H. Anger, D. Fockenbrock,
D. Neuerer, D. Riedel Berlin
D
er Irrsinn deutschen Pla-
nungsrechts ist am Sit-
zungsplan der 16. Kam-
mer beim Verwaltungs-
gericht Düsseldorf abzu-
lesen. Verhandelt wird ernsthaft die
Frage, ob die 1845 gebaute Bahnlinie
zwischen Düsseldorf und Duisburg ein
Schwarzbau und damit illegal ist. Es
geht um nicht weniger als um eine der
meistbefahrenen Strecken in Deutsch-
land. Angeblich gibt es keine Baugeneh-
migung. Zum Verfahrensauftakt vor ei-
nigen Wochen merkte der Richter an,
dass schon der deutsche Kaiser hier ge-
fahren sei, die Strecke also wohl kaum
illegal sein könne. Verhandelt wird den-
noch.
Geklagt hatte die Bürgerinitiative An-
germund gegen die Deutsche Bahn.
Weil die Züge zu laut sind, wollen die
Bürger Nachtfahrverbote und Lang-
samfahrstellen durchsetzen. Für den
Bahnverkehr wäre das eine Katastro-
phe – sechs viel befahrene Gleise wären
betroffen. Setzen sich die Bürger mit ih-
rer Klage durch, wäre die Konsequenz
noch dramatischer: Der Zugverkehr
müsste komplett eingestellt werden.
So kurios wie am Niederrhein geht es
nicht überall in der Republik zu. Doch
immer wieder kommt es zu massiven
Planungsverzögerungen, weil Bürger
blockieren, Bauämtern Personal fehlt,
Behörden bummeln oder Gerichtsver-
fahren sich endlos hinziehen. Bei der
Küstenautobahn A20, 1992 beschlos-
sen, geht es im Kreis Segeberg seit Jah-
ren nicht voran, weil der Artenschutz
der Fledermäuse nicht ausreichend Be-
achtung fand. Und bei der Telekom
warten aktuell rund 750 neue Mobil-
funkantennen auf die Genehmigung
durch die kommunale Politik. Konzern-
chef Timotheus Höttges nerven die bü-
rokratischen Hürden beim Netzausbau:
„Wir sind viel zu langsam.“
Dabei ist der Bedarf an Infrastruktur-
ausbau riesig in Deutschland: Strom -
trassen müssen für die Energiewende
so ausgebaut werden, dass der Wind-
strom von der Küste in die Industrie-
zentren im Süden und Westen gelangen
kann. Bröselnde Brücken gilt es zu re-
parieren, Eisenbahntrassen auszubau-
en. Und allein in den Städten und Ge-
meinden herrscht nach 20 Jahren Spar-
politik ein Investitionsstau von 138,
Milliarden Euro, so die KfW.
Dass noch immer zu wenig öffentlich
gebaut wird, liegt längst nicht mehr nur
am Geld, wie der jüngste Verzweif-
lungsschrei des Bundesfinanzministers
zeigt. „Bitte nehmt das Geld!“, flehte
Olaf Scholz (SPD) Kommunen und In-
vestoren an. Scholz hat es gründlich
satt, dass ihn sein französischer Amts-
kollege Bruno Le Maire sowie die inter-
nationalen Organisationen IWF und
OECD im Halbjahresrhythmus auffor-
dern, endlich mehr in Infrastruktur zu
investieren. Aus seiner Sicht ist längst
genug Geld da: Auf mehr als 15 Milliar-
den Euro, so der Finanzminister, belie-
fen sich die Gelder, die der Bund dafür
aus den Vorjahren übrigbehalten und
2019 bereitgestellt hat — und die bisher
offenbar niemand abrufen will.
Kommunalvertreter allerdings kön-
nen den zögerlichen Mittelabfluss erklä-
ren. Ja, es gebe viele Förderprogram-
me, sagt Reinhard Sager, Präsident des
Deutschen Landkreistages. Nur: Jedes
Programm sei anders als das vorherige,
für jedes brauche man deshalb andere
Spezialisten. Die aber gebe es auf dem
Arbeitsmarkt kaum, und eine Anstel-
lung lohne sich für ein Einzelprojekt
ohnehin nicht. „Deswegen sollte der
Bund aufhören mit seinen vielfältigen
Investitionspaketen und den Kommu-
nen mehr Steuereinnahmen zugeste-
hen“, verlangt Sager.
Oft ist es die Bundesregierung selbst,
die Engstellen in den Abfluss ihrer
Mittel einbaut. Bei einem gut konstru-
ierten Förderprogramm wie dem
Kommunal investitionsprogramm wer-
den die Mittel bis 2022 abfließen, ist
Helmut Dedy, Hautgeschäftsführer des
Deutschen Städtetags, überzeugt. Es ge-
be aber Bundesprogramme, die gut ge-
meint, aber schlecht gemacht seien.
Zum Beispiel der Fonds „Saubere Luft“:
Geld daraus bekämen die Kommunen
nur, wenn sie 60 Prozent Eigenanteil
zahlen könnten – was viele überfordere.
Dass der Bedarf an öffentlichem Bau-
en riesig ist, bestreitet niemand mehr.
Die Wirtschaft schlägt immer wieder
Alarm. DIHK-Präsident Eric Schweitzer
fürchtet den Verlust von Wettbewerbs-
fähigkeit für Unternehmen. „Aus Sicht
der Betriebe können wir es uns nicht
länger leisten, jede Infrastruktur, ob
Verkehr, Energie oder Breitband, nach
eigenen Regelungen zu planen und zu
genehmigen“, sagt er. Die Bundesregie-
rung solle die Verfahren durch Verzicht
auf Sonderregelungen entbürokratisie-
ren, um sie wieder „handhabbar und
verständlich“ zu machen. Laut Gerd
Landsberg, Hauptgeschäftsführers des
Deutschen Städte- und Gemeindebun-
des, passiert jedoch das Gegenteil: „Die
Zahl der Bauvorschriften hat sich in
den letzten Jahren von 5 000 auf
20 000 vervierfacht“, sagt er.
Großhürde Klagen
Dabei ist es Ziel der Großen Koalition,
öffentliches Bauen zu beschleunigen.
Seit Dezember 2018 gilt ein neues Pla-
nungsbeschleunigungsgesetz. Es sieht
vor, mehr externe Projektmanager zu
beschäftigen, den Klageweg gegen
Bahnstrecken und Fernstraßen zu kür-
zen und Ersatzbauten ohne Planfest-
stellungsverfahren zu ermöglichen.
Die Vereinfachung bei Ersatzbauten
bewertet DIW-Bauexperte Claus Michel-
sen als Erleichterung. Er fürchtet aller-
dings, dass die Hauptgründe für den
schleppenden Baufortschritt nur
schwer zu beseitigen sein dürften, etwa
der Fachkräftemangel. „Gut jede dritte
Stelle in den kommunalen Bauämtern
ist seit Mitte der 1990er-Jahre weggefal-
len“, sagt der Ökonom. Das Problem
werde sich noch verschärfen, wenn ei-
ne große Zahl der im öffentlichen
Dienst Beschäftigten in den 2020er-Jah-
ren in Pension gehen wird.
Auch andere Experten, die täglich
mit langwierigen Genehmigungs- und
Gerichtsverfahren zu tun haben, loben
das Planungsbeschleunigungsgesetz
nur verhalten. Zwar helfe es, dass in vie-
len Fällen bereits vor Erlass des Plan-
feststellungsbeschlusses vorbereitende
Maßnahmen beginnen dürfen, sagt
Christiane Kappes, Spezialistin für Um-
welt- und Planungsrecht bei der Wirt-
schaftskanzlei CMS Deutschland. Es sei-
en aber vor allem „die oft jahrelangen
Prozesse vor den Verwaltungsgerich-
ten, die zu großen Verzögerungen füh-
ren“. Das fängt an bei Lärmklagen ge-
gen Schulneubauten, setzt sich mit Kla-
gen gegen Hochspannungsleitungen
fort und bremst jedes Bahnprojekt.
Die
blockierte
Republik
Deutschland muss mehr bauen, doch
öffentliche Projekte kommen nur schleppend
voran. Das liegt vor allem an langwieriger
Planung, fehlenden Fachkräften – und
endlosen Gerichtsverfahren.
Deutschland investiert zu wenig
Bruttoinvestitionen in Mrd. Euro
Gesamt 77,
Gemeinden
2 7,
Länder
25, 08
Bund
25, 06
HANDELSBLATT
2005 2018
*Sondervermögen • Quellen: Statistisches Bundesamt (VGR), BMF
80
60
40
0
Investitionspakete, Volumen in Mrd. Euro
Fonds zur
Förderung
kommunaler
Investitionen
Digitalfonds Kinder-
betreuungs-
ausbau*
davon: bis zum 1.7.2019 abgerufen
9
0
7
1,
1,
0,
Straßenbauarbeiten: Ohne Planung keine Baustelle.
mauritius images / J.W.Alker / imageBROKER
Titelthema
Risiko Investitionsstau
MONTAG, 7. OKTOBER 2019, NR. 192
4