ENTDECKEN
Kiên Hoàng Lê porträtiert
hier im Wechsel mit anderen
Fotografen Menschen, die ihm
im Alltag begegnen.
Protokoll: Cosima Schmitt
Mein Vater war Seefahrer. Er ist
auf Lastschiffen gefahren, von
Hamburg nach Skandinavien
und in den Orient, und als
Erster Offizier durfte er seine
Familie mitnehmen. Schon als
Baby war ich an Bord, später in
allen Ferien. Ich spielte gerne
Zirkusprinzessin, drehte
Pirouetten auf den Pollern oder
hielt nach Delfinen Ausschau.
Ich ließ auch gerne die Beine
über die Reling baumeln, was
meiner Mutter etwas Angst
machte. Ich selbst fühlte mich
immer sicher, selbst als wir an
Bord einmal knietief im Wasser
standen. Mein Vater war ja da,
und der war groß und stark.
An seiner Hand stapfte ich
durch den Hafendreck, vorbei
an Matrosen, die ausgehungert
waren nach Leben. Vielleicht
bin ich deshalb in Frankfurt
am liebsten im Bahnhofsviertel:
Dort stranden Leute aus aller
Welt, es riecht nach Schweiß,
Motoröl und Gewürzen.
Nina Hurnÿ Pimenta Lima, 48, ist
Künstlerin und pendelt zwischen
München und Frankfurt am Main
WER
S I N D
SIE
?
Die Zungenbürste
Und der geheime Plan hinter der Zielgruppenwerbung auf Facebook
Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Nina Pauer und Britta Stuff
N
eulich las ich, dass die sozialen
Netzwerke wie Facebook oder
Twitter die Gesellschaft para-
noid machen könnten. Das
glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr an
den Geheimplan von Facebook.
Vor ein paar Wochen hatten sie einen
Vorschlag für mich, er wurde in meiner
Time line angezeigt, als ich mir am Bahn-
hof die Zeit mit Aufs-Handy-Starren ver-
trieb. Facebook schrieb: »Das könnte dir
gefallen«, darunter erschien eine Anzeige
für ein Glas. Der Kelch war geformt wie
der eines Rotweinglases, aber statt eines
Stiels hatte das Glas eine Art Korken mit
einem Loch. Den kann man direkt auf
eine Weinflasche stecken, um dann ganz
entspannt mit dem Glas aus der Flasche
zu trinken. Ein Produkt für Leute, die das
lästige Einschenken satthaben und außer-
dem ihre Flasche nicht teilen möchten.
Also im Prinzip für jeden ohne Anstand.
Man kann an dieser Anzeige sehen,
dass der Algorithmus von Facebook
möglicherweise selbst psychische Pro-
bleme hat, er ist bipolar. Er hat einen
Engel auf einer Schulter sitzen und einen
Teufel auf der anderen. Der Teufel flüs-
terte wahrscheinlich so was wie: »Die da,
das ist so eine, die trinkt direkt aus der
Flasche!« Der Engel bestand darauf, dass
ich zumindest irgendeine Art von Glas
fürs Volllaufenlassen bräuchte.
Flasche.
Glas.
FLASCHE!
GLAS!
Sie trafen sich in der Mitte.
Misstrauisch wurde ich erst ein paar
Tage später. Meine Timeline zeigte mir
ein anderes Produkt, eine Art Zungen-
bürste. Man bürstet damit nicht seine
Zunge, sondern andere Lebewesen: Es
ist eine große Bürste in Zungenform.
Man kann sich das eine Ende in den
Mund stecken und mit der borstigen
Seite seine Katze streicheln. Die fühlt
sich dabei angeblich wohl, weil ablecken
für sie ein Zeichen von Zuneigung ist.
Ich habe auf Netflix die Doku über
Cambridge Analytica gesehen. Ich weiß:
Facebook hat alle möglichen Daten über
mich. Das mit dem Wein war ja noch okay,
ich mag Wein. Aber sie müssten wissen,
dass ich gar keine Katze habe. Und auch
sonst keine Haustiere, die mit Zungen-
bürsten gebürstet werden wollen, wobei
da wahrscheinlich gar nicht so viele in-
frage kommen. Ein Wellensittich würde
sicher denken, man will ihn mit dem Ding
umbringen. Facebook weiß, dass ich nie
»Tierheim Katze abholen« google. Sie
wissen: Ich habe nicht vor, mir eine Katze
anzuschaffen. Ich habe mir höchstens mal
süße Löwenbabys-Videos angesehen.
Ich könnte mir vorstellen, dass sie
Folgendes wollen: Sie wollen, dass ich
mein neues »Glas« mitnehme, wenn ich
irgendwo eingeladen bin. Alle Bekann-
ten und Kollegen würden sich schnell
von mir abwenden, auch weil ich ihnen
erklären würde, dass das ein sehr prak-
tisches Gerät sei, das man total gut ge-
brauchen könne, also, zum Beispiel,
wenn einem Einschenken zu mühsam
sei, und das würde ja wohl jeder kennen.
Meine wenigen übrig gebliebenen
engen Freunde würden, hoffe ich, sagen:
»Okay, das ist ein bisschen komisch. Aber
nur deshalb lassen wir sie nicht fallen.«
Das würde ich nett finden, sehr nett.
Es würde mich rühren. Ich würde,
zwecks Freundschaftspflege, mit meiner
Zungenbürste auf sie zugehen.
Dann wären die auch weg.
Und ich würde dann ganz allein den
ganzen Tag vorm Computer hocken.
Und Facebook anstarren.
Guter Plan, Facebook, guter Plan.
Fast hättest du mich gehabt.
BRITTA STUFF ENTDECKT
Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42
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HENRIETTE BANZ
Einfach mal gar nichts tun.
Faulenzen. Die Zeit verrinnen
lassen, für was auch immer
verschwenden. Löcher in die
Luft starren, ohne Grund. Das
geht nicht? Doch, das geht!
Schneller essen, schneller
arbeiten, schneller schlafen –
schneller leben. Denn die Zeit
rast, sie ist kostbar und darf
nicht vertrödelt werden. Wir
müssen sie optimal nutzen,
wir müssen e ektiv sein und na-
türlich absolut perfekt. Agieren
und reagieren – und das mög-
lichst schnell. Immer mehr soll in
der gleichen Zeit erledigt werden,
auch wenn die Aufgaben eigent-
lich mehr Zeit bräuchten.
Wir beantworten E-Mails zu-
meist schon nach wenigen Minu-
ten oder spätestens am selben Tag.
Das wird von uns erwartet, und
wir erwarten es von anderen auch.
Ohne lange nachzudenken, denn
wir haben ja keine Zeit. Wir funk-
tionieren – und erledigen immer
öfter und ungefragt auch viele Din-
ge gleichzeitig. Beim Telefonieren
ordnen wir unseren Schreibtisch
oder tippen E-Mails, beim Autofah-
ren telefonieren wir, und zu Hause
läuft der Fernseher, während wir
aufräumen. Mehr und mehr Hand-
lungen laufen parallel und dazu
immer schneller ab – im Job wie zu
Hause. Geschwindigkeit ist Kult.
Nichts ist schlimmer geworden
als Nichtstun. Höchste Zeit, etwas
dagegen zu tun! Denn schneller ist
mitnichten (immer) besser und ein
rasantes Lebenstempo weder er-
strebenswert noch gesund. Zumal
wenn es dazu führt, die wichtigsten
Dinge im Leben wie Familie und
Freundschaften und das Genießen
von Momenten beiseitezuschieben
oder sogar ganz auszuklammern.
Slow Life oder Slow Living, ent-
schleunigtes Leben, ist hier ein
Ausweg und erfasst mittlerweile
viele Lebensbereiche. Je langsamer
das Tempo, desto intensiver er-
lebt man den jeweiligen Moment.
Das hat nichts mit totalem Schne-
ckentempo zu tun. An die Stelle
der üblichen Hektik im Alltag soll
durch mehr Bedächtigkeit mehr
Lebensqualität entstehen. Wir
lernen dabei, zwischen wichtigen
und unwichtigen Dingen eine Ent-
scheidung zu tre en. Doch erst
einmal müssen wir Langsamkeit
überhaupt zulassen können, denn
sie wird ja nur allzu häu g mit Zeit-
verlust, Nutzlosigkeit, Faulheit und
Schwäche gleichgesetzt.
Allein schon ohne Hektik in
den Tag zu starten ist für viele
Menschen schwierig, aber für die
innere Balance ungemein wichtig.
Dazu braucht es wirklich nicht viel,
vielleicht nur eine halbe Stunde
mehr Zeit. Auch wer kein Früh-
stücksmensch ist, wird dann die
Tasse Ka ee oder Tee bewusst
und in Ruhe genießen. Doch wer
im Eiltempo von zu Hause zur
Arbeit rast, ist schon frühmorgens
gleich auf hundertachtzig. Und im
Job? Eines nach dem anderen, denn
Multitasking ist auch hier in der Re-
gel out. Qualität ist das, was zählt,
und nicht Quantität. Auch in der
Mittagspause, wo es neben dem
essen auch darum geht, eine echte
Pause zu machen. Währenddessen
werden keine E-Mails gecheckt
oder die Punkte fürs nächste Mee-
ting verfasst. Einfach nur in Ruhe
essen. Das gilt natürlich auch zu
Hause: sich etwas Leckeres zube-
reiten, den Tisch decken, sich hin-
setzen, entspannen, essen und ge-
nießen. Auch wer allein lebt, sollte
sich diese Quality Time gönnen. In
unserer Freizeit haben wir freie Zeit
für alles, was wir gernhaben und
wollen. Wir können auch mal gar
nichts tun und einfach nur unse-
ren Gedanken nachhängen. Ohne
ein schlechtes Gewissen zu haben,
weil wir ja eigentlich noch etwas zu
erledigen hätten. Geschenkt. Tipp:
Aufschreiben, was einem wirklich
wichtig ist – im Leben, im Alltag, im
Beruf, in der Freizeit, in der Woh-
nung. Und dann entrümpeln.
Im Leben mehr Langsamkeit wagen
SLOW
LIVING
Ganz im Hier und Jetzt
Der Wunsch,
möglichst viel
in immer kür-
zerer Zeit immer
schneller zu scha en,
hat mittlerweile in vielen Lebens-
bereichen Einzug gehalten. Muss
das so sein?
IMPRESSUMVerantwortlich für den redaktionellen Inhalt: ZEIT Verlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Helmut Schmidt Haus Speersort 1, 20095 Hamburg Geschäftsführung: Dr. Rainer Esser Art Direktion: Kay Lübke, Dietke Steck Realisierung: TEMPUS CORPOR ATE GmbH – Ein Unternehmen
des ZEIT Verlags; Projektmanagement: Stefanie Eggers; Grafik: Sonja Feldkamp; Text: Henriette Banz, Lektorat: Egbert Scheunemann; Bild: iStockphoto.com/cuttlefish84 Chief Sales Officer ZEIT Verlagsgruppe: Áki Hardarson Produktmanagement: Ute Klemp Verkaufsleitung: Sandra Lindemeier,
Tel.: 040 / 32 80 359, [email protected]; Anzeigenpreise: Preisliste 64 vom 1. Januar 2019
KURZREISEN-TIPP
SEA CLOUD II: WARME
SPÄTSOMMERTAGE IN
SÜDFRANKREICH
07.09.–11.09.2020, 4 Nächte
Barcelona–Nizza mit Collioure,
Sète und Antibes (St. Paul de
Vence)
Frühbucherpreis bis 30.11.19
ab/bis Hafen ab 1.985 Euro p.P.,
Garantie-Doppelkabine
Voller Spannung erwartet: Mit der neuen
SEA CLOUD SPIRIT wird ab August 2020 der dritte
Windjammer für SEA CLOUD CRUISES in See
stechen und auf die langjährige Erfahrung und das
bewährte Konzept auf bauen. Vormerkungen für die
erste Saison sind ab sofort möglich!
(^) Buchung und Infos im Reisebüro oder bei:
SEA CLOUD CRUISES GmbH
An der Alster 9 | 20099 Hamburg
[email protected]
http://www.seacloud.com
WAS DIE WINDJAMMER-
SCHWESTERN EINT,
ist das faszinierende Segel-
erlebnis an Bord! Doch nicht
nur dabei sind Sie ganz dicht
dran: Auf einer »privaten
Yacht« wie den SEA CLOUDs
mit ihrer überschaubaren
Größe und den offenen Decks
ist auch das Meer stets zum
Greifen nah. Das alles lässt
sich in stilvoll-legerer, vor
allem aber auch sehr
persönlicher Atmosphäre
genießen – egal, für welche
der drei Yachten Sie sich
entscheiden. Die neue
SEA CLOUD SPIRIT geht
dennoch ganz neue Wege und
bietet noch mehr Möglichkeiten:
mit Balkonkabinen, einem
großzügigen Wellness- und
Spa-Bereich, einem Fitness-
bereich mit Meerblick, einem
separaten Bistro auf dem
Lidodeck und vielem mehr.
SCHNUPPERTÖRNS AUF ALLEN DREI YACHTEN
Erstaunlich, wie schnell man sich auf einer Segelkreuzfahrt vom
Alltag entfernen kann! Ganz gleich, ob Sie das authentische
Windjammergefühl an Bord genießen oder die charmanten Städte an
Land entdecken möchten: Auf den SEA CLOUDs wird Ihre kleine
Auszeit zum großen Erlebnis! Zum Kennenlernen (und Liebenlernen!)
gibt es 2020 auf der SEA CLOUD SPIRIT gleich mehrere Schnupper-
reisen, zum Beispiel vom 08. bis 12.10.2020 ab/bis Nizza mit Cassis
(Aix-en-Provence) und Sète, dem »Venedig des Languedoc«.
Reisepreis ab/bis Hafen bei Vormerkung bis 31.12.19: 2.335 Euro
p.P., Garantie-Doppelkabine. Prospekt online ansehen und
bestellen: Die Hauptkataloge 2020 und Weiteres zur neuen
SEA CLOUD SPIRIT finden Sie unter: http://www.seacloud.com/zeit
NEU 2020: SEA CLOUD SPIRIT Eine Erfolgsgeschichte geht weiter
KURZREISEN-TIPP
SEA CLOUD: DEM HERBST-
WETTER ENTFLIEHEN UND
ZU DEN SONNIGEN KANAREN
24.11.–28.11.2020, 4 Nächte
Las Palmas–Las Palmas mit
Gran Canaria, La Gomera
und Teneriffa
Frühbucherpreis bis 30.11.19
ab/bis Hafen ab 1.785 Euro p.P.,
Garantie-Doppelkabine