Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 ∙Nr.234∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr.4.90 ∙€4.


Gleichstellung: Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseauhat den Frauengeschadet Seite 12


Die USA heizen den

Streit mit China an

Neue Sanktionen tr effen chinesische Techfirmen


Washington hat 28 Organisationen
undFirmen aus China aufeine
schwarzeListe gesetzt.Damit
wolle mandie Uiguren in der
ProvinzXinjiangvorÜberwachung
schützen, heisst es in den USA.
Peking wertetdas als Einmischung
in innere Angelegenheiten.

MATTHIAS MÜLLER, PEKING


Der weltweit grösste Anbieter von Über-
wachungskameras und -zubehör, der chi-
nesischeTechnologiekonzern Hikvision,
hat dieFolgen der neuen Sanktionen
durch die amerikanischeRegierung be-
reits unmittelbar zu spüren bekommen.
Die Aktien des vor 18 Jahren gegründe-
tenKonzerns sind am Dienstag wegen
Kursturbulenzen vorübergehend vom
Handel an der Börse in Shenzhen aus-
geschlossen worden. Ein seitWochen er-
warteter Entscheid der amerikanischen
Regierung hatte den Investoren die
Laune verdorben.Das Handelsminis-
terium inWashington gabam Montag-
abend bekannt, 20 Organisationen sowie
8Firmenaus China aufeine schwarze
Liste gesetzt zu haben. Amerikanische
Firmen dürfen sie nur noch beliefern,
wenn sie zuvor eine Bewilligung der
Regierung inWashingtonerhaltenhaben.

Beistandfür M uslime


Alle auf die schwarze Liste genomme-
nen chinesischen Organisationen und
Firmen sollen gemein haben, in der im
äusserstenWesten desReichs der Mitte
gelegenen Provinz Xinjiang aktiv zu sein
und an der Drangsalierung der Uigu-
ren, einer turkstämmigen muslimischen
Minderheit, mitzuwirken. Der ameri-
kanische HandelsministerWilburRoss
sagte, sein Ministerium werde sicherstel-
len, dass amerikanischeTechnologien
nicht gegen hilflose Minderheiten ein-
ge setztwürden. DieReplik ausPeking
folgte prompt.Das chinesischeAussen-
ministerium kritisierte den Entscheid
scharf.Xinjiang sei einTeil Chinas. Kein
Land habe dasRecht, sich einzumischen.
Die «sogenannten Menschenrechtspro-
bleme» existierten nicht.DieUSA such-
ten nureinenVorwand, um sich in die
inneren Angelegenheiten Chinaseinzu-
mischen, teilte ein Sprecher desAussen-
ministeriums inPeking mit.
Den 20 chinesischen Organisatio-
nen wirdeine grosse Nähe zurPolizei
und zum Militär in Xinjiang vorgewor-
fen. Die 8 sanktioniertenFirmen sollen
laut Washington mit ihrerTechnologie
die Unterdrückung der Uiguren unter-
stützen. Die Sanktionen werden sie
unterschiedlich hart treffen. DieRating-
Agentur Standard &Poor’s hatte Ende
2018 vor denFolgen eines amerikani-
schenVorgehens gegen Hikvision ge-
warnt. In einem Bericht hatte es geheis-
sen, derTechnologiekonzern sei auf Zu-
lieferungen aus Amerika angewiesen.
Dies gelte vor allem für Chips,Daten-
speicher und Grafikprozessoren. Sollten
dieVereinigten Staaten ein Lieferverbot
verhängen, habe Hikvision zumindest
kurz- und mittelfristig Probleme. Stan-

dard &Poor’s schrieb jedoch auch, dass
es den Chinesen gelingen werde,Alter-
nativen zu den bisherigen amerikani-
schen Anbietern zu finden.
Hikvision ist in den vergangenenJah-
ren besondersstarkim eigenenLand ge-
wachsen und hat vomAusbau der Über-
wachungstechnologie profitiert. Laut
einer Studie der Marktforscher von
Comparitech belegen in einemRanking
von Städten mit der grössten Dichte an
öffentlichen Überwachungskameras acht
chinesische, eine britische und eine ame-
rikanische Metropoledie vordersten
Plätze. Comparitech prognostiziert, dass
2022 in ganz China auf zwei Bewohner
eine öffentliche Überwachungskamera
kommen wird. In derRangliste belegt die
Hauptstadt der Provinz Xinjiang, Urumqi,
den14.Platz. Die im Süden der Provinz
gelegene Stadt Kashgar, die als Zentrum
der uigurischen Minderheit gilt, taucht
in demRanking dagegen nichtauf.Dort
sind in den vergangenenJahren zahllose
Überwachungskameras installiert wor-
den. Eskönnte sein, dass es Comparitech
anDaten aus Kashgargefehlthat.
Andere chinesischeFirmen auf der
schwarzen ListeWashingtons dürften im
Gegensatz zu Hikvision den Entscheid
besser verkraften, weil sie weniger stark
auf amerikanischeTechnologieangewie-
sen sind. So zählen zu den Sanktionier-
ten mit Iflytek,Megvii und SenseTime
dreiFirmen, die mit Sprach- und Ge-
sichtserkennung ihr Geld verdienen. Es
handelt sich um Spielfelder der künst-
lichen Intelligenz.
China spielte auf demForschungs-
gebiet lange ZeitkeineRolle. Die theo-
retischen Grundlagen für künstliche
Intelligenz wurden in westlichen Insti-
tuten geschaffen. China hat jedoch gute
Voraussetzungen, um mit künstlicher
Intelligenz künftig Geld zu verdienen:
Das asiatischeLand verfügt über Com-
puter mit hoherRechnerleistung; es gibt
gut ausgebildetesPersonal, das Algo-
rithmen entwickelt; und die weit mehr
als 800 Millionen Internetnutzer geben
im Netz viel von sich preis. China ist auf
diesem Segment nicht mehr zwingend
auf die Hilfe Amerikas angewiesen.

Kritik auf dünnem Eis


Bei der Gesichtserkennung gilt neben
SenseTime die 2011 in Peking ge-
gründeteFirma MegviiTechnology als
Marktführerin. Sie war das erste Startup
der Branche, das zu einem «Einhorn»
mutierte – es ist noch nicht börsenkotiert
und hat einen Marktwert von mehr als
einer Milliarde Dollar. Bei der letzten
Finanzierungsrunde wurde Megvii auf
mehr als 4 Milliarden Dollar geschätzt.
Falls der EntscheidWashingtons dem
Konzernkeinen Strich durch dieRech-
nung macht, sollin absehbarer Zeit der
Gang an die Hongkonger Börse erfolgen.
Auf welch dünnem Eis sich die Kriti-
ker chinesischerFirmen bewegen, zeigt
einVorfall aus demFrühjahr. Damals
hatte die Menschenrechtsorganisation
Human RightsWatch (HRW) Megvii
vorgeworfen, beimAufbau einer zen-
tralen, integriertenDatenbank in Xin-
jiang mitzuwirken.Kurz darauf musste
HRW jedoch dementieren.

EntdeckungimAll
51 Pegasi:Der Mutterstern verriet
seinen Begleiter. Seite 14

JamesPeebles:Er ist der Geburtshelfer
der modernenKosmologie. Seite 15

Mayor und Queloz:Die Uni Genf
feiert ihreForscher. Seite 15

Kommentar:Der Planetenfund hat
eine philosophische Dimension.Seite 11

Glühbirnenstatt Exoplaneten: Didier Quelozfreut sichimScience Media Centre in London über seinen Nobelpreis. FRANK AUGSTEIN / AP


Zwei Sc hweizer Astronomen


erhalten den Physik-Nobelpreis


Michel Mayor und Didier Queloz entdeckten den ersten Planeten ausserhalb des Sonnensystems


Forscher der Universität Genf


und einKosmologe aus Kanada


teilen sich diesesJahr den


Nobelpreis für Physik. Geehrt


werden sie für Beiträge zur


Erforschung des Universums.


HELGA RIETZ


Sie haben unser modernes Bild vom
Kosmos und von dessen Entstehung
aus dem Urknall heraus massgeblich
beeinflusst.Nun bekommenJamesPee-
bles zureinen Hälfteunddie beiden
SchweizerAstronomen Michel Mayor
und Didier Queloz zur anderen Hälfte
für ihre wissenschaftlichen Arbeiten
denrenommierten Nobelpreis für Phy-
sik verliehen.Das hat das Nobelkomi-
tee in Stockholm am Dienstagmittag
mitgeteilt.


Ein kosmischerFingerabdruck


Dass sich dieKosmologie in der zwei-
ten Hälfte des 20.Jahrhunderts vom
Spielfeld fürSpekulationen zur exakten
Wissenschaft gewandelt habe, sei ganz
wesentlich den ArbeitenJamesPeebles’
zu verdanken, befand dasKomitee. Pee-
bles, der1935 inWinnipeg, Kanada, ge-
boren wurde, verbrachte fast sein gan-
zesForscherleben an der Universität
Princeton in den USA. Dort befasste er
sichmitdemUniversum inall seinen
Facetten–vom Urknall bis hin zu den
grossräumigen Strukturen,welche die
Verteilung von Gas, Galaxien und Ster-
nen imWeltraumbestimmen.Peebles
war auchderjenige,dererkannte, dass
die sogenanntekosmische Hintergrund-
strahlung praktisch alle Informationen
über die Zusammensetzung des Univer-
sums enthält. ImLauf derJahre lernten


dieKosmologen, diese Strahlung wie
einenFingerabdruck zu lesen und dar-
aus die genaue Entstehungsgeschichte
des Universums abzuleiten.
An der Pressekonferenz des Nobel-
komitees wurdePeeblesperTelefon ge-
fragt, ob ihm die Geheimnisse des Uni-
versums nicht manchmal überwältigend
erschienen. «O nein!», antwortete er.
Wunderbar seien sie, und faszinierend. Er
könne davon gar nicht genug bekommen.
Mayors und Queloz’ grosser Beitrag
zur Astronomie besteht darin, dass die
beiden1995 an der Universität Genf
den ersten Planeten ausserhalb unseres

Sonnensystems entdeckten.Damit sind
die zwei Schweizer nicht nur Pioniere
eines inzwischenreichen und lebendi-
genForschungszweiges; sie haben auch,
so betont es das Nobelkomitee in seiner
Laudatio, den Menschen und den Pla-
neten Erde neu imKosmos verortet.
Mayor, 1942 inLausanne geboren und
seit1984 Professor an der Universität
Genf, istbereits emeritiert. Queloz,Jahr-
gang1966, war zum Zeitpunkt der Ent-
deckung noch Doktorand bei Mayor. Er
hat heute neben der Professur in Genf
auch einenLehrstuhl inCambridge,
Grossbritannien, inne.

Mayor und Queloz waren Mitte der
neunzigerJahre bei weitem nicht die
Einzigen, die nachExoplaneten such-
ten – so derFachausdruck für Plane-
ten, die um einen anderenStern als die
Sonne kreisen. Insbesondere hatte die
Forschungsgruppe um Geoffrey Mar-
cey in den USA lange vor Queloz und
Mayor mit ganz ähnlichen Beobachtun-
gen begonnen.Was den Genfern zum
Vorteil gereichte,war die Unvoreinge-
nommenheit des Doktoranden Que-
loz, dessen Algorithmen zurDatenaus-
wertung auch Planeten mitganz kurzer
Umlaufzeit zuliessen – obschon damals
kein Astronom deren Existenz für mög-
lich hielt. Ebenso wichtig war der Mut,
den eigenen Beobachtungen, so ver-
rückt sie damals erschienen, tatsächlich
zu glauben.

Der Stern Helvetios


«Als wir nach Florenzreisten, um
unsere Ergebnisse an einerKonferenz
vorzustellen, hatte ichPanikattacken»,
erzählte Queloz 20 15 im Gespräch mit
der NZZ.«Wir hatten eine grosse Ent-
deckung gemacht, die jedoch vonkei-
nerTheorie gestützt wurde.Alles hing
von mir ab. Ich wusste:Wenn ich falsch
liege, bin ich erledigt.»
Die Suche nach Exoplaneten und
deren Charakterisierung haben sich in-
zwischen zu einem äusserst lebendi-
genForschungsgebiet gemausert.Weit
über 40 00 solcherPlaneten wurden ent-
deckt – darunter auchSysteme, in denen
viele Planeten um eine Sonne kreisen
(etwaTr appist-1), und solche, deren Pla-
neten in mancherlei Hinsicht unserer
Erde ähneln. Der Stern 51Pegasi, des-
sen verräterischesTaumeln am Nacht-
himmel Mayor und Queloz auf die Spur
des ersten Exoplaneten führte,heisstin-
zwischen Helvetios.

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