SPORT
Foto: Heinz Heiss für FOCUS-Magazin
FOCUS 41/2019 125
In Stuttgart hat die Turn-WM begonnen. Ein Gespräch mit den
Top-Athleten Elisabeth Seitz und Marcel Nguyen über schwere
Verletzungen, ungerechte Richter und das Wundermittel Honig
manchmal in der Wertung wieder, ohne
dass die Richter das selbst wissentlich
registrieren. Das wirkt unterbewusst.
Absoluter Liebling der Kampfrichter ist
die US-Amerikanerin Simone Biles. Der
vierfachen Olympiasiegerin gelang kürz-
lich der erste Triple-Double einer Frau am
Boden. Verändert dieser doppelte Salto
mit dreifacher Schraube die Branche?
Nguyen: Diese ganz verrückten Sachen
gab es bei uns Männern schon vor Jah-
ren. Schließlich hat man einiges davon
verboten, weil es zu gefährlich wurde.
Jetzt bringen solche spektakulären Dinge
nicht mehr die nötige hohe Punktzahl,
damit sich das Risiko lohnt.
Seitz: Bei uns Frauen kam es immer
schon mehr auf die Ausführung an, und
Simone turnt diese Höchstschwierigkeiten
ja ganz locker. Es sieht nicht nach Risiko
aus. Ich schaue ihr gern zu.
Die Höhen und Weiten, die
sie am Boden und im Sprung
abliefert, sind überragend.
Herr Nguyen, warum sind
Sie mit Olympiasieger
Fabian Hambüchen nie
richtig warm geworden?
Nguyen: Wir sind einfach
andere Typen. Er war mehr
auf sich fokussiert. Gemein-
sam mit seinem Vater hat
er häufig sein eigenes Ding
gemacht. Sein Erfolg zeigt
aber, dass das für ihn die rich-
tige Strategie war.
Sind Sie schüchtern?
Nguyen: Ja. Seit den beiden
Silbermedaillen von London
erkennen mich die Menschen auf der
Straße. Das ist schön, aber ich brauche
diese Aufmerksamkeit nicht für mein
Ego. Es ist mir eher unangenehm. Ich
bin ein zurückhaltender Typ.
Bei großen Wettkämpfen wie einer WM
sind aber Tausende in der Halle.
Nguyen: (Lacht) Ob da 1000 oder 15 000
Leute zuschauen, bekomme ich aber
überhaupt nicht richtig mit. Wenn ich
das Podium betrete, bin ich in meinem
Film. Vielleicht höre ich noch die Stimme
meines Trainers, aber das war’s dann. Bis
dahin versuche ich, locker zu bleiben,
und mache Witze, damit sich auch mein
Trainer entspannt. Der ist immer aufge-
regter als ich selbst.
Seitz: Bei mir ist das anders. Wenn ich
da rausgehe, beginnt meine Showtime.
Ich habe stundenlang allein in der Halle
trainiert und möchte den Leuten zeigen,
dass sich das gelohnt hat. Ich nehme die
Energie des Publikums auf und gebe sie
wieder zurück. Es ist unglaublich schön,
sich zu präsentieren.
Was schmieren Sie da vor den Turnübungen
eigentlich immer auf Gerät und Hände?
Nguyen: Im Regelfall ist es bei mir eine
Mischung aus Magnesia, Zuckerwasser
und Waldblütenhonig von Edeka.
Seitz: Ich nehme Wasser, Magnesia und
den Honig der „Flotten Biene“ von Lang-
nese. Das Problem ist, dass es sehr viele
Magnesia-Hersteller gibt, die sehr unter-
schiedliche Produkte anbieten. Manch-
mal haue ich massenweise Magnesia auf
die Holme, und das Zeug wird so griffig,
dass ich kaum noch turnen kann. Ich
muss das dann schnell wieder abkrat-
zen und eine neue Mixtur aufbringen.
Nguyen: Die Japaner haben eine Box mit
so einem Matschzeug drin,
das sie mit pitschnassen Lap-
pen auf das Gerät klatschen.
Das ist so nass, dass meine
Mischung gar nicht mehr
richtig klebt. Bei der WM in
Tokio ist es mir 2011 nicht
gelungen, die Stangen bis zu
Beginn meines Wettkampfs
sauber zu bekommen. Ich
habe es nicht mehr geschafft,
mein eigenes draufzuschmie-
ren. Mitten in der Übung
musste ich vom Gerät steigen,
und ein ganzes Jahr Training
war für die Katz.
Übers Jahr nehmen Sie eine
Menge Entbehrungen auf
sich. 35 Stunden Training
pro Woche, Videoanalysen, Kraftübungen,
Knochenbrüche, Reha, Ernährungs-
kontrolle, kaum Freunde, kaum Partys.
Nguyen: Meine Familie rechnet schon
nicht mehr damit, dass ich mal irgendwo
dabei bin. Das ist das Negativste am Tur-
nen. Deshalb läuft es so, dass die Familie
zu mir kommt. Meine Mutter ist auch fast
bei jedem großen Event dabei.
Wann soll es denn mit dem Verzicht
auf Privatleben vorbei sein?
Seitz: Turner denken im Vierjahresrhyth-
mus. Kann sein, dass ich schon nach Tokio
2020 mit dem Profi-Turnen aufhöre.
Nguyen: Jetzt zählt für mich erst mal,
gesund zu werden. Wenn ich dann 2020
mit dem Team endlich die ersehnte olym-
pische Mannschaftsmedaille gewinne,
wäre das ein genialer Schlusspunkt.n
INTERVIEW: AXEL WOLFSGRUBER
... und Miss Stufenbarren
Mit 22 nationalen Meistertiteln hält die
Heidelbergerin gemeinsam mit Ingrid Föst
den deutschen Rekord. 2018 holte sie
zudem WM-Bronze am Stufenbarren
Nguyen: Ich habe mir das 2012 stechen
lassen und es etwa bei Olympia in Lon-
don abgedeckt, um keinen Kampfrichter
negativ zu beeinflussen. Mein Trainer war
gegen das Tattoo. Aber ich hatte halt Lust.
Inzwischen gibt es zahlreiche Athleten
mit Tattoos. Es ist nichts Besonderes mehr.
Ihren linken Arm zieren Akropolis und Sie-
gesgöttin Nike. Es sind Symbole, wie sie auf
olympischen Medaillen zu sehen sind. Stört
Sie solcherlei Körperschmuck, Frau Seitz?
Seitz: Marcel hat an drei Olympischen
Spielen teilgenommen. Die Tattoos erzäh-
len seine Geschichte, und es ist eine gute
Arbeit. Ich mag das und habe auch selbst
eines am linken Fuß, einen Diamanten.
Der ist vergleichsweise klein. Haben es
Turnerinnen mit Tattoos schwerer?
Seitz: Großflächig tätowierte Frauen sind
noch immer speziell. Das ist beim Turnen
nicht anders als in der übrigen Gesell-
schaft. Männer haben es einfacher.
Ist Turnen nicht ohnehin viel zu subjektiv?
Seitz: Es gibt viele Regeln, die das Tur-
nen gerechter machen sollen. Am Ende
aber sind auch Kampfrichter nur Men-
schen. Sie bewerten, was sie sehen, und
haben gewisse Vorlieben. Klar finden
Punktrichter die eine Turnerin sympa-
thischer als die andere. Das findet sich
»
Ich schaue
Simone Biles
gern zu. Die
Höhen und
Weiten sind
überragend
«
Elisabeth Seitz,
Turnerin