Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

ENTDECKEN


»Ich bin mit


diesem Land noch


nicht fertig«


Der Journalist Deniz Yücel saß ein Jahr in der Türkei im Gefängnis. Präsident Erdoğan nannte ihn


»Agentterrorist«. Im Gespräch mit EMILIA SMECHOWSKI erzählt er, wie es ist, wieder in Deutschland zu sein,


und warum er sich dennoch nach dem Ort sehnt, an dem ihm die Freiheit geraubt wurde


Es ist ein bewölkter Mittag in Berlin-Kreuz-
berg, wir sind im Café Kotti verabredet. Man
erkennt ihn schon von Weitem: Sonnenbrille
auf der Nase, Zigarette im Mund, Handy
am Ohr. Deniz Yücel nimmt die Sonnenbrille
ab, setzt sich und sagt: »Dilek meint, mit
der Sonnenbrille falle ich erst recht auf.«
Unter uns fahren Lastwagen durch die enge
Adalbertstraße, immer wieder Hupen, ab und
an Sirenen. Menschen vieler Nationalitäten
wohnen hier, auch viele Türken. Nicht alle
sind Deniz Yücel wohlgesinnt, viele nehmen
ihn als Feind der AKP wahr. Während der
»FreeDeniz«-Aktionen 2017 wurden immer
wieder Demonstranten von Berliner Erdoğan-
Anhängern beschimpft. Wir sind ehemalige
Kollegen, deshalb duzen wir uns. Das Gespräch
wird sieben Stunden dauern. Oder auch:
eineinhalb Zigarettenpackungen lang.

DIE ZEIT: Lieber Deniz, du bist jetzt seit drei
Monaten zurück in Berlin. Wie fühlst du dich?
Deniz Yücel: Ich habe mich Schritt für Schritt
wieder der Normalität angenähert. Es hat eine
Weile gedauert, bis ich mich sicher gefühlt
habe, bis ich das erste Mal Taxi gefahren bin.
Und noch länger, bis ich wieder in den Bus ge-
stiegen bin. Aber ich hatte bislang nur ange-
nehme Begegnungen. Und die Leute erkennen
mich immer seltener. Einer fragte mich neu-
lich: Ich kenne Sie irgendwo her, sind Sie nicht
Schauspieler?
ZEIT: Gibt es noch Momente, in denen du die
Freiheit besonders zu schätzen weißt? Oder
nutzt sich so etwas ab?
Yücel: Klar schätze ich die Freiheit, du etwa
nicht? Aber wenn du damit meinst, sich eigent-
lich alltägliche Dinge als Ausdruck von Freiheit
zu vergegenwärtigen – ja, solche Momente gab
es anfangs, auf Sizilien, wo ich mit Dilek nach
der Freilassung gelebt habe. Wir haben ein
Haus mit Garten gemietet. Wir wollten zur
Ruhe kommen und miteinander viel Zeit ver-
bringen. Irgendwo leben, wo unsere Füße die
Erde berühren, wie es mir Dilek mal in den
Knast geschrieben hat. Auf einer Wiese liegen!
Über einen Markt schlendern! Aber dieses Ge-
fühl von Staunen und Wertschätzen hält nicht
lange an. Klingt schade, ist aber ein Zeichen
von Normalität.
ZEIT: In Gefängnis von Silivri saßt du die
meiste Zeit in Isolationshaft. Deine Zelle war
13 Quadratmeter groß. Was hast du den gan-
zen Tag lang gemacht?
Yücel: Ich habe gearbeitet. Also wie ein Wilder
Texte geschrieben, über meine Situation in der
Haft und die Politik des Erdoğan-Regimes. Ich
habe ständig analysiert: An welchem Punkt
stehen wir gerade? Wie verhält sich die Bundes-
regierung, was will Erdoğan? Und am Ende:
Was muss ich tun, was kann ich tun? Ich war
die ganze Zeit im Kampfmodus. Als Erdoğan
einmal über mich sagte: »Solange ich in diesem
Amt bin, kommt der nicht raus«, hat das alle
verängstigt – meine Frau, meine Freunde, meine
Redaktion. Und ich dachte: Das meint der nicht
so. Das ist ein Verhandlungsangebot. Das ist ein
Gangster, und Gangster verhandeln so.
ZEIT: Warst du wirklich so cool? Du hast
nicht gedacht, verdammt, der lässt mich hier
verrotten?
Yücel: Nein. Und auf keinen Fall wollte ich
mich der Haft widerstandslos ergeben. Das
Wichtigste war für mich also die Kommunika-
tion mit der Außenwelt – und dafür durften
die Wärter bei den ständigen Leibesvisitationen
und Razzien nicht allzu misstrauisch werden.
Wenn etwas nicht korrekt lief, habe ich zwar
Einspruch erhoben, ansonsten aber den guten
Jungen gespielt. Ich glaube, ich bin ja auch ein
guter Junge.
ZEIT: Eine Woche hat 168 Stunden. Deine
Anwälte hast du ein paar Stunden pro Woche
gesehen, Dilek, deine Frau, eine Stunde. Den
Rest der Zeit über hast du gearbeitet?
Yücel: Meistens. Im Knastladen konnte ich ein-
mal die Woche Bestellungen aufgeben. Ich habe
mir bunte Wäscheklammern gekauft, die ich in
einer abgeschnittenen Colaflasche aufbewahrte,
damit etwas Farbe in die Zelle kam. Auf diese
Wäscheklammern habe ich manchmal gedan-
kenverloren geschaut wie auf einen Blumen-
strauß. Dann habe ich heimlich Minze gezüch-
tet, die ich auch aus dem Knastladen hatte. Au-
ßerdem habe ich begonnen, das Knast essen zu
verfeinern oder umzuwandeln: zum Beispiel
einen Hühncheneintopf in einen frischen Salat
mit Hühnchenstreifen. Anfangs habe ich auch
diszipliniert Sport gemacht. Gewichtheben mit
Fünf-Liter-Plastikflaschen, Laufen und ein biss-
chen Fußballspielen allein auf meinem Hof.
Der war aber kaum größer als meine Zelle und
mit Maschendrahtzaun überspannt. Sogar den
Himmel konnte ich nur durch ein Gitter sehen.
ZEIT: Hier die Zigarettenpause, da kurz was
runtertippen, schnell im Stehen was essen: Ich
kenne dich jetzt nicht als Menschen, der aus-
gewogen kocht und regelmäßig trainiert. Wo-
her kam dieses Bedürfnis, gesund zu leben?
Yücel: Ach, gesund leben, das ist so eine Zeit-
geistsache, das wollte ich gar nicht. Ich rauche
ja weiterhin und trinke meinen Kaffee mit Zu-
cker. Aber im Knast hatte ich anfangs Angst zu
verwahrlosen, in eine Depression zu fallen.
Darum erst einmal kein Fernseher, stattdessen
regelmäßig Sport.
Yücel bestellt einen Kaffee beim Kellner, auf
Türkisch.
ZEIT: Wer warst du im Knast? Der Türke? Der
Deutsche?
Yücel: Ich war der, über den der Präsident ge-
redet hat. Ich kenne die türkischen Codes, ich

Deniz Yücel am vergangenen Wochenende in Berlin

Foto: Madlen Krippendorf für DIE ZEIT; kl. Foto: ddp (S. 75)

74 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42

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