Mittwoch, 9. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 27
Steuerbehörden kämpfen mit Datenflut
Der internationale Informationsaustausch zu Finanzkonti ist für die Schweiz weniger einseitig als ursprünglich vermutet
HANSUELI SCHÖCHLI
Was einst in der Schweiz in Steuer-
sachen tabu war, ist nun schon bald
Routine: der automatischeAustausch
von Informationen überFinanzkonti
mitDutzenden vonLändern. DerAus-
tausch geht jährlich im Herbst über die
Bühne. Kontonummer, Bankname, Kun-
denname, Kontostand per EndeVorjahr
und Kapitalerträge gehören zu den aus-
getauschtenInformationen.Das Start-
jahr für die Schweiz war 2018; damals
tauschte BernDaten mit 36Ländern
aus. Per Ende September 20 19 waren
rund doppelt so vieleLänder auf der
ListederPartnerstaaten, einschliesslich
Russland und China. Die Schweiz er-
hieltDaten aus 75Ländern und schickte
Informationen an 62 Staaten. 13Län-
der erhielten laut Bundkeine Infor-
mationen, weil sie die Anforderungen
anDatensicherheit undVertraulich-
keit nicht erfüllten (z.B.Bulgarien und
Rumänien) oder weil sie freiwillig auf
einenDatenerhalt verzichteten (z.B.
Bermuda und die Cayman-Inseln).
Deutschland istNummer 1
Die innenpolitische Debatte imVorfeld
der AIA-Einführung war geprägt durch
die Erwartung, dass die Schweiz viel
mehrDaten von ausländischen Steuer-
pflichtigen mit SchweizerBankkonto in
diePartnerländer schicken wird, als sie
Informationen über ausländischeKonti
von Schweizer Steuerpflichtigen erhal-
ten wird. Doch gemessen an der Zahl
der gemeldetenKonti hat sich diese Mut-
massung nicht bestätigt. 20 18 erhielt die
Schweiz etwa gleich viele Meldungen,
wie sie selber lieferte, und auch heuer
war der Informationsfluss nicht wirklich
einseitig, wie die dieseWoche publizier-
ten Zahlen der Eidgenössischen Steuer-
verwaltung zeigen: Die Schweizer ver-
schickten Informationen zu 3,1 Mio. hie-
sigenBankkonti und erhielten Angaben
über 2,4 Mio. ausländischeBankkonti
hiesiger Steuerpflichtiger.
Die 2,4 Mio.erscheinen angesichts
der total gut5Mio. steuerpflichtigen
natürlichenPersonen in der Schweiz wie
eine enorm hohe Zahl.Zurelativieren
ist sie insofern, als die AIA-Meldungen
auchKonti vonjuristischenPersonen
mit Schweizer Steuerpflicht umfassen
und zudem bei Pflichtigen mit mehre-
ren ausländischenBankkonti in der Sta-
tistik jedesKonto als Meldung gezählt
wird. MancheKonti dürften überdies
Ausländer mit SchweizerWohnsitz be-
treffen, die in ihrem Herkunftsland eine
Bankbeziehung behalten haben.
Dennoch ist dasDatenvolumen ein-
drücklich. Heuer ist Deutschland, ge-
messen an der Zahl der Meldungen (in
beide Richtungen), der wichtigste AIA-
Partnerstaat der Schweiz. Details zu 20 19
fehlen noch, doch 20 18 kamen44% aller
ausländischen Meldungen aus dem nörd-
lichen Nachbarland.Für Hans-Joachim
Jaeger, Steuerexperte der Beratungs-
firmaEY, ist dies nicht überraschend. Er
erklärt die Prominenz Deutschlands als
Lieferant von AIA-Meldungen für die
Schweiz mit natürlichen Beziehungen
zwischen den Grenzregionen, aber auch
damit, dass Deutschland für Schweizer
Steuersünder interessant gewesen sei.
Manche deutschenFinanzinstitute in
den Grenzregionen hatten lautJaeger in
derVergangenheit um SchweizerKun-
den mit dem Argument geworben, dass
auf Zinserträgekeine Quellensteuer ab-
gezogen werde.
Die kantonalen Steuerbehörden er-
halten Zugriff auf die AIA-Daten betref-
fendihreSteuerpflichtigen. DieDaten-
flut ist aber nicht einfach zu bewältigen.
Mehrere Kantone sagten auf Anfrage,
dass ein automatischer Abgleich der
AIA-Daten mit den kantonalen Steuer-
dossiers nicht generell möglich gewesen
sei. Die AIA-Meldungen müssten zum
Teil manuell den betreffenden Dossiers
zugewiesen werden, weshalb man sich
zunächst auf diegrossenFällekonzen-
triere. Für 20 19 liegen nochkeine Detail-
angaben vor, doch Hinweise gibt eine
Auswertung der imVorjahr erhaltenen
Daten für den Kanton Bern.Demnach
betrafen fast 80% der MeldungenKonti
mit einem Bestand von 0 bis 10 000 Fr.,
und nur3% der gemeldetenKonti ent-
hielten mindestens 10 0000 Fr.
Sozialhilfe trotz Auslandskonto
ImVorfeld der AIA-Einführung hatten
die freiwilligen Selbstanzeigen stark zu-
genommen. Dies liess vermuten, dass
die Hauptwirkung des Informations-
austauschs im Drohpotenzial liegt.Laut
diversen Kantonen ist es noch zu früh,
um abzuschätzen,wie viele zusätzliche
Schwarzgelder durch die AIA-Daten
an die Oberflächekommen. Einzelne
Kantonsvertreter liessen aber durchbli-
cken,dass man dank denDaten schon
weiteren Sündern auf die Spur gekom-
men sei und zumTeil auch Überraschen-
des festgestellt habe. So soll es Sozial-
hilfeempfänger mit undeklariertenaus-
ländischenBankkonti geben; unter Be-
rücksichtigung dieserVermögen wäre
für die Betroffenen dasAusmass der
Sozialhilfe möglicherweise infrage ge-
stellt. Ein Grundsatz des globalen AIA-
Standards besagt aber, dass die Behör-
den die erhaltenenInformationen nur
zu Steuerzwecken verwenden dürfen. Im
ähnlichen Sinn sind den Steuerbehörden
laut BeraterJaeger die Hände gebunden,
wenn sie via AIA Informationen über
Auslandskonti von Schweizer Gesell-
schaften erhalten, gegen die hierzulande
wegenKonkursdelikten ermittelt wird.
Ob sich der AIA für den Schweizer
Fiskus lohnt, ist nochunklar. Eine Ana-
lyse der Beratungsfirma KPMG hatte
diesesJahr vorgerechnet, dass die freiwil-
ligen Selbstanzeigen 20 17 und 20 18 dem
Fiskus zwar Zusatzeinnahmen über Ein-
kommenssteuern von total 45 Mio. Fr.
proJahr gebrachthätten,doch im Gegen-
zug seien dieVerrechnungssteuererträge
um 85 Mio. Fr. gesunken. Nicht berück-
sichtigt sind in dieserRechnung aller-
dings dieVermögenssteuern sowie die
Gelder, die durch die AIA-Daten nun
noch zumVorscheinkommen.
Profil fürSteuerpflichtige
Wie für die Schweizstellt sichauch für
die ausländischen Behörden dieFrage,
wiesie mit der AIA-Datenflut umgehen
sollen. GewisseLänder arbeiten laut
Hans-JoachimJaeger mit ausgeklügel-
ten Methoden.Für Schlagzeilen sorgte
vor allemGrossbritannien,das mit sei-
ner Analyse-Software Connect Angaben
aus verschiedenen Quellen von sozia-
len Netzwerken über Kreditauskunf-
teien bis zuAutofahrerdatenbanken ver-
knüpft, um ein Profil von Steuerpflichti-
gen zu erhalten, das sich mit den Steuer-
erklärungen abgleichen lässt.
Wie könntenSteuersünder den AIA
heute noch umgehen? «Das Einfachste
wäre, Geld in die USAzu bringen», sagt
BeraterJaeger: «In diversen US-Bun-
desstaaten kann manTr usts oder an-
dereFirmenstrukturen gründen und als
wirtschaftlich Berechtigteranonym blei-
ben.» Eine Alternative sind Angebote
gewisser Destinationen wieBahamas,
Bahrain, Grenada und Malta, dieWohn-
sitze oderPässe gegen lokaleInvestitio-
nen verkaufen. Der globaleLänderver-
ein OECD hat diese Destinationen und
andere mit ähnlichen Angeboten auf
eineVerdachtsliste gesetzt.
Wieviel Schwarzgeld dieDaten zutage fördern, ist nochoffen. CHRISTOPHRUCKSTUHL / NZZ
Die neue IMF-Chefin warnt vor Strapazierung der Geldpolitik
Kristalina Georgiewasorgt sich umdas schwächere Wachstumund die sinkende Bereitschaft zu internationaler Koope ration
MARTIN LANZ,WASHINGTON
Es geht Schlag auf Schlag für die frisch-
gebackene neue Geschäftsführerin des
InternationalenWährungsfonds (IMF),
Kristalina Georgiewa. Am 25. Septem-
ber ins Amt gewählt, spielt siekom-
mendeWoche zusammen mitWelt-
bankpräsidentDavidMalpass Gast-
geberin derJahresversammlung der
Bretton-Woods-Institutionen. Am
Dienstag hat sie eineVorschau auf das
Tr effen gegeben, wie das unter ihrer
Vorgängerin ChristineLagarde zurTr a-
dition geworden ist.
Der IMF stelle eine weltweite, syn-
chroneVerlangsamung desWirtschafts-
wachstums fest,sagte Georgiewa.Im
Jahr 20 19 werde dasWachstum so
schwach sein wie seit AnfangJahrzehnt
nicht mehr. DerWährungsfonds werde
nächsteWoche nach unten angepasste
Wachstumsprognosen veröffentlichen,
kündigte die 66-jährige Bulgarin an.
ImJuli war der IMF noch von 3,2% im
laufenden und von 3,5%Wachstum im
kommendenJa hr ausgegangen.
Georgiewa bezeichnete die Situa-
tion als heikel. In den Industrieländern
inklusive USA undJa pan sowie vor
allemin der Euro-Zone schwäche sich
dieWirtschaftsaktivität ab, während in
wichtigen Schwellenländern wie Indien
und Brasilien dieWachstumsverlang-
samung ausgeprägt sei. Derweilkomme
dasWachstum in China schrittweise vom
sehr hohenTempo der vorangegange-
nenJahre herunter. Als Lichtblick sieht
die IMF-Chefin rund 40 Schwellen- und
Entwicklungsländer, davon 19 in Afrika,
dieWachstumsraten von über 5% auf-
weisen. DieseLänder machen aber nur
einen geringen Anteil derWeltwirt-
schaft aus.
Zwistmit dauerhaften Folgen
Einen wichtigen Grund für die enttäu-
schende Entwicklung sieht Georgiewa
in den um sich greifendenHandels-
streitigkeiten.Das Wachstum desWelt-
handels sei so gut wie zum Stillstand ge-
kommen, stellte sie fest. Die Industrie-
aktivität und Investitionen hätten sich
spürbar abgeschwächt, und das Risiko
bestehe,dass bald auch die Dienstleis-
tungen und derKonsum in Mitleiden-
schaft gezogen würden.Wegen der star-
ken Vernetzung derVolkswirtschaften
würden bald mehrLänder die negati-
venAuswirkungen spüren,warnte die
IMF-Chefin.Selbst wenn dasWachstum
wieder anziehe imkommendenJahr, be-
stehe die Gefahr, dass die gegenwärti-
gen Gräben zu dauerhaftenVerände-
rungen führten inForm von unterbro-
chenenWertschöpfungsketten, Handels-
silos oder neuen digitalen Mauern.
Georgiewa präsentierte am Diens-
tag neue Schätzungen, wonach wegen
der Handelskonflikte bis 2020 kumu-
liertVerluste von 700Mrd.$entstehen
könnten, oder 0,8% derWeltwirtschafts-
leistung. Das entspreche der gesamten
SchweizerVolkswirtschaft, sagte sie.
Georgiewa rief vor diesem Hinter-
grund einerseits dazu auf, die schäd-
lichen Handelspraktiken anzugehen.
Das bedeute, Subventionen abzuschaf-
fen, die Eigentumsrechte besser zu
schützen und einen fairenTechnologie-
transfer zu ermöglichen. Anderseits sei
das globale Handelssystem zu moderni-
sieren, um dasPotenzial des Dienstleis-
tungshandels und elektronischen Han-
dels auszuschöpfen. Man müsse das
gegenwärtigeSystem nicht aufgeben,
sondern verbessern, forderte die frühere
Weltbank-Managerin.
FiskalpolitischerSpielraum
Nebender Zusammenarbeit in Handels-
fragen müsse jedesLand seine Hausauf-
gaben machen, sagte Georgiewa weiter.
Dazu gehöre eine angemessene Geld-
politik. Sie warnte nicht explizit vor wei-
teren geldpolitischen Lockerungsmass-
nahmen, betonte aber die schädlichen
Nebenwirkungen und unbeabsichtigten
Folgen von Zinsen, die zu lange zu nied-
rig sind, stärker, als das unterLagarde
derFall war. Der IMF beobachte eine
erhöhte Risikoneigung von Investoren
rund um dieWelt, und vielerorts wür-
den niedrige Zinsen und billige Schul-
den für Finanzoperationen statt für
echte Investitionen genutzt, kritisierte
Georgiewa. Sollte es zu einem starken
Abschwungkommen, so drohten laut
IMF rund 19 Bio.$anFirmenschulden
«faul» zu werden.
Georgiewa warnte vor der Überbean-
spruchung der Geldpolitik.Jetzt sei es
Zeit fürLänder mit haushaltspolitischem
Spielraum, diesen auszunutzen. InLän-
dern wie Deutschland, den Niederlanden
und Südkoreakönne der Staat mehr aus-
geben als bisher, um dasWachstum zu
stützen. Georgiewagingaber noch wei-
ter. Sollte sich dasWirtschaftswachstum
stärker als erwartet abschwächen, sei
vielleicht einekoordinierte haushalts-
politischeReaktion der Staatengemein-
schaft notwendig. Höhere Staatsausga-
benseien wirksamer, wenn siekonzer-
tiert erfolgten,sagte sie.
Höhere CO 2 -Pr eise notwendig
Neben diesen traditionellen IMF-The-
men hob Georgiewa in ihrer erstenRede
alsWährungsfonds-Chefin den Klima-
wandel hervor. Sie beobachte, dass just
wenn mehr internationale Zusammen-
arbeit nötig sei, die Bereitschaft dazu zu-
rückgehe. Das sei in der Handels- wie in
der Klimapolitik derFall. Der Preis von
CO 2 müsse aber weltweit steigen, denn
bei einem gegenwärtigen durchschnitt-
lichen Karbon-Preis von2$proTonne
habe niemand einen Anreiz, Anstren-
gungen zurReduktion von Emissionen
zu unternehmen. In einer demnächst er-
scheinenden Studie werde der IMF zei-
gen, dass CO 2 -Steuern sehr gute Dienste
leistenkönnten, kündigte sie an. Der
Schlüssel dabei sei, das gesamte Steuer-
system zureformieren und nicht einfach
eine neue Steuer einzuführen.
Kantonsvertreter
lassen durchblicken,
dass man dank den
Daten weiteren Sündern
auf die Spur gekommen
sei und zumTeil
auch Überraschendes
festgestellt habe.
Kristalina Georgiewa
Chefin des Internatio-
REUTERS nalenWährungsfonds