Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

(lily) #1

SEITE 8·FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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ill Premierminister Boris John-
son wirklich einen Deal? Oder
versucht er nicht vielmehr, für den Fall
des Scheiterns den Schwarzen Peter
Brüssel zuzuschieben, um sich im
Wahlkampf als Opfer der Festlandseu-
ropäer in Szene setzen zu können? Vie-
les spricht für Letzteres, da Teile seiner
Vorschläge für die EU-Partner schlicht
unannehmbar sein dürften. Verließe
Nordirland am 1. November nicht nur
die EU, sondern auch die Zollunion,
dann wären Kontrollen im Warenver-
kehr mit der Republik Irland unum-
gänglich. Unerträglich ist für Dublin
auch die Vorstellung, dass eine Minder-
heit im nordirischen Parlament mittel-
fristig für eine harte Grenze sorgen
könnte. Gerade dies soll die von John-
son als „antidemokratisch“ gebrand-
markte „Backstop“-Regelung verhin-
dern. Die ablehnende Reaktion Dub-
lins auf Londons Vorschläge zeigt, wie
eng der Spielraum der 27 EU-Partner
ist. Sosehr sie einen ungeregelten Bre-
xit auch vermeiden wollen – im Stich
lassen können sie die um den Fortbe-
stand des Friedens im Norden der Insel
besorgten Iren nicht. now.


W


as in der arabischen Welt 2011
begonnen hat, setzt sich weiter
fort. In diesem Jahr haben Massenpro-
teste schon Sudan und Algerien erschüt-
tert, jüngst flackerten sie wieder in Kai-
ro auf. Seit einigen Tagen demonstrie-
ren überwiegend junge Iraker gegen die
Missstände in ihrem Land. Die Klagen
sind stets gleich: Eine kleine Elite ist
korrupt, sie missbraucht ihre Macht
und bereichert sich auf Kosten der Mit-
tel- und Unterschicht. Die Folgen: Die
staatlichen Dienstleistungen sind mise-
rabel, und die Arbeitslosigkeit steigt,
vor allem unter jungen Menschen. Re-
formen, die Arbeitsplätze schaffen
könnten, werden nicht angepackt, weil
sie die Pfründe und Privilegien der Eli-
te, die sich meist um das Militär und die
Sicherheitsapparate bildet, beschnei-
den würden. Der Irak hatte 2003 nach
dem Sturz von Saddam Hussein die
Chance zu einem Neubeginn. Sie wur-
de vertan, da jene, die den Regimewech-
sel betrieben hatten, nicht für die Zeit
nach dem Sturz geplant hatten. Milizen
und Politiker, die eine Chance sahen,
sich rasch zu bereichern, füllten das Va-
kuum. Damit wollen sich immer mehr
Iraker nicht länger abfinden. Her.


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s ist dem Zufall geschuldet, dass
der Tag der Deutschen Einheit
dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer
in Kiel begangen wird – und die Feier-
lichkeiten dreißig Jahre nach der Wie-
dervereinigung im kommenden Jahr in
Potsdam über die Bühne gehen werden.
Freilich dürfte auch 2020 vielen nicht
zum Feiern zumute sein. Inszenierun-
gen wie die der beiden vergangenen
Tage entspringen schlichter Politikrouti-
ne. Bei Licht betrachtet, hat der 3. Okto-
ber in dreißig Jahren kaum neue Tradi-
tionen und keine Symbole oder Rituale
hervorgebracht, in denen die Erinne-
rung an die „Zeit der Wunder“ (Ri-
chard Schröder) lebendig geblieben
wäre. Statt dessen ist der Tag der deut-
schen Einheit zur Chiffre für einen
Wanderzirkus geworden, der mit mitt-
lerweile routinierten Beschwörungen
dieses oder jenes Aspektes der Zeit zwi-
schen dem Herbst 1989 und dem
Herbst 1990 und der Ableitung diverser
Handlungsanweisungen für das Hier
und Jetzt mal da und dort Station
macht. So gefährlich das Spiel mit Emo-
tionen in der Politik auch sein mag: ein
so leidenschaftsloser Nationalfeiertag
ist eigentlich ein Trauerspiel. D.D.


Mit Programmatik hält sie sich noch zu-
rück. Aber man kann davon ausgehen,
dass eine Ethnologin und internatio-
nal bekannte Fachfrau für Afrika nicht
ohne Grund zur Präsidentin des Goe-
the-Instituts gewählt wird. Außenmi-
nister Heiko Maas (SPD) jedenfalls,
der ihrer Wahl zustimmen und sie er-
nennen muss, hat gleich darauf hinge-
wiesen, dass das Goethe-Institut mit
der Wahl von Carola Lentz auch inhalt-
lich einen Schwerpunkt setze, der der
Regierung besonders am Herzen liege.
Die Vereinbarungen der großen Koali-
tion haben dem Institut schließlich
auch die Aufgabe zugewiesen, die kul-
turelle Vermittlung und Kooperation
zumal in Afrika auszubauen.
An dem Tag, an dem sie sich als Pro-
fessorin für Ethnologie und Afrikastu-
dien an der Gutenberg-Universität in
Mainz, wo sie seit 2002 lehrte, in den
Ruhestand verabschiedet hat, um lü-
ckenlos am folgenden Tag dort eine Se-
niorprofessur des Landes Rheinland-
Pfalz anzutreten, hat Lentz sich für zu-
nächst vier Jahre verpflichtet: In Nach-
folge Klaus-Dieter Lehmanns wird sie
im November 2020 Präsidentin von
157 Instituten in 98 Ländern mit ei-
nem Jahresbudget von 408 Millionen
Euro. Mit etwa demselben Tempo hat
Lentz, 1954 in Braunschweig geboren,
in den vergangenen Jahren wissen-
schaftspolitische Ämter übernommen.
Seit vergangenem Herbst ist sie Vize-
präsidentin der Berlin-Brandenburgi-
schen Akademie der Wissenschaften.
Ihre Forschungsschwerpunkte lie-
gen unter anderem im Bodenrecht, eth-
nischer Zugehörigkeit, Nationenbil-
dung und Erinnerungskultur sowie Ko-
lonialismus in Afrika. Spezialisiert hat
sie sich auf Westafrika, anfangs hatte
sie in Südamerika geforscht. Hervorge-
treten ist Lentz jüngst in den Debatten
über das Berliner Humboldt-Forum,
über Dekolonialisierung und die Resti-
tution ethnographischer Objekte. Zu-
sammen mit anderen Ethnologen plä-
diert sie für einen multiperspektivi-
schen Ansatz in der Kolonialgeschich-
te. Als begabte Netzwerkerin, die inten-
sive Diskussionen ebenso schätzt wie
den humorvollen und schlagfertigen
Austausch, ist Lentz, die unter ande-
rem Soziologie und Politik bis zur Pro-
motion studiert hat, um sich schließ-
lich an der Freien Universität Berlin in
Ethnologie zu habilitieren, aufge-
schlossen für ein Großunternehmen
wie das Goethe-Institut.
Dass die passionierte Theatergänge-
rin, die als Studentin bei Peter Zadek
assistierte und heute in der Johannis-
kantorei ihrer Wahlheimat Mainz
singt, auch noch ein Referendariat als
Deutschlehrerin absolviert hat,
scheint sie für die Kultur- und Sprach-
vermittlung ebenso zu prädestinieren
wie ihr ethnologisches Profil für die
kulturpolitischen Aufgaben. An Ener-
gie für ihre vielfältigen Interessen je-
denfalls scheint es der Teamarbeiterin
nie zu fehlen. Natürlich will sie ihre
Seniorforschungsprofessur erfüllen.
Derzeit schließt sie ein Projekt über
deutsch-ghanaische Familienerinne-
rungen, deren Teil sie selbst ist, ab,
das nächste läuft an. Die Präsident-
schaft sei, wie Lentz betont, ein Eh-
renamt. Wenn auch ein „sehr intensi-
ves“. EVA-MARIA MAGEL

Im Zweifel für Irland


CarolaLENTZ Foto Angelika Leuchter


DRESDEN, 3. Oktober


I


n gut zehn Jahren wird Deutschland
so lange wiedervereint sein, wie es zu-
vor geteilt war, und es ist nicht
schwer zu prognostizieren, dass es auch
nach 40 Jahren Einheit Unterschiede zwi-
schen Ost und West geben wird. Die Fra-
ge ist, ob diese Unterschiede – jenseits
der heute nach wie vor in Ostdeutschland
deutlich längeren Arbeitszeit bei geringe-
ren Löhnen sowie der inzwischen be-
schlossenen Angleichung der Renten –
noch so maßgeblich sind, dass es einer
weiteren Angleichungsdiskussion bedarf.
Der Ost-Beauftragte der Bundesregie-
rung, der lediglich das Wort als Einfluss-
möglichkeit hat, muss sie jedes Jahr qua
Amt führen. Und so lauteten die nach der
Veröffentlichung des Berichts zum Stand
der Deutschen Einheit vorhersehbaren
Schlagzeilen auch diesmal wieder „Der
Osten hinkt noch hinterher“ oder „Der
Osten holt weiter auf“. Sie verdeutlichen
das grundsätzliche Problem des „Vereini-
gung“ genannten Prozesses: Der – in sich
auch sehr unterschiedliche – Westen ist
nach wie vor Norm und Maßstab sämtli-
cher Bewertungen und Sichtweisen des ge-
einten Landes.
Das war schon 1990 ein Problem. Der
damalige Bundesinnenminister Wolfgang
Schäuble (CDU) erinnert sich in seinem
Buch „Der Vertrag: Wie ich über die deut-
sche Einheit verhandelte“, wer Koch und
wer Kellner war: „Meine stehende Rede
war: Liebe Leute, es handelt sich um den
Beitritt der DDR zur Bundesrepublik,
nicht um die umgekehrte Veranstaltung.“
Auf diese Weise konnte er – gleichwohl
mit Unterstützung seines direkten Ver-
handlungspartners, des vornehmlich an
seinem persönlichen Fortkommen denn
am Wohl des Landes wie seiner Landsleu-
te interessierten DDR-Staatssekretärs
Günther Krause – so ziemlich alle Forde-
rungen beiseitewischen, die die DDR-De-
legation für die Einheit aufstellte. Das galt
nicht nur für die berühmten Polikliniken,
die damals zerschlagen wurden, aber
längst gesamtdeutsch als „Ärztehäuser“
wiederauferstehen, das Abitur nach zwölf
Jahren oder die umfassende öffentliche
Kinderbetreuung. So brachte der Osten
letztlich lediglich Brosamen in die Einheit
wie die Naturschutz-Eule, die den im Wes-

ten üblichen Seeadler als Symbol für
Schutzgebiete ablöste, oder den Grünen
Pfeil, der das Rechtsabbiegen auch bei ro-
ter Ampel erlaubt, der sich jedoch im Wes-
ten nicht durchgesetzt hat.
Schäuble hat dann 1991 mit seiner ful-
minanten Rede für Berlin als Hauptstadt
samt Regierungssitz immerhin die auf der
Kippe stehende Entscheidung zwischen
Bonn und Berlin maßgeblich beeinflusst.
Allein die Diskussion jedoch hat damals
im Osten niemand verstanden, schließlich
war nicht nur im Grundgesetz, sondern
auch im Einigungsvertrag fest verankert,
dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands
ist. Dass die Hauptstadt auch der Sitz der
Regierung sein müsste, galt im Osten als
selbstverständlich, die plötzlich ins Spiel
gebrachte Trennung hingegen als nicht
hinzunehmende Spitzfindigkeit des Wes-
tens. Wäre der Beschluss damals zuguns-
ten Bonns ausgegangen, hätte es in den
neuen Ländern wohl Aufstände gegeben.
So aber ist die Hauptstadtfrage das erste
und bis heute einzige Symbol, bei dem
sich der Westen auf den Osten zubewegt
hat. Vorschläge wie der nach einer gemein-
samen Nationalhymne aber wurden gar

nicht erst diskutiert, der nach einer ge-
meinsamen Verfassung, die das Grundge-
setz für den Fall der Einheit vorsah, wur-
den ausgesessen.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk
schreibt in seinem eben erschienenen
Buch „Die Übernahme – Wie Ostdeutsch-
land Teil der Bundesrepublik wurde“, dass
weltweit keine Verfassung so häufig geän-
dert wurde wie das Grundgesetz nach
1990, weshalb eine „Gesamtneukonstruk-
tion“ durchaus angebracht gewesen wäre.
„Für die Ostdeutschen wäre es vor allem
mental und kulturell das Zeichen für ei-
nen gemeinsamen Neubeginn gewesen.
Und die Westdeutschen hätten erfahren,
dass auch die alte Bundesrepublik, das
Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit
überführt werden musste.“ Was eine neue,
laut Grundgesetz „von dem deutschen Vol-
ke in freier Entscheidung“ beschlossene
Verfassung tatsächlich bewirkt hätte oder
heute noch bewirken würde, bleibt Speku-
lation. Gerade in Fragen der Einheit eines
Landes aber sind Symbole nicht zu unter-
schätzen. Dass man nicht einfach etwas
übernimmt, sondern gemeinsam Neues
schafft, könnte eine gute Grundlage für
eine auch ihrem Namen gerecht werdende

Wiedervereinigung sein, die ja in Wirklich-
keit ein Beitritt war.
So aber bleibt der Westen die Norm, an
der er den Osten nun seit fast drei Jahr-
zehnten misst, und zwar jährlich zum 3.
Oktober schriftlich als „Bericht zum
Stand der Deutschen Einheit“. Dort listet
dann der Ost-Beauftragte auf, wie viel Me-
ter noch fehlen zum West-Niveau, was im
Osten vielfach das Gefühl verstärkt, es
noch immer nicht geschafft zu haben,
nicht gleichwertig, ja Bürger zweiter Klas-
se zu sein. Und im Bundestag debattieren
dann auch regelmäßig fast ausschließlich
Ostdeutsche über den Bericht. Die Ein-
heit, so der Eindruck, der dabei entsteht,
sei eine reine Angelegenheit des Ostens,
die der Westen zwar weitgehend bezahlt,
der damit aber möglichst nicht weiter be-
lästigt werden möchte. Doch ist die Ein-
heit vielmehr Sache des gesamten Landes,
übrigens genauso wie die Geschichte der
DDR spätestens seit 1990 auch Teil der Ge-
schichte Gesamtdeutschlands ist.
Es ist nicht zu spät, die Wiedervereini-
gung als Chance zu begreifen. Helmut
Kohl hat dem Ende seiner Kanzlerschaft
auf die Frage, ob er bei der Wiedervereini-
gung Fehler gemacht habe, zugegeben, es
versäumt zu haben, offen darüber zu spre-
chen, dass nicht alles in der DDR falsch
war und in der Bundesrepublik nicht alles
richtig. Genau diese Botschaft wäre je-
doch sehr wichtig gewesen sowohl für das
Selbstverständnis der Westdeutschen wie
das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen.
Heute wäre schon viel gewonnen, Ost-
deutschland nicht länger als problemati-
sches Anhängsel der Bundesrepublik
West zu sehen und Ostdeutsche nicht län-
ger als „nicht angekommen“ im Westen
oder gar in der Demokratie zu bezeich-
nen, wenn sie eigene Ansichten äußern,
Dinge in ihren Ländern anders regeln
oder anders wählen als im Westen üblich.
Politisch sind die „neuen Länder“ mit Re-
gierungschefs von CDU, SPD und Links-
partei ohnehin schon lange keine homoge-
ne Masse mehr. Unterschiede zu akzeptie-
ren, sie nicht als „ostdeutsch“ oder „an-
ders“ im Sinne von minderwertig abzuqua-
lifizieren, sondern als Teil Gesamtdeutsch-
lands und bisweilen auch als Bereiche-
rung zu sehen, könnte Land und Landsleu-
te künftig einander näher- oder gar zusam-
menbringen.

BERLIN, 3. Oktober
Als die AfD-Politiker Alice Weidel und
Alexander Gauland vor gut zwei Jahren
Heinz-Christian Strache besuchten, gab ih-
nen der damalige Vorsitzende der FPÖ ei-
nen Rat. Die AfD solle sich nicht mit zu
vielen Themen verzetteln, sondern sich
auf drei konzentrieren: Migration, Islam
und Klima. Mit dem Thema Migration hat-
te die AfD ihren Wiederaufstieg bestrit-
ten, nachdem das Eurothema an Bedeu-
tung eingebüßt hatte. Auch als Anti-Is-
lam-Partei hatte sie sich, sozusagen flan-
kierend, dargestellt. Doch beide Themen
haben ihre Durchschlagskraft im Jahre
2019 verloren. Das neue Megathema ist
das Klima. Es ist deswegen nicht verwun-
derlich, dass Gauland darin nun eine neue
Chance für die AfD entdeckt hat. „Die Kri-
tik an der sogenannten Klimaschutzpoli-
tik ist nach dem Euro und der Zuwande-
rung das dritte große Thema für die AfD“,
sagte Gauland der „Welt am Sonntag“.
Die AfD-Führung hat eine Weile ge-
braucht, um zu dieser Erkenntnis zu gelan-
gen. Die Wucht der Klimaschutzbewe-
gung, die großen Kundgebungen der An-
hänger von „Fridays for Future“ machten
sie zunächst ratlos, wirkten doch die De-
monstrationen von Gruppen aus dem Vor-
feld der AfD – von Pegida in Dresden oder
Zukunft Heimat in Cottbus – im Vergleich
dazu geradezu niedlich. Gaulands ur-
sprüngliche Reaktion war denn auch eine
andere gewesen: „Wir müssen abwarten,
bis sich der Klima-Hype gelegt hat“, hatte
er noch im Juni dieser Zeitung gesagt.
Mittlerweile hat die AfD-Spitze einge-
sehen, dass Aussitzen ihr keine Stimmen
bringt. Deshalb geht die AfD in die Offen-
sive. Der Zeitpunkt dafür ist günstig. Zum
einen hat die Bundesregierung mit dem

Klimaschutzpaket Schritte beschlossen,
die von der AfD nun als „maßlose Vorha-
ben“ und „völlig ineffektiv“, so Gauland,
angeprangert werden. Zum anderen hat
die Wutrede von Greta Thunberg vor den
Vereinten Nationen viel Kritik hervorge-
rufen. Diese möchte die AfD auf ihre
Mühlen zu lenken. Mit ihrer Kritik an der
Klimaschutzpolitik habe die AfD „ein Al-
leinstellungsmerkmal, weil alle anderen
Parteien ja den Irrsinn mitmachen, den
Greta Thunberg neuerlich angeheizt hat,
als sie vor den Vereinten Nationen ausras-
tete“, sagte Gauland dazu. Es soll das
neue Mobilisierungsthema werden, und
es könnte dafür geeignet sein, weil es ge-
gen die „politische Korrektheit“ verstößt.
Das Klimathema ist für die AfD aller-
dings nicht neu. Die Partei hat sogar
schon Kongresse mit Leugnern des Klima-
wandels organisiert, und viele ihrer Politi-
ker äußerten sich in dem Sinne, der Kli-
mawandel sei nicht belegt. Damit freilich
drohte sich die Partei lächerlich zu ma-
chen. Deswegen hat sie sich nun auf eine
andere Strategie verlegt. Zwar gebe es
den Klimawandel, doch sei noch völlig un-
klar, welchen Anteil der Mensch daran
habe. Das ist zwar ebenfalls wissenschaft-
lich nicht haltbar, aber klingt nicht so ver-
schroben wie die absolute Leugnung des
Offensichtlichen.
Deutschland, das ohnehin nur zwei Pro-
zent der weltweiten CO 2 -Emissionen er-
zeuge, könne am weltweiten Klimawan-
del ohnehin nichts ändern, so Gaulands
fatalistische Argumentation. Dabei unter-
schlägt er, dass die Deutschen auch nur
ein Prozent der Weltbevölkerung ausma-
chen. Zu einer eigenen Klimaschutzpoli-
tik der AfD, die etwa in einem Plädoyer
für die Atomkraft bestehen könnte, hat

sich die AfD aber nicht durchringen kön-
nen, auch aus Angst vor Protesten in ihrer
eigenen Anhängerschaft.
Dabei würde das gut zu der Auseinan-
dersetzung mit der Partei passen, die von
der AfD als größter Gegner angesehen
wird: den Grünen. Wie schon in der Frage
der Migration stehen AfD und Grüne
auch in der Klimapolitik für die Pole im
politischen Spektrum. Beide Parteien
sind in den vergangenen Jahren deutlich
stärker geworden, sie kommen zusam-
men in den bundesweiten Umfragen der-
zeit auf 40 Prozent, in den Ländern zwi-
schen 30 und 50 Prozent. In Gesamt-
deutschland und in den westlichen Bun-
desländern sind die Grünen doppelt so
stark oder noch stärker als die AfD, in
den östlichen Bundesländern verhält es
sich genau umgekehrt.
Anders als bei den anderen Parteien lei-
den Grüne und AfD nicht unter dem Er-
folg der jeweils anderen. Im Gegenteil.
Der Erfolg der AfD scheint die Grünen
stärker zu machen, in geringerem Maße
gilt das auch umgekehrt. Notleidende die-
ser Polarisierung sind die Parteien der
Mitte, also Union und SPD, die in einer
scheinbar endlosen großen Koalition re-
gieren, die ja, so die herkömmliche Regel,
die Ränder stärkt und kleineren Parteien
zugutekommt. Doch gilt das nicht für die
FDP und die Linke.
Das hat wohl auch damit zu tun, dass
die Hauptkonfliktlinien in der Politik sich
verändert haben. Früher waren sie vor al-
lem durch ökonomische Grundausrich-
tungen bestimmt, die in dem Gegensatz
Marktliberalität versus Verteilungsgerech-
tigkeit ihren Ausdruck fanden, für die
stellvertretend FDP und Linkspartei stan-
den. Heute ist es eher eine politisch-kultu-
relle Konfliktlinie, die die Debatten im

Land und das Wahlverhalten bestimmt:
kosmopolitisch gegen national, offen ge-
gen geschlossen, global und universalis-
tisch gegen die hergebrachte Ordnung,
wie sie angeblich früher war.
Die Grünen sind dabei im Vorteil, sie
bestimmen den politischen Diskurs. Sie
sind in gewisser Weise schon da, wo die
AfD gerne hinmöchte. Sie gehören zahl-
reichen Landesregierungen an, und sie
tun das immer in einer Koalition mit der
CDU, schon länger in so großen wirt-
schaftlich starken Ländern wie Baden-
Württemberg und Hessen, demnächst
wohl auch vermehrt im Osten. Die Grü-
nen sind so in der politischen Ausrich-
tung, aber auch von ihrer Wählerklientel
her längst eine bürgerliche Kraft gewor-
den. Die neue Strategie der AfD, sich
selbst als bürgerliche Kraft zu bezeichnen
und den Begriff des bürgerlichen Lagers
auf sich selbst, die Union und die FDP zu
beschränken, zielt nicht zuletzt darauf,
den Grünen diesen Anspruch abspenstig
zu machen.
Die AfD sieht ihre Zukunft im Rahmen
des hergebrachten Parteiensystems von
links und rechts. Die Grünen sind in ihrer
Sicht eine linke Kraft, die es rot-rot-grüne
Bündnisse solchen mit der Union vorzie-
hen würde. Deswegen werde die Union,
sobald Teile der AfD sich nicht mehr
rechtsradikal gebärdeten, auf ein Bündnis
mit ihr zusteuern müssen. Wer sich die
Entwicklung der CDU und insbesondere
der CSU anschaut, die den Klima- und Um-
weltschutz nun neu entdeckt haben, um
die bürgerlichen Wähler von den Grünen
zurückzugewinnen, sich damit aber gleich-
zeitig noch kompatibler für Koalitionen
mit den Grünen machen, kann allerdings
berechtigte Zweifel daran haben, dass die
Strategie der AfD aufgehen wird.

Getrennt vereint


Warum die „neuen Länder“ nicht länger nach Maßstäben des Westens bewertet werden sollten / Von Stefan Locke


Proteste im Irak


Trauerspiel


Kulturmittlerin


Das dritte Thema


Die AfDentdeckt die Auseinandersetzung mit der Klimapolitik als neue Chance / Von Markus Wehner


Koch und Kellner:Wolfgang Schäuble und Günther Krause nach der Unterzeichnung
des Einigungsvertrags am 31. August 1990 Foto ADN

Die wichtigen Themen. Kompakt aufbereitet und eingeordnet.


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