Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

26 WIRTSCHAFT Mittwoch, 9. Oktober 2019


Schwere Bürde für Margrethe Vestager

DieEU-Wettbewerbskommissarin erhält zusätzliche Kompetenzen –das wirft Fragen zur Unabhängigkeit auf


CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL


MargretheVestager ist in Brüssel ein
Star. Ihre Anhörung am Dienstag vor
dem EU-Parlament hatte Züge einer
Audienz. Bevor es losging, schüttelte sie
hinter einemroten Absperrseil Hände,
verteilteKüsschen und posierte für Sel-
fies. Mit denWorten «FrauVestager, Sie
waren ein heimlicher Star inder Juncker-
Kommission» eröffnete der deutsche
CDU-EuropaabgeordneteSven Schulze
die Fragerunde. Insgesamt warenVertre-
ter von dreiFachausschüssen vertreten,
während es 2014 lediglich einer gewe-
sen war. Das zeigt den grösseren Ein-
fluss, denVestager unter der designier-
ten Präsidentinder Kommission, Ursula
von der Leyen, erhalten soll.


Europadigi talisieren


Nach ihrer gescheiterten und aufgrund
der späten Offenlegung etwas eigen-
artigen Kandidatur für dasKommis-
sionspräsidium soll dieWettbewerbs-
kommissarin auf explizitenWunsch der
Staats- undRegierungschefs einen her-
ausragendenPosten erhalten.Von der
Leyen ist dem nachgekommen und setzt
Vestager künftig nicht nur weiterhin als
Chefin der Kartellbekämpfung ein,son-
dern macht sie auch zu einem von drei
sog enannten exekutivenVizepräsiden-
ten. Neben ihr sind diesder Niederlän-
der Frans Timmermans sowie der Lette
Valdis Dombrovskis.
Die neue Präsidentin hat sämtlichen
Kandidaten einenAufgabenkatalog zu-
gestellt, und in diesem Brief anVesta-
ger wird klar, wie viel die ehemalige
deutscheVerteidigungsministerin der
Dänin zumutet. «Europa für das digi-
tale Zeitalter rüsten» heisst ihrPortfo-
lio alsVizepräsidentin. «Eindrücklich»,
kommentierteVestager denTitel bei
der Anhörung am Dienstag. Sie soll ge-
meinsam mit Dombrovskis die Arbeit
an einer Industriestrategie und an einer
KMU-Strategie leiten, innerhalb von
hundertTagen einen europäischen An-
satz zu künstlicher Intelligenz vorlegen
sowie ein Gesetz für digitale Dienstleis-
tungen und eines für eine EU-Digital-
steuer entwickeln. Letzteres allerdings
nur, wenn sich nicht auf internationaler
Ebene bis Endedes kommendenJahres
ein Kompromiss finden lässt.
Das ist nicht nur viel, die beiden
Brocken vertragen sich eigentlich auch
nicht gut.Dazu stellten dieParlamen-
tarier die kritischsten Fragen. Man
stelle sich nur vor, sie würde auf die


Ideekommen, beispielsweise den ame-
rikanischen Suchmaschinenbetreiber
undWerbekonzern Google aus wett-
bewerbsrechtlichen Gründen zurAuf-
spaltung zu zwingen.Wie liesse sich
der Vorwurf entkräften, sie folge dabei
nicht dem Kartellrecht, sondern ver-
suche damit,deneuropäischenTechno-
logiesektor zu stärken?
Die Abgeordneten stellten dieFrage
nach derAufspaltung auch tatsächlich,
woraufVestager antwortete, es sei ihre
Pflicht, stets das mildeste noch zur Er-
reichung des Interventionsziels ausrei-
chende Instrument einzusetzen. Eine
Aufspaltung wäre das allerletzte Mittel.
DieFrage nach einemKonflikt zwi-
schen ihren künftigen Arbeitsfeldern
sei die ersteFrage gewesen, die sie
sich selbst gestellt habe, sagteVestager.
Grundsätzlich sei die derzeitige Arbeits-
weise aber vor Gericht als angemessen
beurteilt worden. Zudem würden die
Entscheideletztlich von derKommis-
sionals Gremium gefällt.Ferner gebe
es gewisseKontrollmechanismen inner-
halb ihrer Direktion. So arbeitet ein un-

abhängiger Chefökonom mit, und auch
die Rechtsabteilung ist involviert.
CSU-Europaparlamentarier Markus
Ferber wandte zuRecht ein, dass das ja
lediglich die heutige Arbeitsweiserecht-
fertige.Vestager gestand ein, dass die
Sache sorgfältig anzupacken sei.AlsVize-
präsidentin werde sie jedochkeine Ge-
setzesvorlagen selber schreiben. Diese
kämenaus derFeder ihrerKollegen.
Ihr kommen demnach mehrkoordina-
tive Arbeiten zu. Sie wiederholte zudem
mehrfach,die Unabhängigkeit bei derBe-
handlung derFälle sei nichtverhandelbar.

ProblematischeSynergien


Dennoch sieht sie erstaunlicherweise
auchSynergien zwischen den beiden
Bereichen. In einer ihrer schriftlichen
An tworten heisst es, sie wolle die in
den Kartellfällen gewonnenen Einsich-
ten und entsprechende Marktkennt-
nisse beim Entwurf vonRegeln für digi-
tale Angelegenheiten nutzen.Das klingt
zwar effizient und mag im Sinne einer
realistischenRegulierung gut gemeint

sein. Dennoch dürfte esFirmenchefs
zu Recht mulmig werden, wenn die ein-
gereichten Unterlagen in Brüssel quasi
noch im Hinblick auf neue Gesetze aus-
gewertet werden.
Die Grenze zwischen der unabhängi-
gen Kartellbehörde und dem politischen
Gremium wird nicht mehr wie bisher zwi-
schenVestager und den 27Kommissions-
kollegen sein,sondern nun in derPerson
von Vestagerselbst verlaufen. Ihre Inte-
gritätist dann wohl, abgesehen von den
Gerichten, die einzige Garantie für eine
korrekte Abgrenzung. Diese Problema-
tik scheintVestager zu unterschätzen.
Ferber teilte nach derAnhörung mit,«es
wäre peinlich, wenn künftig der Euro-
päische GerichtshofWettbewerbsent-
scheidungen der EU-Kommission kas-
sieren würde, weil sie nicht unabhängig
zustande gekommen sind».
Sonst vermochte Vestager zwar mit
Fachkenntnis und alsPerson zu über-
zeugen, blieb jedoch in vielen Antwor-
ten vage.Von der Leyen hat ihrer Star-
kommissarin viel aufgebürdet. Im Hin-
blick auf die Unabhängigkeit zu viel.

MargretheVestagermusste sichamDienstag kritischeFragen von EU-Parlamentariern anhören. STEPHANIE LECOCQ / EPA


Fiasko in den USA kostet Autoneum-Chef den Kopf


Martin Hirzel zieht die Konsequenzen aus den anhaltenden Problemen –seinNachfolger hat Erfahrungim Sanieren


GIORGIOV. MÜLLER


Das Fehlverhalten und das Unvermö-
gen der amerikanischen Geschäftsein-
heit vonAutoneum habenKonzernchef
Martin Hirzeldas Amt gekostet. Im
Einvernehmen mit demVerwaltungs-
rat verlasse Hirzel das Unternehmen
per sofort, heisst es in einer Mitteilung.
Sein Amt übernimmt Matthias Holzam-
mer, der von 2012 bisJanuar 2019 das
Europageschäft des Unternehmens er-
folg reichrestrukturiert hat und nun
nach wenigen Monaten alsTurnaround-
Manager zumWinterthurerAutomobil-
zulieferer zurückkehrt.
Bevorder 54-jährige Deutschezum
Winterthurer Hersteller vonAkustik-
undWärmekomponenten kam, hatte
er als Geschäftsführer die Produktion
beim deutschenKonkurrentenKeiper
gleitet.Kurz nachdem dieses Unterneh-
men 2011 vom amerikanischenKonzern
Johnson Controls übernommen worden
war, wechselte der diplomierteWirt-
schaftsingenieur zuAutoneum.
Der 49-jährige Schweizer Martin Hir-
zel war der ersteKonzernchef vonAuto-
neum. Unter seiner Ägide wurde das zu-
vor zum Industriekonzern Rieter ge-


hörendeAutozulieferergeschäft separiert
und als eigenständiges Unternehmen
2011 an die Börse gebracht. Der Start
verlief ruppig, denn dieAutobranche be-
fand sich damals in einer schwachenkon-
junkturellenVerfassung. Zudem war das
Unternehmen strategisch zu wenig fokus-
siert.Unter HirzelsFührung blühteAuto-
neumauf, weil derRentabilität derAuf-
träge Priorität eingeräumt wurde. Zu-
sammen mit Holzammer, der die Busi-
ness Group Europe leitete, wurde das
notorisch unrentable Europa-Geschäft
restrukturiert und aufVordermann ge-
bracht. An der Börse gehörteAutoneum
zu den Highflyern und Hirzel zu denviel-
gelobten Unternehmensführern.

DieTrennung scheint nicht im Streit
erfolgt zu sein, denn Hirzel wird wäh-
rend der Übergangsphase dem Unter-
nehmenzur Verfügung stehen.Vielmehr
dürfteder charismatische Manager,der
mit seinen unverblümtenAussagen in
der Öffentlichkeitund bei Investoren viel
Vertrauen aufgebaut hat, mit seiner De-
mission dieVerantwortung für die Pro-
bleme in den USA übernommen haben.
DerVerwaltungsrat vonAutoneum
hofft offenbar, dass Holzammer das in
Schwierigkeiten steckende Geschäft in
Nordamerika wieder in Gang setzen
kann, wie es ihm in Europa gelungen
ist. Seit Monaten kämpftAutoneum in
zwei amerikanischenFabriken mit Pro-
blemen in der Produktion.Weil es da-
bei Komponenten für hochwertigeFahr-
zeugmodelle von BMW, Daimler und
Volvo betrifft, sind die Qualitätspro-
bleme besonders gravierend. DenKun-
den mussten grosse Preiszugeständnisse
gemacht werden, und esmussten notfall-
mässigTeile aus demAusland eingeflo-
gen werden, um hoheKonventionalstra-
fen zu verhindern.
Dies alles hat dieRentabilität stark
beeinträchtigt; seit Mitte 2018 operiert
die Geschäftseinheit Nordamerika in

denroten Zahlen. Die vollautomati-
schenAnlagen sind zwar erprobt und
stehen mit Erfolg schon in China und
Europa im Einsatz.Doch offenbar feh-
len in den USA dieFachleute, die diese
Anlage bedienenkönnen. In einer eng
getakteten Industrie wie demAutomo-
bilbau sind solche Lieferverzögerungen
Gift für das Geschäft.
Für Autoneum wurden die Produk-
tionsschwierigkeiten zu einer schweren
Hypothek,die seit Monaten die gesamte
Ertragslage desKonzerns belastet.Wie-
derholt mussten die Margenziele kassiert
werden.Auch die für die zweiteJahres-
hälfte2019 in Aussicht gestellte Besse-
rung hat sich nicht eingestellt und wohl
das Fass zum Überlaufen gebracht. Die
Aktionäre mussten einen herbenWert-
verlust verkraften. Seit Anfang 2018 ist
der Aktienkurs vonAutoneum um fast
zwei Drittelgesunken. Zudem mussten
sie für 2018 eine empfindlicheKürzung
der Dividende hinnehmen. Nun ist wohl
den beiden Ankeraktionären, Michael
Pieper, der via seiner Artemis 21% der
Aktien hält, undPeter Spuhler, der via
PCS Holding17% kontrolliert, der Ge-
duldsfaden gerissen.
Weiterer Artikel Seite 29

Trendwende


bei Aryzta lässt


auf sich warten


Der Backwarenkonzern
enttäuscht mit sinkendem Umsatz

SERGIO AIOLFI


Aryzta ist noch lange nicht über den
Berg. Der irisch-schweizerischeBack-
warenkonzern, der vor zwei Jahren
nach einerReihe von Grossakquisitio-
nen und strategischenFehlentscheiden
beinahekollabiert war, hat im vergange-
nen Geschäftsjahr (per EndeJuli) unter
neuem Management zur Stabilität zu-
rückgefunden.Von einemTurnaround
ist das Unternehmen aber nach wie vor
weit entfernt; mitWachstum istnach den
Angaben des Managements erst in zwei
Jahren wieder zurechnen.

Schleppendes US-Geschäft


Den Investoren geht das wohl etwas zu
langsam,und sie dürften auch enttäuscht
darüber gewesen sein, dass dieFirmen-
führung nureinemutlose Prognose prä-
sentierte.Sie geht davonaus, dass der Be-
triebs-Cashflow (Ebitda),angesichts der
Schuldenlage eine zentraleKennzahl,
«wachsen» wird. Um wie viel, war nicht
zu erfahren. Der Aktienkurs erfuhr am
Dienstag eine kräftigeKorrektur nach
unten.Eine fehlende «Guidance» macht
die Investoren misstrauisch.
Hauptverantwortlich für den nach
wie vor schleppenden Gang der Dinge
ist das Geschäft in den USA. Hier ist es
zwar gelungen,die Ebitda-Marge zu stei-
gern (von 6,1 auf7, 0%).Der Umsatz ging
jedoch um 3,8% zurück, da zwei Gross-
kunden ihreAufträge annulliert und/
oder geändert hatten.EinerascheReme-
dur ist in Nordamerika nicht zu erwar-
ten; die Aryzta-Führungrechnet für das
erste Semester des neuen Geschäftsjahrs
erneut mit einer negativen Erlösentwick-
lung, erst im zweiten Halbjahr besteht
Hoffnung auf eine Besserung.
Genau spiegelverkehrt zu den USA
war die Entwicklung in Europa, wo
etwas mehr als die Hälfte desKonzern-
umsatzes erzielt wird; die Ebitda-Marge
ging hier leicht zurück (von 10,1 auf
9,8%), während der Erlös eine organi-
scheAusweitung um 1,9%erfuhr; Letz-
teres ist umso bemerkenswerter, als in
Deutschland ein grösserer Detailhänd-
ler-Kunde verloren ging, der beschlos-
sen hatte, Backwaren selber herzustel-
len,statt sie bei Aryzta zu kaufen.

Schuldenberg abgebaut


Auch die Schuldenlage, vor zweiJahren
noch die akuteste aller Sorgen, hat an
Brisanz verloren. Die vorJahresfrist mit
knapper Not durchgeführte Kapitalerhö-
hung hat dazu beigetragen, die Nettover-
bindlichkeiten zu halbieren. Bei der Ent-
schuldung geholfen haben ausserdem
dieEinnahmen aus demVerkauf von
Vermögensteilen, die nicht zumKern-
geschäft von Aryzta zählten. Die jüngste
Veräusserung wurde vergangeneWoche
bekanntgegeben und betraf eine Betei-
ligung an Picard, einen Hersteller tief-
gekühlter Nahrungsmittel und Betreiber
einerLadenkette–etwas,das für Aryzta
offensichtlich nicht zumKerngeschäft
gehört. DerErlösaus demVerkauf belief
sich auf156 Mio.€, weniger als ein Drit-
tel dessen, was beim Kauf 2015 gezahlt
worden war. Dies ist ein weiteres Indiz
für das Ausmassan Vermögenswert-Ver-
nichtung, die sich das frühere Manage-
ment hat zuschuldenkommen lassen.

Aryzta in Zahlen
Geldwerte in Mio. € (IFRS)
August bis Juli 2017/18 2018/19 ±%
Umsatz 3435 3383 –1,5
Betriebsergebnis (Ebit) –423 5 –
Ebit-Marge (%) –12,3 0,0 –
Betriebs-Cashflow (Ebitda) 302 308 2.0
Ebitda-Marge (%)8,8 9,1 –
Konzernergebnis –470 –29 –
Eigenkapitalquote (%) 35,3 52,1 –
Nettoschulden 1510 733 –51,5
Angaben pro Aktie
Nettoergebnis (Cent) –121 –8.3 –
Ausschüttung (Fr.) 00–
Börsenkapitalisierung (Fr.) 1259 821 –34,8
Höchst-/Tiefstkurse (Fr.) 8.40/2.97 3.02/0.83 –

KEYSTONE, PD
Matthias
Holzammer
Neuer CEO

Martin Hirzel
Zurückgetretener
CEOvon Autoneum
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