Focus - 05.10.2019

(Ron) #1

Der schwarze Kanal


Foto: Susanne Krauss

8 FOCUS 41/


W


er sich für Deutschland und das
Internet interessiert, der stößt
unweigerlich auf Sascha Lobo. Es
gibt Leute, die meinen, das sage
schon alles über den Stand der
Digitalisierung in Deutschland.
In jedem Fall gehört Lobo zu
den Menschen, die einträglich davon leben, anderen zu
erklären, warum sie nichts vom Netz verstehen.
Die Deutung des Digitalen ist ein prosperierender
Geschäftszweig. Um auf diesem Feld als Experte zu gelten,
muss man nicht einmal im Gelobten Land gewesen sein
oder mit einer entsprechenden Firma Erfolg gehabt haben.
Es reicht, dass man jemanden kennt, der mal im Silicon
Valley war. Was einem an Originalität fehlt, macht man mit
Pathos wett. Im Kreis der Kolumnisten bei Spiegel Online
haben wir uns an trüben Tagen gerne
mit verteilten Rollen Lobo-Kolumnen
vorgelesen, womit regelmäßig für
Heiterkeit gesorgt war.
Ich gebe zu, ich habe nie ganz ver-
standen, weshalb selbst gestandene
Manager sich die Welt von einem
Mann erklären lassen, der seinen
Morgen damit verbringt, seine Haare
in die Form eines Besens zu toupie-
ren. Wer als über 40-Jähriger so tun
muss, als sei er die jüngere Ausgabe
von Rezo, hat die Kontrolle über sein
Leben verloren, würde ich sagen.
Aber sobald es ums Netz geht, set-
zen normale Bewertungsmaßstäbe
aus. Da bekommen die meisten wei-
che Knie.
Lobos Paraderolle ist die des
unerschrockenen Freiheitskämpfers.

Wann immer ein Politiker auf die Idee kommt, Regeln zu
fordern, um das Netz zu einem zivileren Platz zu machen,
steigt der Mann mit dem gefärbten Besenhaar auf die Bar-
rikade und ruft: „Zensur!“ Gleichzeitig ist Lobo unter den
Ersten, wenn es darum geht, die Verrohung von Umgangs-
formen im Netz zu beklagen. Das ist ein interessanter
Widerspruch. Wenn Sie mich fragen, führt genau diese
Doppelmoral zum Kern des Problems.
Seit die Grünen-Politikerin Renate Künast vor dem
Landgericht Berlin mit einer Klage auf Herausgabe
der Namen von Leuten gescheitert ist, die sie auf Face-
book wüst beleidigt hatten, ist wieder viel über Hass
im Netz die Rede. Ich bin fest davon überzeugt, dass es
für eine Gesellschaft schädlich ist, wenn sich jedermann
nach Lust und Laune austoben darf.

D


ie bürgerliche Gesellschaft hat aus gutem
Grund Gesetze erlassen, die Beleidigung,
Verleumdung oder üble Nachrede unter Strafe
stellen. Aus weniger einsichtigen Gründen
sind diese Regeln im digitalen Raum suspendiert. Wer
einen Leserbrief veröffentlicht, in dem eine Politikerin
als „Drecksfotze“ bezeichnet wird, hat den Staatsanwalt
in der Tür. Wer einen solchen Ausfall im Netz postet,
bei dem zuckt die Justiz mit den Achseln und erklärt die
Entgleisung für eine Meinungsäußerung, die man nicht
beanstanden könne.
Was ist da los? Eine Erklärung wäre: Auch viele Rich-
ter sehen das Internet als fremde Welt, in der die etab-
lierten Regeln des Zusammenlebens ihre Gültigkeit ver-
loren haben. Man kann es den Lobo-Effekt nennen. So
wie Unternehmer dem Urteil eines
Mannes mit roten Haaren trauen,
weil ihnen alles, wovon er redet, neu
vorkommt, haben auch deutsche
Richter das Gefühl, beim Digitalen
höre ihr Verständnis und damit ihre
Zuständigkeit auf.
Es ist Wahnsinn, was möglich ist,
ohne dass man belangt wird. Man
kann einer Frau ungestraft andro-
hen, sie zu vergewaltigen. Man
kann sie als Kinderschänderin ver-
leumden oder als Prostituierte. Es
gibt keine Grenze mehr, es schreitet
niemand ein. Die Verunsicherung
der Justiz ist dabei ein Problem, ein
noch größeres ist die unklare Rechts-
lage. Dass der Mensch von sich aus
gut sei, glauben nur linke Träumer.
Der Realist weiß, dass zwischen der

JAN FLEISCHHAUER


Das wird man ja wohl


noch sagen dürfen


Es ist der reine Wahnsinn, was im Internet
an Verleumdung und Bedrohung möglich ist,
ohne dass jemand einschreitet. Dabei ist
die Lösung zur Beendigung der Facebook-
Anarchie viel einfacher, als viele denken

»


Wer das Internet


reguliere, verärgere


die jungen Menschen,


heißt es, und


wer will als Politiker


schon die Jugend


gegen sich


aufbringen?


«

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