Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

Der deutsche


Karibik-DJ


29


M


indergeschwinde Schunkelmusik
mit weichen elektronischen Bäs-
sen, pseudohandgeklöppelten Per-
kussionsklängen und Paarungsbe-
reitschaft signalisierenden Trompe-
tenseufzern – das ist die bislang erfolgreichste In-
novation der Spotify-Ära. Sie heißt Tropical House,
und diesem Genre zurechnen kann man unter an-
derem die inter na tio nal erfolgreichen Arbeiten von
Robin Schulz aus Osnabrück (Platz 23) oder den
Gigi-D’Agostino-Remix In My Mind (Platz 3). Der
vielleicht wichtigste Vertreter des Tropical House
aber ist der 25-jährige DJ und Produzent Felix Jähn
aus Mecklenburg-Vorpommern (Platz 29 und 51).
Tropical-House-Tracks können dank ihrer rhyth-
mischen Schlichtheit auch von ungeübten Tänzern
und Tänzerinnen mühelos bewältigt werden, viel-
leicht erklärt das ihren internationalen Erfolg; au-
ßerdem erzeugen sie mit »tropischen« Instrumenten
wie Panflöten und Marimbafonen ein wohliges Ur-
laubsgefühl. Entsprechend spielen die dazugehörigen
Videos zumeist an südlichen Stränden. Manchmal
sind auch dunkelhäutige Männer im Bild, welche
die Musik der hellhäutigen DJs auf Bongotrommeln
begleiten. Der meistgefilmte Körperteil in den Vi-
deos ist der wackelnde Frauenpo. Doch anders als
im Straßen-Rap werden die Frauen im Tropical
House immerhin nicht vergewaltigt oder sonst wie
gequält, sondern als Bestandteile des männlichen
Alltags gewürdigt. So auch im Song Cheerleader von
Felix Jähn und dem jamaikanischen Sänger Omi:
Darin lobt das lyrische Ich seine Partnerin, weil sie
ihm als Muse dient und überdies allzeit bereit ist zur
Erfüllung sexueller Wünsche. Cheerleader stand in
den US-Charts eine Zeit lang auf Platz eins – das
war seit Milli Vanilli keinem Deutschen mehr ge-
lungen; selbst Bundespräsident Frank-Walter Stein-
meier gratulierte. Von den Einnahmen hat Jähn
sich in seinem Heimatdorf im Klützer Winkel
zwischen Wismar und Lübeck ein eigenes Haus ge-
baut. Denn so gut es ihm auch in der Karibik ge-
fällt, am liebsten sitzt er am Feierabend auf der
Terrasse und lässt den Blick über die sanften Felder
Mecklenburgs schweifen. JENS BALZER

50


Felix Jaehn feat.


Jasmine Thompson


Ain’t Nobody


(Loves Me Better)


2 015


49


Dua Lipa


New Rules


2 0 17


48


Eminem


Lose Yourself


2002


47


Mero


Baller los


2 018


46


Kitschkrieg feat.


Tret t ma nn, Gringo,


G zu z, Ufo361


Standard


2 018


45


Capital Bra


One Night Stand


2 018


44


Ed Sheeran


I See Fire


2 013


43


Ed Sheeran


Per fec t


2 0 17


42


Imaging Dragons


Believer


2 0 17


41


Bebe Rexha, G-Eazy


Me, Myself & I


2 015


40


Edin, Olexesh


Magisch


2 018


39


Mike Posner, Seeb


I Took A Pill In Ibiza


2 015


38


Nimo


Heute mit mir


2 0 17


37


Henning May, Juju


Vermissen


2 019


36


Coldplay,


The Chainsmokers


Something Just


Like This


2 0 17


35


Martin Jensen


Solo Dance


2 016


34


Jason Derulo


feat. Nicki Minaj,


Ty Dolla $ign


Swalla


2 0 17


33


Justin Bieber


Love Yourself


2 015


32


R AF Camora


Primo


2 0 17


31


Sia


Cheap Thrills


2 016


30


Alligatoah


Willst du


2 013


29


Felix Jaehn, OMI


Cheerleader (Remix)


2 014


Der Schlager-


Rapper


45


D


ie Beatles waren größer als Jesus,
Capital Bra ist sogar größer als die
Beatles. Der 24-jährige Berliner
Rapper stand bereits öfter auf Platz
eins der deutschen Charts als irgend-
ein anderer Künstler, John, Paul, George und Ringo
eingeschlossen. Auch in der Liste der tausend meist-
gestreamten Spotify-Songs taucht sein Name am
häufigsten auf, an dreißig Titeln war er beteiligt
(siehe auch Platz 26 und 17). Als Wladislaw Balo-

watski kam er in, tatsächlich, Sibirien zur Welt,
wuchs dann in der Ukraine auf, bis seine Mutter mit
dem Siebenjährigen nach Hohenschönhausen zog.
Die sprachliche Formvielfalt des deutschen Raps hat
er um sein kraftvoll gerolltes »rrrr« erweitert – rrrr
wie in »Bratan«, »Rolex original«, »Stalingrad«
oder »brrrrr« (Maschinenpistolengeräusch). Weitere
Markenzeichen des Rappers: Gucci-Trainingsanzüge
und das irre »Le le le«, das er gern an seine kindischen
Refrains hängt, die einander gleichen wie ein Sport-
geländewagen dem anderen. Abwechslung, Sprech-
technik oder Wortwitz sind seine Sache nicht (»Ich
kann nicht sehr gut reden, Bra / Dafür kann ich sehr
gut zielen«); Capital Bra spielt lieber den frechen
Rotzlöffel, der sich grinsend an die Spitze des deut-
schen Raps hampelt. Damit passt er in diese späten
Zehnerjahre, er ist der Elektro-Tretroller unter den
deutschen Popstars: Die spätkapitalistische Ideolo-
gie ist ihm tief eingeschrieben, die gerade dienst-
habenden Besitzstandswahrer und Radfahrer stol-
pern immer wieder über ihn und schütteln verständ-
nislos die Köpfe – aber die Kids fahren drauf ab. Mit
der vorherigen Generation der Gangsta-Rapper teilt
sich Capital Bra nur noch die Connections ins
Milieu, tatsächlich aber nähert er sich längst von der
Straße her dem Schlager an. Zuletzt arbeitete er in
dieser Sache sogar mit Dieter Bohlen zusammen
und nahm eine eigene Version von Cherry Lady auf.
Den einen gilt dieser rasante Aufstieg als eine dem
Zeitalter der Spotify-Wegwerfmusik angemessene
Verfallserscheinung. Für die anderen ist die Musik
von Capital Bra genauso brutal schlicht, wie sie sein
muss, um als Außenseiter dieser Lehrerkinder- und
Erbengesellschaft noch irgendeinen zählbaren Er-
folg abzupressen. LARS WEISBROD

Capital Bra kommt von der Straße,
aber macht Musik für allelelelelelelele

Felix Jähn ist so erfolgreich, dass ihm
sogar der Bundespräsident gratuliert

66 POP


28


Daddy Yankee, Justin


Bieber, Luis Fonsi


Despacito (Remix)


2 0 17


27


Panic! At The Disco


High Hopes


2 018


26


Capital Bra feat. Juju


Melodien


2 0 17


25


Loud Luxury


feat. Brando


Body


2 0 17


24


Twenty One Pilots


Stressed Out


2 015


23


Robin Schulz feat.


Francesco Yates


Sugar


2 015


22


Major Lazer feat. Fuse


ODG, Nyla


Light It Up


2 015


21


Ava Ma x


Sweet But Psycho


2 018


20


Ha lse y,


The Chainsmokers


Closer


2 016


19


Imaging Dragons


Thunder


2 0 17


Die letzten


ihrer Art


M


it klassischer Gitarrenmusik lässt
sich keine Hotelsuite mehr finan-
zieren, die man zerlegen könnte.
Folgerichtig haben die Britpopper
Coldplay, die vor 20 Jahren noch
auf amtliches Rockbesteck zurückgegriffen haben
(Gitarre, Bass, Schlagzeug), mittlerweile ihre
Sechssaiter (so nannte man das früher) zugunsten
von Future-Bass-Schnulzigkeit zurückgefahren.
Legendäre Gitarrenbauer wie Gibson? Längst in-
solvent! Überhaupt finden sich unter den 1000
meistgestreamten Titeln nur noch wenige Rock-
songs, etwa Nirvanas Smells Like Teen Spirit (Platz
242), zu dem man sich bis heute gerne auf Weih-
nachtsfeiern die Krawatte um den Kopf bindet.
Mancher Musikkritiker meint, dass Rock auch des-
halb tot sei, weil sich die Leute in unseren polari-
sierten Zeiten (so nennt man das heute) nach Bie-
dermeier sehnen. Wer will schon Exzentriker auf
der Bühne sehen, wenn man auf allen Kanälen
bereits Donald Trump ertragen muss? Vermutlich
ist es andersrum. Im Vergleich zu gesichtstätowier-
ten Rappern wirken alte Rockgiganten nun wie
langweilige, politisch korrekte Spießer. Natürlich
gibt es selbst heute immer noch Künstlerinnen und
Künstler, die der Gitarre etwas entlocken, mit dem
wir noch nicht seit ewig gelangweilt wurden. Sol-
che Bands mit Namen wie Die Nerven oder Rau-
chen, findet man heutzutage statt in der Mehr-
zweckhalle im spelunkigen Untergrund. Passt das
nicht auch viel besser zum alten Rock-Gestus? Ver-
mutlich nicht. MARTIN EIMERMACHER

Coldplay haben erkannt, dass
Rockmusik niemanden mehr juckt

36


»Du liebst das lilane
Papier/Aber sagst, du
bist verliebt«

»She walks like a
model/She grants my
wishes like a genie in a
bottle yeah yeah«

»Just something I can turn to/Somebody I can kiss/
I want something just like this«

MUSIK SPEZIAL


Illustrationen: Genie Espinosa für DIE ZEIT


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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42


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