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10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 POP
Streamingdienste haben die Popkultur grundlegend verändert. Wer wissen möchte,
was dieses Land umtreibt, muss sich anschauen, was wir beim Joggen, im Auto, im Bett hören. Wir veröffentlichen die Liste
der 50 bis heute meistgestreamten Songs bei Spotify Deutschland – und erklären, was diese Charts über uns erzählen
Illustration: Genie Espinosa für DIE ZEIT
So streamen die
Deutschen
er viel zu jung verstorbene Influencer und Poptheo-
retiker Carl Jakob Haupt hat einmal bemerkt, dass
Popmusik ausgerechnet deshalb ihre Bedeutung ver-
loren habe, weil sie omnipräsent sei und überall ver-
fügbar. Mode, war er überzeugt, spiele heute eine
viel größere Rolle als Musik, denn: »Eine Jacke kann
man besitzen, einen Popsong leider nicht mehr.«
Tatsächlich mussten sich unsere Großeltern noch
jede Mark für die neue Schellackplatte der Beatles
zusammensparen, die dadurch an ideellem Wert
gewann. Popkonsum als Distinktionsmittel: Ich
habe was, was du nicht hast. Heute aber, wo die
Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts zu Ende gehen,
stellt eine überdrehte Kreativgesellschaft täglich
neue Lieder, Songs und Tracks hektoliterweise ins
Internet. Jeder kann dort mit nur einem Klick auf
sie zugreifen, kostenlos oder gegen eine verschwin-
dend geringe Gebühr. Geld gibt man nicht mehr für
Akkorde und Beats aus, sondern lieber für kabellose
Apple-Kopfhörer und teure Nike-Turnschuhe.
Popmusik hingegen ist nichts mehr wert.
Wie schade.
Oder nicht?
Ist Pop nicht erst interessant, wenn er komplett
flüchtig geworden ist? Denn erst jetzt kann Popmusik
schnell wie Quecksilber in einem Fieberthermometer
unsere Stimmungen anzeigen. Wahrheit duldet keinen
Aufschub. Wenig ist so unmittelbar wie ein Song im
Stream. Wie also hat das Streaming die Musik verän-
dert? Welche Stars, welche Pophelden und Rap-Ikonen
hat das Streamingzeitalter hervorgebracht? Und vor
allem: Was erzählen sie uns über unsere Gegenwart,
die wir jeden Tag weniger zu fassen scheinen?
Wir haben bei denen nachgeforscht, die es wissen
müssen: beim Streamingdienst Spotify. Normaler-
weise macht dieser größte Anbieter auf dem Markt
ein großes Geheimnis um seine Daten und Zahlen.
Ausnahmsweise erstellte er exklusiv für uns eine
Liste mit den 1000 meistgestreamten Songs in
Deutschland. Welche Songs wurden seit dem Start
2012 hierzulande am meisten angehört?
Die Unterschiede zu den offiziellen deutschen
Charts sind groß: So findet man Helene Fischers
übergroßen Hit Atemlos durch die Nacht in den
Streaming-Charts erst auf Platz 288. Spotify-Nutzer
sind im Durchschnitt jünger als Radiohörer. Dazu
kommt: Die Zahl der Nutzer hat sich seit 2016 mehr
als verdreifacht, und die Halbwertszeit von Pop ist
kurz. Neuere Songs schneiden darum besser ab als
ältere – in den Top 10 findet sich kein Lied aus der
ersten Hälfte des Jahrzehnts. Trotzdem hat die fol-
gende Liste enorme Aussagekraft: Sie zeigt uns die
Trends der Zukunft.
Der höchstplatzierte deutschsprachige Song, Wa s
du Liebe nennst, auf Platz zwei, wurde schwindel-
erregende 146 Millionen Mal angehört. Das Lied
stammt von Bausa, einem 30-jährigen Rapper aus
Bietigheim-Bissingen. Nicht außergewöhnlich: 22
deutschsprachige Songs schaffen es in die Top 100
der Streaming-Charts – sie lassen sich nahezu alle
dem Genre Rap zuordnen. Gitarren hingegen, das
legt die Liste nahe, findet man heutzutage statt im
Mainstream nur noch auf dem Wertstoffhof neben
Faxgeräten und Videorekordern.
Auf der Liste finden sich auch viele Künstler,
die ein problematisches Frauenbild propagieren,
und manche, die auch jenseits ihrer Texte auffällig
geworden sind: Der Hamburger Rapper Bonez
MC, der gleich zweimal in den Top 10 auftaucht,
sorgte kürzlich für Empörung, weil er sich auf Insta-
gram über Opfer häuslicher Gewalt lustig machte.
Man bekommt den Eindruck: Die identitäts-
politischen Fragen, die in den letzten Jahren
debatten prägend wirkten, gehen an der Mehrheit
vorbei. Man könnte aber auch sagen: Es bleibt
noch viel zu tun. Unter den 117 Interpreten, die
namentlich an Songs aus den Top 100 beteiligt
waren, sind nur 23 Solo-Künstlerinnen. Der Frauen-
anteil liegt bei unter 20 Prozent.
Schuld haben diesmal ausnahmsweise nicht die
alten weißen Männer: Die junge, digitale Genera-
tion streamt einfach lieber einen deutschen Rapper
oder ein männliches DJ-Duo als eine der zahl-
reichen neuen weiblichen Stimmen, die von der
Popkritik so begeistert begrüßt wurden.
Auf den nächsten beiden Seiten drucken wir die
Spotify-Charts ab, von Platz 50 bis Platz 1. Wir stel-
len Rapper vor, die wie Schlagersänger klingen, kon-
dolieren der Rockmusik, würdigen Deutschlands
wichtigsten DJ und lüften das Geheimnis um die
Nummer eins – um den Künstler, der das Zeitalter
des Musikstreamings prägt wie kein anderer. LW/ME
65
Die gesamte Streamingliste finden Sie auf den
Seiten 66 und 67
MUSIK SPEZIAL
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UKRAINISCHE RAPPERIN GEWINNT ANCHOR AWARD
part of funded by partner media partners
Druckvolle Reime,mitreiß ende Persönlichkeit, starkeBotschaft: Beim
Reeperbahn Festivalhat dieukr ainische Rapperin Alyon aAlyon aden
ANCHOR Award2 01 9g ewonnen. „Siehatu ns absolut umgehauen von
der ersten Min utean, als sieaufdie Bühnekam“,sagteDavid-Bowie-
ProduzentTonyViscontib ei derVerleihung desrenom mierte nNewcomer-
Preis es im St.Pauli Theater. Bereitszum vi ertenMal kürteeine hochkarätig
besetzte Jury dasherausragendste Talentdes viertägigen Clubfest ivals.
DerANCHOR Awardfeiertdie ganz besond ereMagie vonLive-Musik.
ErzeugteineBanddiese bestimm te Energie, diedasPublikum
elektrisie rt?VerursachteineStimmet iefsteEmotione n? Lä ss tsich
gerademitverfolgen, wieder nächsteStargeboren wird?
PASSIONIERTE JURY MIT PEACHES UND KATE NASH
„Ich möchte Unerwartetes sehenund hören“,erklärtePeache smit
Nachdr uck. AlsTeilder Jury begabsichdie Pop-Feministinmitten hinein
insReeperbahnFestival: In KiezclubswiedemNochtspeichersowie
demImperial Theatererlebte undbeurteilte sie dieKonzerteder sechs
ANCHOR-Nominierten–gemeinsammitMusikerin undSch auspielerin
Kate Nash,B eatsteaks-Sänger ArnimTeutob urg-Weiß,Radiomoderator in
ZanRowe, mitProduzentBob Rock sowieT onyV isconti, ANCHOR-Juror
der erst en Stunde.Und di eWahldieserpassioniertenExpertenrunde
fiel au feine Popkünstlerin, die denGeistdesANCHOR Awards vollends
verkörpert :inno vativ, in ternational,inspirie rend.
„Ich fr euemichriesi güberdiesenPreis.Mit demANCHORAward kann
ichmeinenLandsleutenzeigen, dass Musik au sder Ukrainegleichwertig
ist zu deraus Europa“, sagt Alyon aAlyon a. MitEnde20i st sie in ihrer
Heimat bereitsRoleModel undHip-Hop-Sensation gleichermaß en.
MillionenFan sschauen ihr eVideos,indenensiefür mehrSelbstli ebe
plädiert.„Ichwillallen Männe rn,Frauenund Kind ernsagen:Glaubtan
euch!Egal wieeuerKör peraussie ht,egalwelchen Lifestyl eihr habt:
Gesundheit undGlück sinddasWichtigste.“Eine cool ewie ch arism atische
La dy,die kein Make-upträgt,dafür aber einenBoxermantel, aufdem
stolzihr Name prangt.
HUMANISTISCH UNDHUMORVOLL
AlyonaAlyonaverzichteta uf Blingu ndPomp. Stattdessenerzäh lt
die Musikerininihren So ngslieber vonFrauenbildernjenseitsdes
Schönheitsklische es („Ribki“)sowievon jungen Erwachsenen,die mit
der Ukraine hadern unddasLandverlas sen(„Salischajuswijdim“). „Jede
undjedermusssichüberlegen:Was istmeine Mission inder Welt ?Mir hat
Gott die Gabe gegeben, zuschreiben und zusprechen.Deshalb setzeich
mich gegenBodyshaming undBullyingein.“
Zu ihrenTextenläs st siesichunter and eremvon Gespr äche nauf der
Straße anregen.EinegeerdetePopkünstl erin, dieweiß, worübersie
rappt. Aljona Sawranenko,soihr bürgerlicherName,arbei teteals
Verkäuferin, bevorsie Psyc hol ogie studierteund Erzieherin wur de.All
diese Erfahrun genmünd en in ihraktuelles Album„Pushka“. Au fDeutsch:
Kanone.Das passt. AlyonaAlyonahat eine Schlagkr aft, diezutiefs t
humanistis chund zugleichäußerst humorvoll ist. Mitnaturgewal tiger
Dyn amikfeuert sie ihre Worteab. UndihreHaltungtranspor tiertsich
ganz unmittelbar übe rihr eunglaublichePräsenz und Pe rformance.
„DieLeute verstehenmeine Sprachenich t, aber sie singenund feiern
mit“, erzähltAlyon aAlyonavon ihrenumj ubelt en AuftritteninHamburg.
DasTorzur Welt,essteht weit offen.
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