FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 wirtschaft 19
Herr Appel, wird die Post in zehn
Jahren noch Briefe austragen?
Auf jeden Fall. Auch in zehn Jahren wer-
den noch Briefe geschrieben werden,
also werden wir sie auch austragen.
Aber nicht mehr jeden Tag, wenn das
Aufkommen weiter so sinkt?
In der Tat sinken unsere Briefmengen
jährlich um zwei bis drei Prozent. Dar-
über hinaus wünschen sich manche Kun-
den eine Zustellung an weniger Tagen
oder sogar gebündelt an nur einem ein-
zelnen Tag. Deshalb teilen wir die Auf-
fassung des Wirtschaftsministeriums und
begrüßen eine Reform des Postgesetzes.
Momentan haben wir in Deutschland
die Pflicht, an sechs Tagen zuzustellen,
in Europa sind es sonst nur fünf Tage.
Sie würden den Postboten montags
am liebsten freigeben, wenn da eh
kaum was im Briefkasten landet?
Tatsächlich sind unsere Mengen am
Montag am niedrigsten. Das liegt an un-
serer hohen Qualität: Wir stellen den
weit überwiegenden Anteil am nächsten
Tag zu. Am Montag haben wir deshalb
kaum Sendungen. Unsere Mitarbeiter
hätten – und das ist nachvollziehbar –
am liebsten den Samstag frei.
Wie sind Ihre Prognosen für das
Paketgeschäft? Werden Sie in zehn
Jahren alle Einkäufe in Paketen durch
die Straßen fahren, weil niemand
mehr einen Laden betritt?
Nein, der stationäre Handel wird auch
in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.
Die Menschen möchten das so. Der An-
teil des Online-Handels beträgt heute
10 bis 15 Prozent und wird zunehmen,
aber er wird in absehbarer Zeit nicht
100 Prozent betragen.
Zum Glück. Ihre DHL-Transporter
verstopfen heute schon die Straßen.
Der Privatverkehr hat einen weitaus grö-
ßeren Anteil als unsere Transporter am
gesamten Verkehr.
Trotzdem: Ihre Paketboten versauen
die Klimabilanz!
Die CO2-Belastung durch ein Paket ent-
spricht im Schnitt gerade mal drei Kilo-
metern einer privaten Fahrt. Und diese
Zahl wird mit steigenden Paketmengen
noch weiter sinken, wenn wir zwei oder
drei Sendungen gleichzeitig an einer
Haustür abliefern. Dann wird die Zustel-
lung noch ökologischer. Schon heute
transportieren wir an Spitzentagen, zum
Beispiel vor Weihnachten, zehn Millio-
nen Pakete in Deutschland.
Sie fahren an einem einzelnen Tag
jeden vierten deutschen Haushalt an?
Ja, vor Weihnachten regelmäßig. Das
muss niemanden schrecken: E-Com-
merce ist ökologisch eher von Vorteil
als von Nachteil. Wird die letzte Meile
mit Elektrofahrzeugen absolviert, dann
haben Sie die perfekte Lösung. Unsere
Streetscooter stoßen kein CO2 aus,
wenn sie mit sauberem Strom unter-
wegs sind, was bei uns in Deutschland
zu 100 Prozent der Fall ist.
Wenn die Perspektive so toll ist,
warum wollen Sie Ihre Streetscooter-
Fabrik dann loswerden?
Wir sind sehr zufrieden mit dem Street-
scooter. Unser eigens entwickelter Elek-
trotransporter ist eine tolle Erfolgsge-
schichte für unseren Konzern. Wir ha-
ben damit vor fünf Jahren angefangen,
weil es kein Angebot aus der Industrie
gab. Heute haben wir selbst 10 000
Streetscooter auf der Straße und 13 000
Ladestationen, das ist schon ganz or-
dentlich. Trotzdem bleibt es dabei: Wir
wollen kein Autohersteller werden.
70 Millionen Euro Verlust durch die
Streetscooter sollen es im vorigen
Jahr gewesen sein.
Ein signifikanter zweistelliger Millionen-
Betrag wird es auch dieses Jahr werden.
Also nichts wie weg damit?
Wir sprechen mit potentiellen Partnern
und mit Kaufinteressenten. Details dazu
dürfen Sie in diesem Stadium nicht von
mir erwarten. Sicher ist: Wir sind lang-
fristig allein nicht der beste Eigentümer
für den Streetscooter. Unsere Investoren
wollen ein Logistikunternehmen, keinen
Autokonzern.
Ihrem Image zumindest hilft der
E-Transporter in diesen ökologisch
bewegten Zeiten. Wie stehen Sie zu
Greta und ihren Klimaaktivisten?
Ich bin ein Befürworter von „Fridays
for Future“, würde es nur noch besser
finden, wenn die Demos nicht zur
Schulzeit stattfinden würden. Wir ha-
ben damals die Freizeit geopfert für un-
sere politischen Anliegen.
Wogegen gingen Sie als junger
Mensch auf die Straße?
Gegen die Nachrüstung mit Pershing-
Raketen, unter anderem hier auf der
Großdemo im Bonner Hofgarten, auch
gegen Atomkraftwerke. Aber alles am
Wochenende, nicht in der Schulzeit
damals.
Heute sind Sie Chef des größten
Logistikkonzerns der Welt. Klären
Sie uns auf: Wie ernst sind die Ge-
fahren für den Freihandel angesichts
der Handelsstreitigkeiten?
Ich bin zuversichtlicher als die meisten.
Die Globalisierung hat über Jahrzehnte
Wohlstand gebracht. Das kann und
wird man nicht zurückdrehen.
Die ökonomische Vernunft setzt sich
am Ende durch gegen die Trump-
Rhetorik?
Die Vernunft ist jetzt schon am Werk.
Die amerikanische Regierung verfolgt
einen klaren Plan, genauso wie die chi-
nesische. Beide Seiten testen aus, wie
weit sie gehen können, und dann wer-
den sie sich irgendwann einigen. Da bin
ich zuversichtlich.
Das Kalkül von Präsident Trump ist:
Ich will die Zahl meiner Stimmen ma-
ximieren, dazu muss ich Arbeitsplätze
im Inland sichern, ohne Rücksicht
auf den Rest der Welt.
Politiker tun in erster Linie das, wovon
sie glauben, dass es für das eigene Land
von Vorteil ist. Natürlich sollte das in
Balance zu den Interessen anderer Län-
der stehen.
Donald Trump ist für Sie ein ganz
normaler, vernünftiger Politiker?
Aus seiner Sicht verfolgt er einen durch-
aus rationalen Plan. Alles andere hieße,
ihn zu unterschätzen. Ob man seine Mit-
tel mag, ist eine andere Frage.
Die Handelsstreitigkeiten schaden
dem globalen Warenaustausch schon
heute: Wie stark spüren Sie das in
Ihrem Geschäft?
Bisher kaum. Das mag sich in den
nächsten Monaten ändern, der langfristi-
ge Trend aber ist stabil: Der Welthan-
del wird weiter wachsen, und damit
auch unser Geschäft. Wir investieren
weiter in unsere Stärken, haben genü-
gend Finanzkraft dafür. Wenn es um
uns herum etwas volatiler wird, dann ha-
ben wir viele interne Maßnahmen, um
auch in einem schwächeren Umfeld zu
wachsen. Wir haben Sparten wie die
Spedition, die früh auf konjunkturelle
Schwankungen reagiert, andere Bereiche
wie die Kontraktlogistik reagieren erst
spät. Diese Balance hilft uns in Zeiten
der Unsicherheit. So sind wir durch die
Finanzkrise relativ stabil durchgesegelt.
Rechnen Sie damit, dass es so
schlimm kommt wie 2008 nach Leh-
man, verbunden mit einem rapiden
Anstieg der Arbeitslosigkeit?
Nein. Es ist nicht sehr wahrscheinlich,
dass wir im nächsten Jahr eine Rezessi-
on sehen werden. Wenn es so kommen
sollte, wird es aber keinen großen An-
stieg der Arbeitslosigkeit geben. Der Ar-
beitsmarkt ist immer noch sehr ange-
spannt, es fehlen Facharbeiter. Das ist
der Unterschied zur Finanzkrise 2008.
Ihr Aktienkurs ist damals böse ab-
gestürzt. Kann das wieder passieren?
Nein. Das lag an zwei Gründen: Wir
hatten damals Verluste mit unserem In-
landsgeschäft in Amerika geschrieben
und haben dann dieses Geschäft been-
det. Das war eine meiner ersten Amts-
handlungen als Vorstandsvorsitzender.
Außerdem sah uns die Börse damals auf-
grund unserer Tochter Postbank ein
bisschen wie einen Finanzwert. Seither
hat sich unser Kurs von damals sieben
Euro auf zeitweise 40 Euro erhöht.
Inzwischen haben Sie wieder ein
Viertel des Börsenwertes verloren.
Geht’s nun weiter bergab?
Nein, im Gegenteil. Wir haben letztes
Jahr Kursverluste verbucht, weil wir Feh-
ler in unserem deutschen Post- und Pa-
ketgeschäft gemacht haben. Wir haben
hier einen Kurswechsel vorgenommen
und uns neu aufgestellt. Mit unserer
neuen „Strategie 2025“ konzentrieren
wir uns jetzt noch stärker auf unsere pro-
fitablen Kerngeschäfte. Außerdem ste-
cken wir zwei Milliarden Euro in die Di-
gitalisierung. Diese Investitionen sollen
zu Verbesserungen von mindestens
1,5 Milliarden Euro pro Jahr führen.
Von Digitalisierung redet jeder, was
konkret bedeutet das in Ihrem Fall?
Wir werden die Effizienz unser inter-
nen Abläufe deutlich steigern. Ein Bei-
spiel: Dank Digitalisierung können wir
live die Rollcontainer verfolgen, in de-
nen unsere Pakete in den Logistikzen-
tren unterwegs sind. Wir wissen immer
genau, wo sich welches Paket befindet.
All das spart Geld...
... und vermutlich auch Arbeitsplätze?
Wenn Sie heute in eines unserer Lager
gehen, sehen sie dort viele Mitarbeiter,
die Dinge hin und her bewegen, weil
sich mehr Technologie dort in der Ver-
gangenheit nicht gerechnet hat. In der
Autobranche stehen längst Roboter in
den Fabriken. Nun werden sich auch un-
sere Lager radikal ändern, es wird dort
künftig eine Mischung aus Menschen
und Maschinen geben. Die Maschinen
können heute erkennen, wenn ein Hin-
dernis im Weg steht, außerdem ist diese
Technologie bezahlbar geworden. Unse-
re Industrie wird gerade wachgeküsst.
Das klingt nach Tausenden über-
flüssigen Stellen.
Nein, die Arbeitsplätze werden nicht ver-
schwinden. Die Arbeit wird sogar attrak-
tiver werden. Wie in vielen anderen
Branchen. Immer wenn Technik dazu-
kommt, werden die Jobs besser bezahlt
und spannender. Ich kenne auch Studi-
en, nach denen wegen der Digitalisie-
rung in den nächsten 25 Jahren jeder
zweite Job wegfallen wird. Das halte ich
für Unsinn. Die Menschheit hat den
PC überlebt, ohne Massenentlassungen.
Die Leute haben halt dazugelernt. So
wird es auch dieses Mal geschehen. Was
ist heute schon dabei, einen Chatbot zu
programmieren? Ich weiß das, weil ich
es neulich selbst gemacht habe.
Sie können programmieren?
Ja, das ist tatsächlich so simpel, das kön-
nen Sie auch. Gucken Sie mal, was die
jungen Leute heute alles auf dem
Handy machen. Da kann mir niemand
erzählen, dass die nicht programmieren
lernen können. Wenn ich heute in unse-
re Betriebe gehe, dann freuen sich die
Leute auf die neue Technik, weil sie ih-
nen das Leben leichter macht. Sie müs-
sen zum Beispiel in unseren Lagerhäu-
sern nicht mehr so schwer heben.
Klingelt dann demnächst der Paket-
roboter an unserer Haustür?
Das wird nicht so schnell passieren, da-
für ist die Sache zu komplex. Das fängt
schon damit an, dass ein Roboter nicht
so einfach feststellen kann, wo über-
haupt die Klingel ist. Jede Klingel und
jeder Briefkasten ist anders, manche Na-
mensschilder sind fast unleserlich. Des-
halb werden wir in der Zustellung noch
lange auf Menschen setzen.
Paketboten leiden unter „mafiösen
Strukturen“, kritisiert die Gewerk-
schaft Verdi, sie verdienen höchstens
sechs Euro, müssen 16 Stunden
arbeiten. Stimmt das?
Ich fürchte, dass bei einigen unserer
Wettbewerber solche Zustände herr-
schen. Den Umfang der Misere kann
ich aber nicht beurteilen. Ich kenne
nicht die genauen Verträge und Arbeits-
bedingungen unserer Konkurrenten.
Dann haben Sie nichts dagegen,
wenn die Bundesregierung Paket-
boten vor Ausbeutung schützen will?
Im Prinzip ist das eine gute Initiative,
wenn das Vorgehen praktikabel ist und
nicht zu unnötiger Bürokratie führt.
Wenn es prekäre Zustände in der Bran-
che gibt, muss man sie abstellen. Und
wenn es keine gibt, dann passiert den
Wettbewerbern durch das Gesetz ja
nichts.
Wie gefährlich wird Ihnen Ihr Kunde
Amazon als Wettbewerber, wenn
der Konzern selbst immer mehr
Transporter anschafft?
Amazon ist für uns ein wichtiger Kun-
de. Und jeder Kunde hat das Recht,
sich seine eigene Zustellung aufzubau-
en. Ob er damit auf Dauer erfolgreich
ist, wird sich zeigen.
So schnell wie die Zahl der Pakete
wächst, die Amazon selbst zustellt,
müssen Sie Angst haben, dass der
Konzern bald ohne die Post aus-
kommt.
Angst ist kein guter Ratgeber. Wir kon-
zentrieren uns darauf, dass wir immer
besser werden und weiterhin durch
hervorragende Qualität überzeugen. Im
Übrigen glauben wir, dass es auch in Zu-
kunft einen großen Markt jenseits von
Amazon gibt.
Die Zustellung für „Amazon Fresh“,
den Lebensmittelversand von Ama-
zon, haben Sie gerade aufgekündigt.
Warum?
Die Nachfrage nach Lebensmittelliefe-
rungen an die Haustür war zu gering.
Vielleicht ändert sich das in ein paar Jah-
ren. Mal schauen, wie sich der Markt
entwickelt. Die Idee ist gut, die Lebens-
mittel sind frischer als im Supermarkt,
da sie direkt aus dem Zentrallager kom-
men.
Herr Appel, verraten Sie uns zum
Schluss, wo Sie heute politisch ste-
hen?
Das Wahlgeheimnis gilt auch für Mana-
ger. Nur so viel: Meine Stimmen habe
ich schon unterschiedlichen Parteien ge-
geben, außer an den Rändern.
Linkspartei und AfD sind für Sie kei-
ne Option?
Richtig. Der Sozialismus war keine gute
Idee, und das wird nicht besser, wenn
man ihn jetzt auf demokratischem Weg
erreichen will. Der Mensch will frei ent-
scheiden und nicht bevormundet wer-
den. Auf der anderen Seite finde ich die
Position „Ausländer raus und dann wird
alles gut“ ebenso wenig wählbar. Wir
müssen uns vielmehr fragen: Wie inte-
grieren wir diese Menschen? Wir haben
in unserem Unternehmen seit 2015 rund
9000 Flüchtlinge eingestellt und hier
ganz tolle Erfahrungen gemacht.
Geht Ihre AfD-Kritik so weit, dass
Sie deren Wählern sagen: „Ich teile
euer Weltbild nicht. Geht doch bitte
zur Konkurrenz“?
Nein. Wir leben in einem demokrati-
schen Land, deshalb werde ich nieman-
den ausschließen, der für unsere Diens-
te bezahlen will.
Das Gespräch führten Georg Meck
und Christoph Schäfer.
Post-Chef Frank Appel über die CO2-Bilanz der Paketzustellung,Verluste mit
Elektro-Transportern und seine Vergangenheit als Anti-Atomkraft-Demonstrant
„Online-Handel ist gut fürs Klima“
Der Chemiker Frank Appel, Jahrgang 1961, kam von McKinsey zur Post. Seit 2008 steht er an der Spitze des Konzerns, der offiziell „Deutsche Post DHL Group“ heißt. Foto Stefan Finger