Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230·SEITE 9


JAKARTA, 3. Oktober
Vor wenigen Tagen noch sah es so aus,
als würde in Indonesien, dem größten
mehrheitlich muslimischen Staat der
Welt, endgültig der Islamismus trium-
phieren. Eine lang geplante Strafrechts-
reform stand kurz vor der Verabschie-
dung im Parlament. Sie hätte jeglichen
außerehelichen Sex kriminalisiert und
die Blasphemiegesetzgebung verschärft.
Die Verabschiedung des Gesetzespakets
wäre die „Krönung der Islamisierung“ ge-
worden, vor der Menschenrechtsaktivis-
ten wie Andreas Harsono von Human
Rights Watch gewarnt haben – nachdem
in den letzten beiden Jahrzehnten auf
Provinzebene die Zahl von der Scharia in-
spirierter Lokalgesetze explosionsartig
angestiegen war. Nun wurde das Geset-
zespaket in letzter Minute gestoppt. Der
im April wiedergewählte Staatspräsident
Joko Widodo bat das Parlament, die De-
batte und eventuelle Verabschiedung auf
die in Kürze beginnende neue Legislatur-
periode zu verschieben. Anfang der Wo-
che folgte das Parlament dem Wunsch,
obgleich das Gesetzespaket ohne Zustim-
mung des Präsidenten gar nicht erst zur
Verabschiedung hätte anstehen können.
Dass das Inkrafttreten nun aufgescho-
ben wurde, liegt denn auch nicht an
plötzlich gewonnener Einsicht seitens
der offiziellen indonesischen Politik.
Es liegt vielmehr am Druck der Stra-
ße. In der Hauptstadt Jakarta und vielen
weiteren Städten fanden seit Tagen die
größten Massendemonstrationen indo-
nesischer Studierender seit dem Sturz
des Diktators Suharto 1998 statt. Die Pro-
testierenden störten sich vor allem am
drohenden Eingriff in ihre Privatsphäre;
außerdem kritisierten sie die Schwä-
chung der Anti-Korruptions-Behörde
KPK. Durch die Tourismusindustrie ging
eine Schockwelle. Australien, das einen
Großteil der Urlauber auf der indonesi-
schen Insel Bali stellt, hatte seine Bürger
bereits gewarnt, dass sowohl un-
verheiratete heterosexuelle als auch
gleichgeschlechtliche Paare bei einer Ver-
abschiedung des Gesetzespakets Gefahr
liefen, beim Urlaub in Indonesien straf-
rechtlich verfolgt zu werden. Die Auf-
schiebung der Abstimmung ist keinem je-
ner Akteure zu verdanken, in denen west-
liche Stimmen noch bis vor kurzem Säu-
len eines moderaten Islams in
Indonesien sehen wollten. Beide großen
muslimischen Massenorganisationen in
Indonesien, Nahdlatul Ulama (NU) und
Muhammadiyah, äußerten kein Wort
der Kritik an den Gesetzesverschärfun-
gen. Im Gegenteil: Von der NU wurden


sie nachdrücklich unterstützt. Im Parla-
ment hatten sich nicht nur die religiösen,
sondern auch die sogenannten säkularen
Parteien bereits einstimmig hinter die
Gesetzesänderungen gestellt.
Gerade deswegen sollten die Entwick-
lungen in Indonesien westlichen Län-
dern Anlass zum Nachdenken geben. Ob-
wohl hier mit der Demokratisierung
1998 fast unmittelbar auch ein Prozess
der Fundamentalisierung begann, hielt
die Mehrheit westlicher Beobachter un-
verdrossen an der Fiktion eines modera-
ten Indonesiens fest. Tatsächlich haben
bisher in jedem entscheidenden Konflikt
seit der Demokratisierung immer nur
die Islamisten gewonnen. Bereits 2008
wurde im indonesischen Parlament ein
sogenanntes Anti-Pornographie-Gesetz
verabschiedet, das bereits damals von
fast allen im Parlament vertretenen Par-
teien, auch den formal säkularen, unter-
stützt worden war. Die einzige wichtige
Ausnahme bildete damals die PDI-P, die
Partei des aktuellen Präsidenten. Dabei
war Pornographie im eigentlichen Sinne
in Indonesien ohnehin schon verboten.
Ethnisch-religiöse Minderheiten hatten
nachdrücklich vor einer Verabschiedung
des Gesetzes gewarnt, weil sie befürchte-
ten, dass ihre traditionellen Kleidungen
und Riten kriminalisiert werden könn-
ten. Faktisch wurde das Gesetz dann vor
allem gegen schwule Männer genutzt.
Dass sich gut zehn Jahre nach der Ver-
abschiedung auch die Regierungspartei
PDI-P nicht mehr gegen die Fundamenta-
lisierung Indonesiens stellen möchte, ist
nicht überraschend. Westliche, auch
deutsche Organisationen achteten seit-
dem bei der Förderung von Individuen
und Organisationen auf alles Mögliche,
nur nicht darauf, ob die Geförderten
westliche Werte teilen. Und das, obwohl
es prominente Fälle gibt, die auf das ge-
naue Gegenteil hindeuten. So trat ein Do-
zent der Kommunikationswissenschaf-
ten, der in den Niederlanden studiert
hatte, mit einem gefälschten Video den
Blasphemieskandal um den damaligen
christlichen Gouverneur von Jakarta los.
Die Wortführerin gegen einen Gesetzes-
entwurf zur sexuellen Gewalt, die sich
daran störte, dass dieser Vergewaltigung
in der Ehe strafbar machen sollte, dage-
gen weder Ehebruch noch Homosexuali-
tät, wurde in indonesischen Medien
kaum je erwähnt, ohne das betont wur-
de, dass sie an der Newcastle University
promoviert wurde. Westliche Organisa-
tionen sollten gründlicher darüber nach-
denken, wem sie Legitimität verleihen –
und wem nicht. MARCO STAHLHUT

Erfolgreicher Protest


Indonesiens Bevölkerung wehrt sich massiv


gegen die staatliche Durchsetzung des Islamismus


Der Leiter der Uffizien in Florenz,
Eike Schmidt, hätte Anfang November
seine neue Stelle als Direktor des Wie-
ner Kunsthistorischen Museums antre-
ten sollen. Jetzt hat er kurzfristig abge-
sagt und bleibt an seiner bisherigen
Wirkungsstätte. Anders als zunächst
in Österreich berichtet, war den Ver-
antwortlichen nicht erst am vergange-
nen Dienstag, sondern schon am 25.
September bekannt, dass Schmidt
nicht kommen wird, weil er an diesem
Datum auf einem Treffen mit der Kura-
toriumsvorsitzenden Ulrike Baumgart-
ner-Gabitzer seinen Verzicht auf die
Position erklärt hatte. Kulturminister
Alexander Schallenberg erfuhr die
Neuigkeit in New York, wo er sich in
seiner Eigenschaft als Außenminister
aufhielt. Schallenberg ließ daraufhin
verlauten, er halte die Entscheidung
Schmidts für „unprofessionell und bei-
spiellos“, Schmidt wiederum gab be-
kannt, seine Entscheidung habe nichts
mit Wien, „aber alles mit Florenz zu
tun“. Das Wiener Museum wisse er bei
Sabine Haag, die es nach wie vor leitet
und zumindest interimistisch weiter lei-
ten soll, in guten Händen. Ob die er-
staunliche Angelegenheit rechtlich zu
beanstanden ist, lässt das Wiener Mi-
nisterium nun nach offiziellen Anga-
ben prüfen. F.A.Z.

Z


erzaustes Haar, verwischter
Lippenstift, verschlafene Au-
gen. Im Jahr 2004 porträtiert
der in Augsburg geborene Foto-
graf Martin Eberle eine Ikone
des Berliner Gegenwartsnachtlebens.
Sein Bild zeigt die kanadische Sängerin
Peaches in absoluter Nahaufnahme im
heute nicht mehr existierenden Club Ma-
ria, der zwischen Ostbahnhof und Spree
ein technowütiges Publikum anlockte. Es
ist ein intimes Zeitdokument der Elektro-
clash-Künstlerin und das einer Stadt, die
den Tanz auf dem Vulkan allwöchentlich
kultiviert hat, indem sie seit jeher Exzess,
Ekstase und Dekadenz zum Sinnbild ih-
res urbanen Daseins machte. Martin Eber-
le ist Teil der Berliner Technowelt. Als
stummer Zeuge im Hintergrund bannt er
Clubs, Feiernde, DJs und die abseitigen
Gestalten des Berliner Nachtlebens auf
Celluloid, ähnlich wie es bis heute auch
Wolfgang Tillmans tut.
Einen ähnlichen Rundumschlag durch
das zerfallene und neu entstehende Berli-
ner Nachtleben lieferte Fotograf Ben de
Biel, der von 1990 bis 1995 durch die
Stadt flanierte und die kleinen Momente
der Nacht festhielt. Eine Straße voller Rui-
nen und eine Club-Tür beispielsweise.
Über dem Eingang prangt eine Leuchtre-
klame, „750 Jahre im Eimer“, als ein ge-
sellschaftskritisches Überbleibsel des Ber-
liner Stadtjubiläums von 1987.
Den visuellen Chronisten der Techno-
szene setzt momentan die Ausstellung
„No Photos on the Dance Floor!“ in der
C/O Berlin Foundation ein Denkmal, die
das traditionsreiche Amerika-Haus zu ei-
nem Museum der Clubfotografie macht.
Die Schau versucht in das Herz der Haupt-
stadt vorzudringen und die Geschichte
von Orten zu erzählen, die heute ver-
schwunden oder im Einheitsbrei der zeit-
genössischen Berliner Investorenarchitek-
tur untergegangen sind. Dafür liefert sie
eine umfangreiche Zusammenstellung be-
kannter und weniger bekannter Fotogra-
fen, von Sven Marquardt, dem Türsteher
des Berghains, über Anna-Lena Krause
oder Tilmann Künzel.
Kuratiert ist das fotografische Szene-
happening von Heiko Hoffmann, dem frü-
heren Chefredakteur der Musikzeitschrift
„Groove“ und Gastprofessor am Institute

of Recorded Music der New York Universi-
ty. Besonders die Clubs seiner Generati-
on stehen im Zentrum der Ausstellung –
Maria, Cookies, WMF und Ostgut. Hoff-
mann zeigt Fotos vom Interieur des alten
Tresors in den ehemaligen Schließfächer-
hallen des Kaufhauses Wertheim am Leip-
ziger Platz und einen frühen Videomit-
schnitt, der wenige Tage nach der letzten
Party am 16. April 2005 aufgenommen
wurde.
Überall sind Zitate der Heroen der da-
maligen Zeit neben den Fotografien pla-
ziert, wie beispielsweise von Wolfgang
Tillmans: „Für mich ist ein Club eine gro-
ße Abstraktionsmaschine, die ständig Bil-
der produziert.“ Obwohl Tillmans in der
Londoner Techno- und Undergroundsze-
ne erfolgreich geworden ist, übte Berlin
stets eine unbändige Faszination auf den
Fotografen aus. Er ist mit seiner Installati-
on „We Haven’t Stopped Dancing Yet“ ver-
treten, die er extra für die Schau angefer-
tigt hat und die seine Bilder des Berliner
Nachtlebens von 1991 bis 2018 zusam-
menführt. Die Motive reichen von dunk-
len, nebelverhangenen Clubszenen zu tan-
zenden Ravern im Tiergarten, DJs am
Mixpult, Teenager beim Rauchen. Die Fo-
tografien sind mit Tesafilm an den mono-
chromen Wänden der Ausstellungssäle
befestigt. Auch das ist eine Hommage an
den temporären Zustand vieler Clubs, die
Vergänglichkeit des Feierns und die Au-
genblicke des Glücks im Schatten der
Nacht. Es sind Bilder einer wilden, hedo-
nistischen und planlosen Jugend, die auf
der Suche ist nach dem nächsten Kick, ei-
nem neuen Flirt oder einem Fragment
von Authentizität in einer Welt voller
Schein.

E

ine ähnlich sezierende Untersu-
chung der Clubkultur offenbart
sich in den fotografischen Arbei-
ten von Giovanna Silva, die er
unter dem Titel „Nightswim-
ming“ zusammengestellt hat. In den sech-
zehn Fotografien, die von 2014 bis 2016
entstanden sind, bildet er immer nach dem
gleichen Schema unterschiedliche Clubs
ab: Stets dokumentiert er die zentrale Tanz-
fläche und das Interieur. Er spielt mit den
ausschweifenden Lichteffekten der Laser-
maschinen, wodurch Aufnahmen entstan-
den sind, die den Charakter jedes einzel-
nen Clubs projizieren. Von den rot schim-
mernden Neonröhren und den plastischen
Wänden des Watergate Clubs an der Spree,
über die mit hellgrünen Fliesen verkleidete
Tanzfläche des Ritter Butzke, in dem die
meterhohen Soundanlagen eine skulptura-
le Wirkung entfalten, bis hin zum Poolbe-
cken des Strandbads Wedding, zeigt er die
gesamte Vielfalt der Berliner Clubszene
und schafft dabei zeitlose Architekturfoto-
grafien. Auch den Insignien der Technosze-
ne gibt die Ausstellung viel Raum. So wer-

den im großen Saal der C/O Gallery Club-
Flyer in Vitrinen präsentiert, die für sich
kleine grafische Kunstwerke sind. Ebenso
bewusst ist der Titel der Schau gewählt, der
auf eine besondere Eigenart des Berliner
Nachtlebens bezogen ist. Mehrere Fotogra-
fien zeigen kleine kreisförmige Aufkleber
am Boden. Mit ihnen werden Handykame-
ras abgeklebt, denn in den meisten Berli-
ner Clubs herrscht Fotografieverbot. Eine
Praxis, die Räume schaffen soll, die völlig
frei von den Zwängen der Realität, gesell-
schaftlicher Moral und Verurteilungen
sind. Auch in den analogen Neunzigern
war es in der Berliner Technoszene nicht
erlaubt, Fotos von Partys zu machen.

E

s ist diese geistige Haltung, die
sich bis heute erhalten hat und
wohl auch eines dieser Elemen-
te ist, welches den geheimnis-
vollen Nimbus vieler Techno-
clubs der Hauptstadt definiert. Zentrum
dieses Kultes im Jahr 2019 ist das Berg-
hain. Wohl kaum ein Club hat es weltweit
zu so viel Ruhm gebracht, wie die Kraft-
werkshallen am ehemaligen Wriezener
Bahnhof im Osten der Stadt. In der Aus-
stellung wird die sagenumwobene Kathe-
drale des Techno durch Sven Marquardts
und Marcel Dettmanns Installation
„Black Box“ repräsentiert: Schwarzweiß-
porträts des Berghain-Publikums und von
Fetisch-Partys. Hart und rauh zugleich,
angereichert mit Techno-Bässen.
Den Gegenpol dazu stellt die Reihe
„Stempelwald“ von Erez Israeli dar. Acht
Monate lang besucht der aus Israel stam-
mende Künstler das Berghain, lässt sich
nach jeder Nacht die Partystempel täto-
wieren und fotografiert diesen Prozess.
Das Tätowieren erscheint dabei als radi-
kale Aktion, ein inniges Bekenntnis des
jungen Israeli zur Clubkultur der deut-
schen Hauptstadt. Doch auch hier offen-
baren sich historische Bezüge: Die täto-
wierten Ewigkeitszeichen erinnern an
die Häftlingstätowierungen in den Kon-
zentrationslagern der Nationalsozialis-
ten.
Israeli ist Sinnbild des Zeitgeistes, der
Berlin heute ausmacht. Eine kosmopoliti-
sche Stadt, in der Menschen verschiedens-
ter Nationen, Religionen und Weltan-
schauungen zusammenkommen, um sich
den sorglosen Vergnügungen der Moder-
ne hinzugeben. So ist diese Ausstellung
eine Hommage an Berlin, mit all seinen
Brüchen, Divergenzen, der großen Melan-
cholie und Hoffnung, die diese Metropole
in sich trägt. So wie es auch Fotograf Mar-
tin Eberle ausdrückte: „Es gab keinen
Grund, zu glauben, nicht dazuzugehören,
man war sicher, einmal, ein einziges Mal,
zur richtigen Zeit, am richtigen Ort zu
sein“. KEVIN HANSCHKE
No Photos on the Dance Floor!Im C/O Berlin, bis
zum 30. November. Der Katalog kostet 36 Euro.

Europa taumelt, Europa emanzipiert
sich – egal, wie man es betrachtet, es ist
mächtig Dampf im Kessel der europäi-
schen Biopolitik. Und egal, wo man hin-
sieht, überall herrscht Aufbruchstim-
mung. Dass das in der Öffentlichkeit bis-
her kaum wahrgenommen wurde, dürf-
te daran liegen, dass der Gegenstand,
um den es geht, vor allem Minderheiten,
man könnte sagen: still leidende Schick-
salsgemeinschaften, umtreibt.
Der unerfüllte Kinderwunsch von al-
leinstehenden und lesbischen Frauen
war für den französischen Staatspräsi-
denten Emmanuel Macron schon im
Wahlkampf 2017 ein großes Thema. Er
versprach eine Bioethikreform, der fran-
zösische Ethikrat sprang ihm bald zur
Seite. Eizellspende, Samenspende, das
Einfrieren von Eizellen zur späteren Ver-
wendung – alles ist inzwischen gesetz-
lich auf dem Weg, bis auf die Leihmutter-
schaft, die wegen der drohenden Kon-
flikte um die Mutterschaft verboten blei-
ben soll. Doch es gibt Widerstand. Die
Religionsgemeinschaften fürchten das
Auseinanderbrechen der traditionellen
Familien. Erzbischof Pierre d’Ornellas
von der Französischen Bischofskonfe-
renz sprach jüngst in einer Anhörung
vom „elterlichen Projekt, das sich dem
Kind aufdrängt“. Eine vaterlose Gesell-
schaft wird als Untergangsszenario be-
schworen. Nur die französischen Protes-
tanten gaben in ihrer Stellungnahme zu
verstehen, die künstliche Befruchtung
müsse „sich an der Nachfrage der Patien-
ten“ orientieren.
Nicht die ökonomische Begründung,
wohl aber die Forderung, die Medizin
dem Wohl des Kindes zuliebe auf den
neuesten Stand zu bringen, war das Mo-
tiv für die deutsche Nationalakademie
Leopoldina, im Juni dieses Jahres eine
Offensive zu starten. Titel ihres Papiers:
„Fortpflanzungsmedizin in Deutschland



  • für eine zeitgemäße Gesetzgebung“.
    Ungerechtigkeiten, überholte Praktiken
    und Versorgungslücken sollen den Kin-
    derwunsch-Familien zuliebe ausge-
    räumt werden. Dabei geht es andern-
    orts, das zeigt die französische Entwick-
    lung, schon längst nicht mehr nur um Pa-
    tienten, die sich um den Fortschritt be-
    trogen fühlen, sondern um reproduk-
    tionsmedizinische Autonomie aller.
    Das Verbot der Eizellspende steht bei-
    spielhaft für den Umbruch. Von Macron
    wie der Leopoldina wegen der Ungleich-
    behandlung zur erlaubten Samenspende
    vehement attackiert, ist die Eispende in
    Europa durch eine 2006 verabschiedete


Richtlinie auf altruistische Spenden be-
schränkt. Ein kommerzieller Eizell-
markt sollte verhindert werden. In Groß-
britannien beispielsweise gibt es eine
Aufwandsentschädigung von wenig
mehr als hundert Euro. Doch gleichzei-
tig werden, so berichtete neulich Nicky
Hudson von der De Montfort University
in Leicester auf einem Eizell-Ökono-
mie-Seminar in New Orleans, „die Tore
weit aufgerissen“ und neue Eizellprakti-
ken europaweit etabliert. Ganz vorne
Spanien: Kommerzielle Eizellbanken
sind nun die neuen Zwischenagenten
der Kinderwunschkliniken, die das Ge-
schäft ankurbeln. Spanien, so Hudson,
sei zum Dreh- und Angelpunkt repro-
duktionsmedizinischer Expertise gewor-
den. Die Hälfte aller Eizellspenden in
Europa kommt inzwischen von dort.
Zwei- bis dreitausend Frauen aus
Deutschland reisen jedes Jahr zur Be-
handlung ins Ausland. Der fragwürdige
Kinderwunschtourismus sorgt aller-
dings auch dafür, dass viele Kinder spä-
ter nie ihre biologische Abstammung in
Erfahrung bringen können. Auch das ist
für die Leopodina inakzeptabel. Der
Markt, so viel ist klar, ist mächtig in Be-
wegung geraten. In den Vereinigten
Staaten läuft das Geschäft mittlerweile
aus dem Ruder. Seitdem 2015 die Decke-
lung der Bezahlung von Eizellspenderin-
nen aufgehoben wurde, werben Univer-
sitäten aggressiv auf dem Campus für Ei-
zellspenden, Kliniken locken mit horren-
den Profiten.
Diane Tober erinnert es an den Gold-
rausch. Die Reproduktionsmedizinerin
an der University of California hat auf
dem Eizell-ökonomie-Seminar eine Bi-
lanz der Kommerzialisierung bei 322
Spenderinnen vorgelegt: Die Gewinne
schießen demnach in die Höhe, die Zahl
der Spenderinnen hat sich landesweit
verdoppelt, vor allem aber wächst die
Bereitschaft, sich für die Eizellernte mit
Hormonen in extrem hohen Dosen sti-
mulieren zu lassen. Eine Australierin
habe siebzehn Stimulationszyklen über
sich ergehen lassen, der Ertrag im ers-
ten Zyklus einer anderen Spenderin: 78
Eizellen, machte 278 000 Dollar. „Die
Eizell-Produktion steigt steil an“, sagte
Tober, und auch die Zahlungsbereit-
schaft der Empfängerinnen wachse. Rei-
che Asiatinnen zahlen bis zu fünfzigtau-
send Euro für die Behandlung. Über die
Erfolgsraten allerdings wollte sie keine
Auskunft geben. Der Markt, so hörte
man nach Tobers Vortrag, werde das
schon regeln. JOACHIM MÜLLER-JUNG

D


ass die Beschäftigung mit Politik
gefährlich sein kann, liegt eigent-
lich auf der Hand. Nicht umsonst rät
der Knigge dringend dazu, alle politi-
schen Themen im Smalltalk zu meiden


  • sie könnten zu schweren Zerwürfnis-
    sen führen. Erkenntnisse dreier Politik-
    wissenschaftler der University of Ne-
    braska-Lincoln legen nun nahe, dass
    Politik nicht nur das oberflächliche Ge-
    spräch stören, sondern Menschen so-
    gar an den Rand des Abgrunds treiben
    kann. Im Fachjournal „Plos One“ be-
    richten Kevin Smith und seine Kolle-
    gen, wie sich Politik auf die physische
    und psychische Gesundheit der Men-
    schen auswirkt. In der Befragung be-
    werteten achthundert für die amerika-
    nische Gesellschaft repräsentative Teil-
    nehmer ihr subjektives Befinden in 32
    Fragen. Der Fragebogen orientierte
    sich an früheren Studien mit Anony-
    men Alkoholikern. Anstelle von „Hat-
    te Ihre Alkoholsucht schon einmal Aus-
    wirkungen auf Ihren Schlaf?“ wurde
    beispielsweise gefragt: „Hatten Sie
    schon einmal Schlafstörungen wegen
    der Politik?“ Die Ergebnisse sind alar-
    mierend: Vierzig Prozent der Teilneh-
    mer sind gestresst, wenn sie an Politik
    denken, jeder Fünfte fühlt sich matt,
    depressiv und liegt in manchen Näch-
    ten wach, weil ihn Sorgen um die Poli-
    tik beschäftigen. Bei bis zu dreißig Pro-
    zent löst sie Frustration, Wut, Hass
    und Schuldgefühle aus. Vier Prozent ge-
    ben sogar an, deshalb schon einmal an
    Suizid gedacht zu haben. Besonders
    hart trifft es in der zwei Monate nach
    Donald Trumps Amtseinführung erho-
    benen Studie eine ganz bestimmte
    Gruppe, die den einen oder anderen
    an die eigene Studienzeit erinnern
    mag: Vor allem junge, arbeitslose Men-
    schen, die sich gern an politischen Dis-
    kussionen beteiligen, sich als liberal be-
    zeichnen, selbst aber dogmatisch und
    idealistisch sind und eine geringe Mei-
    nung von der Gegenpartei haben, lei-
    den derzeit besonders unter dem politi-
    schen Klima. Für Smith sind das die
    Folgen der fortschreitenden Spaltung
    der amerikanischen Gesellschaft. So
    gibt jeder Fünfte an, Freundschaften
    wegen politischer Ansichten verloren
    zu haben. Dass im populistischen Ame-
    rika mittlerweile verstörende Zustän-
    de herrschen, ist leicht vorstellbar.
    Aber auch in Europa leiden die Men-
    schen mitunter unter dem Risikofaktor
    Politik: Im „British Medical Journal“
    berichtet ein Arzt von einem Patien-
    ten, der kurz nach dem Brexit-Referen-
    dum eine Psychose entwickelte. Bei sei-
    ner Einlieferung in ein Krankenhaus
    berichtete der verwirrte und aufge-
    wühlte Mann von Spionen, die ihn um-
    bringen wollten. In der anschließen-
    den Behandlung erzählte er, wie er
    sich fremd im eigenen Land fühle, die
    politischen Geschehnisse nicht verar-
    beiten könne und sich schäme, Brite zu
    sein. Ob es Populisten wie Boris John-
    son und Donald Trump wohl manch-
    mal auch so geht? jomi


Die Badenweiler Literaturtage, die Rü-
diger Safranski jährlich kuratiert, wid-
men sich diesmal unter dem Titel
„Dichtung und Wahrheit“ dem Auto-
biographischen in der Literatur. Vom


  1. bis zum 13. Oktober werden dazu
    die Schriftsteller Uwe Tellkamp, Maria-
    na Leky, Sylvie Schenk, Angelika Klüs-
    sendorf, Friedrich Christian Delius
    und Bodo Kirchhoff aus ihren Werken
    lesen und sich Gesprächen mit Safran-
    ski stellen. Auch zu Gast ist der Schau-
    spieler Christian Berkel, der 2018 das
    an den eigenen Vorfahren orientierte
    Buch „Der Apfelbaum – Roman einer
    Familie“ veröffentlichte. F.A.Z.


750 Jahre im Eimer

Kinder, wo kommt ihr her?


MacronsBioethikreform und der Markt für Eizellen


Kranke Politik


Wiewahr ist das?
Badenweiler Literaturtage 2019

Schmidt sagt ab
Wiens KHM ohne neuen Chef

Die Ausstellung „No


Photos on the Dance


Floor!“ im C/O Berlin


zeigt ein Nachtleben,


wie es heute in Berlin zu


verschwinden droht


Vergangene Geschichten aus dem nächtlichen Herz der Hauptstadt: „ohne Titel“ (2007) von Carolin Saage Foto Carolin Saage

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