Mittwoch, 9. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION 17
Grabenkämpfe kennen die Zürcher Sozialdemokraten
seit den 1980er Jahren SEITE 18
Das Münchner Instrument gege n die Gentrifizierung wird
in Zürich angepriesen, jedoch wirkt es nur bedingt SEITE 19
Die Stadt, die am liebsten ein Dorf wäre
Horgen hält trotz seiner Bevölkerungsgrösse an der Gemeindeversammlung fest – ein Bewohner will dies ändern
MICHAELVON LEDEBUR
Sollten eines schönenTages alle Horg-
ner Stimmberechtigten gleichzeitigvon
ihrem demokratischenRecht Gebrauch
machen, hätte der örtliche Gemeinde-
rat ein Problem.Auf dem ganzen Ge-
meindegebiet gibt es nämlichkeinen
Saal,der gross genug für die über 13 000
Stimmberechtigten wäre. Die grösste
Lokalität, diereformierte Kirche, böte
nur jedem Zehnten Platz. Im Schinzen-
hofsaal im Dorfzentrum, dem üblichen
Gemeindeversammlungslokal, erhalten
maximal 850Personen Einlass.
Aber für solchein Szenario benötigt
der Horgner Gemeinderat keinen Not-
fallplan.In derRealität erscheinen näm-
lich nicht annähernd so viele Leute,
wenn es darum geht, über den Steuer-
fuss oder millionenschwere Infrastruk-
turausgaben zu entscheiden. 200 bis
300 Personen oder 2 bis 3 Prozent der
Stimmberechtigten lenken die Geschi-
cke der Stadt mit über 23000 Einwoh-
nern und bestimmen über ein Budget
von über 230MillionenFranken. Ein
Missverhältnis, mit dem es ein Ende
haben solle,fordern Initianten.Die Ver-
antwortungsoll an einOrtsparlament
übergehen. Im Novemberkommt es zur
Urnenabstimmung. Bei einer Annahme
würde Horgen 2022 zur14.ZürcherPar-
lamentsgemeinde.
DieExekutive lehntdie Idee ab
Es ist nicht das erste Mal, dass im Kan-
ton Zürich über dieParlamentsfrage
diskutiert wird. Dörfliche Ortschaf-
ten wachsen, die politischen Strukturen
überdauern; ab einer gewissen Grösse
erscheinen sie überholt.Aber das ist
nur die eine Sichtweise. Die Gemeinde-
versammlung ist vielen liebgewordene
Tradition und ein Stück gelebte direkte
Demokratie. Im offiziellen Horgen
kommt die Idee jedenfalls schlecht an.
Die Exekutive lehnt sie ab. Diese Ab-
wehrhaltung ist bemerkenswert, weil es
in Wetzikon, dem bisher letzten Ort im
Kanton,der einParlament einführte, ge-
rade umgekehrt war. Dort hatte der Ge-
meinderat dezidiert für einParlament
geweibelt, bis er 2012 eine Mehrheit
fand, im sechsten Anlauf.
Der Horgner GemeindepräsidentTheo
Leuthold (svp.) sagt,der Gemeinde
gehe es gut, es gebe keinen Grund, etwas
am politischenSystem zu verändern. In
Horgen gebe es 200 bis 300Politikinte-
ressierte, und ein Grossteil von ihnen
würde bei der Einführung einesParla-
ments mit einigenDutzendVolksvertre-
tern verprellt.Heutekönnten die Bürger
sich direkt zuWort melden undFragen
stellen. Das Missverhältnis von Einwoh-
nerzahl undVersammlungsteilnehmern
sieht Leuthold nicht als Problem:Wer
wolle, könne ja teilnehmen. «Die Ge-
meindeversammlung ist bei uns etwas,
das lebt und tut.»
Abgesehen von SP und Grünen se-
hen das alleParteien gleich. Sie argu-
mentieren zusätzlich mit der schwerfäl-
ligeren Entscheidfindung in einemPar-
lament und den Mehrkosten von rund
einer halben MillionFranken proJahr.
Und es gebe mitRapperswil-Jona und
Baar in der näheren Nachbarschaft
zwei Orte, die noch grösser seien und
ihreAufgaben erfolgreich mit der Ge-
meindeversammlung erledigten.
Direkte oderrepräsentative Demo-
kratie? AlfredFritschi, pensionierter
Entwicklungshelfer, ist der Mann, der
Horgen diese demokratiepolitische
Debatte beschert. Er war in seinem Be-
ruf Spezialist für demokratischeVerwal-
tungsformen. Horgen stehe unter diver-
sen Kriterien von «good local gover-
nance» unbefriedigend da, sagt der
Co-PräsidentderörtlichenSP.DasInitia-
tivkomitee versuche, Horgen aus seiner
politischen Apathie zu wecken und vor
allemjeneEinwohneranzusprechen,die
sichpolitischbisjetztnichtbetätigten.Es
brauche eine Debatte. Fr itschi findet, es
wäre eigentlich am Gemeinderat gewe-
sen, eine solche anzustossen.
Wir treffenFritschi an einem war-
men Herbstnachmittag in der Horgner
«Dorfbeiz». Das Lokal heisst so. Dörf-
lich ist das Ambiente nicht:Das Café
ist Teil eines Gebäudekomplexes, der
in den1960er Jahren erbaut wurde und
der sich beidseits der Hauptstrasse er-
hebt, verbunden durch eine überdimen-
sionierteFussgängerbrücke. Horgen hat
einen dörflichenKern; rund um die Kir-
che schlendert man durch Gässchen und
erblickt dann und wannein Riegelhaus.
Aber ein Dorf sei Horgen schon 1989
nicht mehr gewesen, im Jahr, in dem er
zugezogensei,sagtFritschi.Damals leb-
ten hier18 000 Personen; heute sind es
rund 23000, wobei dieFusion mit Hir-
zel dem Ort vergangenesJahr auf einen
Schlag 2200 zusätzliche Einwohner be-
scherte. DasWachstum geht weiter: Laut
Fritschi sind mehrere grosseBaupro-
jekte hängig.
Genügend Kandidatennötig
Die Gemeindeversammlung als Ort ge-
lebter Demokratie nenntFritschi einen
Mythos.Zu Wort meldeten sich vor
allemParteienvertreter. Kaum jemand
lese imVorfeld das dickeWeisungsbüch-
lein über diekomplexen Geschäfte. So-
mit stelle eine kleine Gruppe Alteinge-
sessener dieWeichen. In Ermangelung
professioneller Mitwirkungsstrukturen
werde auch vieles durch dieVerwaltung
entschieden.An einer Gemeindever-
sammlungkönne man sich ohnehin nur
beschränkt beteiligen. «Man kann nur
Ja oder Nein sagen. Oder ausrufen.» Ein
Parlamentsbetrieb biete viel mehr Mög-
lichkeiten und belebe dieOrtspolitik mit
neuen Ideen.
In Wetzikon sagen die damaligen
Gegner desParlaments heute, sie hät-
ten die neuen Mitwirkungsmöglich-
keiten seinerzeit unterschätzt. Stefan
Kaufmann (svp.), bereits zum zweiten
Mal Präsident in der jungen Geschichte
des WetzikerParlaments, erklärt,die
Qualität der Diskussionen sei deutlich
höher, die Abläufe ungleich transpa-
renter. Zwar seien die Mehrkosten hap-
pig, aberdas wachsameAuge desParla-
ments wirke dafür disziplinierend. Die
finanziell einst ins Minusgerutschte
Stadt brachte Ordnung in ihrenFinanz-
haushalt. Ein Nebeneffekt war freilich,
dass dasParlament den neuen Stadtrat
enorm forderte.
Das Kostenargument wird immer
wieder vorgebracht.Kürzlichkonfron-
tierte der «Zürcher Oberländer»Jean-
Philippe Pinto (cvp.), Gemeindepräsi-
dent vonVolketswil (18000 Einwoh-
ner),mit derParlamentsfrage. Pinto gab
an, Parlamentsgemeinden hätten einen
höheren Steuerfuss. DieseAussage ist
statistisch widerlegt.Laut Peter Mo-
ser vom kantonalen statistischen Amt
waren 2019 die Steuerfüsse in denPar-
lamentsgemeinden zwar drei Punkte
höher als in den übrigen Gemeinden
des Kantons; dieser Unterschied sei
aber statistisch vernachlässigbar. Er ver-
schwinde zudem vollständig, wenn man
die oft schwierigeren sozialenVerhält-
nisse und die Steuerkraft der Bevölke-
rung berücksichtige.
Voraussetzung für einenParlaments-
betrieb ist, dass ausreichend Kandida-
ti nnen und Kandidaten zurVerfügung
stehen. Es gibt Gemeinden, die ihrPar-
lament wieder aufgelöst haben. In der
Aargauer Ortschaft Spreitenbach war
dies in den1980er Jahren derFall. Ge-
meindeschreiberJürg Mül ler, seit 1987
im Dienst der Gemeinde, sagt, es sei da-
mals aufgrund der Bevölkerungsstruk-
tur schwierig gewesen, qualifizierte
Leute zu finden. Dies dürfte auf das
ungleich grössere und reichere Horgen
aber kaum zutreffen.
UnterschiedlicheTraditionen
Die meistenPolitikwissenschafter ge-
ben die Zahl von 10000 Einwohnern
als Grenze an, ab der eine Gemeinde-
versammlung die Bevölkerung nicht
mehr richtig abzubilden vermöge. Eine
klare Empfehlung über die Organisa-
tionsform lässt sich daraus aber nicht
ableiten. In einemeinsc hlägigenAuf-
satz schreibt dazu AndreasLadner von
der UniversitätLausanne, nicht allein
die Einwohnerzahl sei entscheidend.
Es gehe auch um unterschiedlicheTra-
ditionen. In manch einemWestschwei-
zer Kanton ist dasParlament beispiels-
weise dieRegel, in der Innerschweiz ist
es gänzlich unbekannt.
Die vielen Parlamentsgründungen
in den1970erJahren auch im Kanton
Zürich führtLadner auf dieVerdoppe-
lung der Zahl der Stimmberechtigten
aufgrund der Einführung desFrauen-
stimmrechts sowie auf das Bevölke-
rungswachstum zurück. Zudem sei man
damit unzufrieden gewesen, dass an der
GemeindeversammlungPartikularinter-
essen dominierten. Es ist ein Klassiker:
Wird über das neueFussballfeld ent-
schieden, marschieren die Sportler auf.
Geht es um eine neue Strasse, werden
Anwohner mobilisiert.
Entscheidend ist letztlich das Bild,
das die Einwohner von sich selber haben.
Eine Gemeindeversammlung passt zur
Dorfgemeinschaft, dasParlament zur
anonymen Stadt. InWetzikon förderte
die Exekutive das städtische Moment
bewusst:Das Gemeinde- wurde in Stadt-
haus umbenannt, die Polizei durfte nicht
mehr Gemeindepolizei heissen.Zwar se-
hen vieleWetziker ihren Ort nach wie
vor als dörflich, meinen damit aber eher
das Quartier, in dem sie wohnen, denn
Wetzikon zerfällt in mehrereTeile, wäh-
rend dieIdentifi kation mitdem Ort sel-
ber schwachist.
In Horgen ist das anders. Das dörf-
liche Selbstbild ist fest in denKöpfen
ve rankert. AlfredFritschi erzählt, wie
einmal bei der Präsentation einesBau-
projekts einArchitektvom Stadtbild ge-
sp rochen habe. Da sei ein Gemeinderat
aufgestanden und habe dezidiert wider-
sprochen: Horgen sei ein Dorf! Man sei
als reiche Seegemeinde und Sitz zahl-
reicher Unternehmen stolz.Das sind
Anzeichen dafür, dass die Horgner poli-
tisch Dörfler bleiben wollen.
Wenige dürfen nicht
über viele bestimmen
Kommentar auf Seite 11
Über 23000 Einwohner zählt Horgen,das dörflicheSelbstbild ist aberfest in denKöpfen verankert. KARIN HOFER/NZZ