Lion Feuchtwanger habe er als Jugendlicher
gelesen. In Wien nun finde er eine Stadt vor, die vor
dem Holocaust kulturell weitgehend jüdisch
geprägt war. Er müsse nur ins Leopold-Museum
gehen, um sich zu Hause zu fühlen.
Das Konzept des neuen Burgtheater-Direk-
tors Martin Kušej setzt auf Weltoffenheit, und
Itay Tiran ist einer der Schauspieler und Regis-
seure, die aus vielen Ländern engagiert wurden.
In dem Stück Vögel, das Tiran soeben in Wien

inszeniert hat, werden vier Sprachen gespro-
chen: Englisch, Deutsch, Hebräisch, Arabisch.
Der libanesische Dramatiker Wajdi Mouawad
zeigt anhand einer israelisch-palästinensischen
Liebesgeschichte das politische Chaos der Ge-
genwart, aber auch die Kreativität dieses Spra-
chengewirrs. Tiran hat das Stück schon in
Stuttgart gespielt – seine Rolle war die eines
dogmatischen Juden, der in Wahrheit ein paläs-
tinensisches Findelkind ist.
Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Itay Ti-
ran ist in Wien, aber mit dem Herzen auch ein
bisschen in Tel Aviv und in Stuttgart. Nach
unserem Gespräch holt er sein Gepäck und
muss weiter. Am Ende, sagt er mit einer gewis-
sen Selbstironie, sei er doch nur ein Jude mit
einem Koffer.

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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 FEUILLETON 63


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