Focus - 05.10.2019

(Ron) #1
LEBEN

124 FOCUS 41/2019

In Stuttgart hat die Turn-WM begonnen. Ein Gespräch mit den


Top-Athleten Elisabeth Seitz und Marcel Nguyen über schwere


Verletzungen, ungerechte Richter und das Wundermittel Honig


„Schmerzen blühen einem überall“


D


er Händedruck ist eine Über-
raschung. Kraftlos, fast zart.
Jener von Elisabeth Seitz, 25,
genauso wie der von Mar-
cel Nguyen, 32. Das ist umso
erstaunlicher, weil das Duo
ausgerechnet Barren und Stufenbarren,
jene brutalsten Geräte im Turnsport, als
Lieblingsgeräte nennt und dort mächtige
Stütz- und Fliehkräfte an ihren Händen
zerren. Vor allem der zweifache Olym-
pia-Zweite musste die Härte des Barrens
wieder einmal schmerzlich erfahren, als
ihn ein Sehnenanriss in der linken Schul-
ter kurz vor WM-Start zur Absage zwang.

Frau Seitz, Herr Nguyen,
lassen Sie uns über Schmerzen
reden. Was macht der Körper?
Nguyen: Der seelische Schmerz der
WM-Absage ist größer als der körper-
liche. Ich hätte sogar einen Abriss der
Sehne in Kauf genommen. Dass Stuttgart
nun ohne mich stattfindet, ist die schwers-
te Entscheidung meines Lebens. Mein
WM-Traum ist geplatzt.
Seitz: Schmerzen gehören beim Turnen
dazu. Im Alter muss man intelligenter mit
sich umgehen, braucht mehr Pflege. Viel
hilft viel ist da der falsche Ansatz. Nach
20 Jahren Leistungsturnen brauche ich
morgens eine längere Anlaufzeit, bis der
Körper wieder mitmacht.
Sie haben sich mal beim Def, einem
Schraubensalto mit Richtungswechsel, am
oberen Stufenbarrenholm ein paar Zähne
ausgeschlagen und sich zugleich durch die
Lippe gebissen. Ist es das wert, Frau Seitz?
Seitz: (Lacht) Ehrliche Antwort: nein. Als
ich mir das dritte Mal den Kopf angeschla-
gen habe und mir die Nase brach, habe ich
auf dieses Element verzichtet. Danach war
der Gedanke, dass erneut was Schlimmes
passieren könnte, sofort wieder weg.
Auch haben Sie nach einem Ermüdungs-
bruch schon mal mit Schrauben im linken
Fuß geturnt. Wie hart sind Turner eigentlich?
Seitz: Eine Weile nach der OP hatte ich
damals das Gefühl, dass der Fuß stabil
ist. Der Knochen war wieder zusammen-
gewachsen. Die beiden Schrauben habe
ich dann erst 2017, also nach Olympia,
entfernen lassen. War ja kein Problem:
Fuß aufmachen, rausnehmen, fertig!
Herr Nguyen, wie bereits 2014 müssen
Sie schon wieder wegen einer Verletzung
eine Weltmeisterschaft absagen.
Nguyen: Das sind extrem harte Rück-
schläge. Aber damals wie heute habe ich
die Olympischen Spiele vor Augen. Ich

Mister Barren ...
Der Münchner errang bei den Olympischen
Spielen 2012 in London zweimal Silber (Barren,
Mehrkampf). Er ist dreifacher Europameister
und 24-facher Deutscher Meister

darf jetzt keine Zeit verlieren. Ich weiß
von 2014, dass es ein Jahr dauert, bis das
alte Leistungsniveau wieder erreicht ist.
Ich will und werde zurückkommen!
Barren beziehungsweise Stufenbarren
gelten als besonders brutale Geräte.
Nguyen: Finde ich nicht. Wenn ich beim
Bodenturnen schief lande oder meine
Schultern hart gegen die Ringe pressen,
ist das auch nicht angenehm. Wahrschein-
lich gibt es keinen Ringe-Spezialisten,
der nicht schon eine Schulter-OP hatte.
Schmerzen blühen einem überall.
Seitz: Grundsätzlich betreten wir die
Halle ja nicht mit dem Gefühl, dass es
gleich furchtbar schmerzhaft wird. Gutes
Krafttraining und saubere Technik sind
die Garanten dafür, dass es nicht allzu
weh tut. Manchmal aber habe ich auch
Teile dabei, die noch nicht richtig sitzen.
Da weiß ich, die Landung wird brutal.

Bei den Spielen in Rio hatte sich Ihr
Freund und Kollege Andreas Toba bei der
Bodenübung ein Kreuzband gerissen,
war aber trotzdem am Pauschenpferd
angetreten, um den Finaleinzug des
Teams möglich zu machen. Erst drei Jahre
und drei Knie-Operationen später kann
der 28-Jährige nun wieder turnen.
Nguyen: Andreas wusste in diesem
Augenblick gar nicht genau, was da in sei-
nem Knie los war. Auch war er voller Adre-
nalin, hatte vier Jahre auf Olympia hin trai-
niert, war topfit und wollte den Teamerfolg
nicht gefährden. Ich denke, dass andere


  • auch ich selbst – in dem Moment ähnlich
    gehandelt hätten. Aber es ist schon eine
    krasse Sache, die Andreas da gemacht hat.
    Passenderweise ist auf Ihre Brust „Pain
    is temporary, pride is forever“ tätowiert,
    Herr Nguyen. Ist solcherlei Körperkunst im
    konservativen Turnbusiness gern gesehen?


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