Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

SEITE 4·MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Zehntausende Franzosen sind am Sonn-
tag in der Hauptstadt gegen eine geplan-
te Reform des Gesetzes zur künstlichen
Befruchtung auf die Straße gegangen.
Der „Marsch für die Kinder“ („Marchons-
Enfants“) richtet sich gegen das Gesetzes-
vorhaben der Regierung, die künstliche
Befruchtung für alle, auch alleinstehende
Frauen und lesbische Paare einzuführen.
Männer würden auf diese Weise zu Sa-
menspendern degradiert, befürchtet Lu-
dovine de la Rochère von der „Demo für
alle“, die zu den Organisatoren des Pro-
testmarsches zählt. Die Organisatoren
stammen aus dem katholischen Ver-
bandsmilieu und haben bereits bei den
Protesten gegen die Einführung der
Homo-Ehe neuen Zulauf erhalten. Sie

sei gegen eine Gesellschaft, in der für
Kinder von vornherein kein Vater vorge-
sehen sei, sagte de la Rochère.
Vom Senat bis zum Platz des 18. Juni
nahe dem Bahnhof Montparnasse zogen
die Demonstranten und schwenkten da-
bei Fahnen, auf denen „Freiheit, Gleich-
heit, Vaterschaft“ zu lesen war. Laut einer
unabhängigen Schätzung im Auftrag meh-
rerer Medien beteiligten sich rund 75 000
Menschen an dem Marsch; die Organisato-
ren sprachen von deutlich mehr Teilneh-
mern. Die Regierung hatte gehofft, dass
es sechs Jahre nach den großen Protest-
kundgebungen gegen die Homo-Ehe
nicht gelingen würde, die Bürger von neu-
em zu mobilisieren. Aber ein in letzter Mi-
nute in der Nationalversammlung einge-

führter Änderungsantrag hat die Gegner
der „künstlichen Befruchtung für alle“ auf-
gebracht. Obwohl die Regierung wieder-
holt versichert hat, dass Leihmütter in
Frankreich verboten bleiben, sieht der Än-
derungsantrag vor, die Hürden für auslän-
dische Leihmütter abzubauen.
So ist vorgesehen, dass im Ausland von
Leihmüttern ausgetragene Kinder franzö-
sischer Samenspender automatisch stan-
desamtlich als Franzosen registriert wer-
den können. Bislang war dies nur nach ei-
ner genauen Einzelfallprüfung möglich,
die sich oftmals über Jahre hinzog. Die
Gegner der Gesetzesnovelle fühlten sich
dadurch in ihrem Verdacht bestärkt, dass
die Macron-Regierung die traditionellen
Definitionen von Vaterschaft und Mutter-
schaft zerstören wolle. (mic.)

Proteste gegen „künstliche Befruchtung für alle“


Frankfurter Zeitung
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„Freiheit, Gleichheit, Vaterschaft“: Gegner der Gesetzesreform am Sonntag in Paris Foto AFP

Frau Schulze, Herr Hartmann, haben
Sie manchmal Angst, dass Markus Sö-
der Ihnen auch noch die letzten grünen
Themen wegnimmt?


Schulze:Die Klimakrise ist die gro-
ße Herausforderung der Menschheitsge-
schichte. Deshalb brauchen wir alle, die
da in irgendeiner Form mitmachen. Ich
finde es ja gut, dass er wenigstens verbal
aufgeschlossen ist. Jetzt muss daraus
auch wirksame Politik werden.


Hat er nicht schon viel angestoßen?


Schulze:Im Klimapaket gibt es ein
paar gute Ansätze. Etwa die Senkung der
Mehrwertsteuer für die Bahn. Aber es ist
typisch Groko und eben auch typisch Sö-
der: Er macht einen kleinen Schritt, geht
aber nicht weit genug. Wo ist zum Bei-
spiel die Kerosinsteuer? Wenn wir wirk-
lich wollen, dass weniger geflogen wird,
müssen wir da auch ran. Wir haben ein
Zehn-Punkte-Programm für den Klima-
schutz in Bayern vor Ort präsentiert, wo
Söder ja regiert. Dem kann er gerne zu-
stimmen für wirksamen Klimaschutz.


Er muss auf Vorbehalte in der eigenen
Partei und in der Bevölkerung Rücksicht
nehmen...


Hartmann:Die Menschen in Bay-
ern sind deutlich weiter, als die CSU
glaubt. Man hat es doch beim Runden
Tisch zum Bienen-Volksbegehren gese-
hen. Da war Söder wieder mal der Ge-
triebene der Bürger. Wenn es um Klima-
und Umweltschutz geht, ist die CSU nie
bereit, irgendjemandem Einschränkun-
gen abzuverlangen. Söder verkauft ein
Klimapaket als den größten Wurf, sagt
dann aber gleich, dass sich für keinen et-
was ändern wird. Das kann nicht funktio-
nieren.


Ist das nicht der nachhaltigere Weg, die
Leute nicht zu überfordern?


Hartmann:Wir haben ein Momen-
tum wie noch nie, weltweit gehen die
Menschen auf die Straße, selbst die Wirt-


schaftsteile der Zeitungen sind voll von
Umweltthemen. Wenn die CSU noch
nicht mal in so einem Moment bereit ist,
mit Ordnungsrecht wie einem angemesse-
nen, effektiven CO 2 -Preis auch einmal
lenkend einzugreifen, dann ist das Verrat
an unseren Kindern und Enkelkindern.
Bei jeder großen Transformation gibt es
Gewinner und Verlierer. Man muss die
Verlierer mitnehmen. Aber man darf ih-
nen nicht erzählen: Es bleibt alles, wie es
ist. Da fehlen mir Zuversicht und Ehrlich-
keit. Bayern ist doch bisher aus jedem Ver-
änderungsprozess gestärkt hervorgegan-
gen. Vom Agrarland zum High-Tech-
Land – das war ein gewaltiger Umbruch.
Die Frage ist doch nicht, ob das saubere
Auto der Zukunft gebaut wird, sondern
wo. Und das soll in Bayern sein!

Gerade im ländlichen Raum gibt es Be-
fürchtungen, dass es die Staatsregierung
mit dem Klimaschutz übertreibt.
Hartmann:Der Grund für den Unmut
im ländlichen Raum ist doch ein anderer:
Söder hat erst den Rechtsaußen-Hardli-
ner gegeben, dann hat er plötzlich den Kli-
maschutz für sich entdeckt und seine Poli-
tik zumindest verbal radikal verändert.
Gleichzeitig erzählen Leute wie sein Frak-
tionsvorsitzender Thomas Kreuzer den
Menschen vor Ort etwas ganz anderes. Sö-
ders Glaubwürdigkeit liegt in Trümmern.

Die Grünen-Bundestagsabgeordneten
fliegen laut Statistik mehr als alle ande-
ren. Sie, Frau Schulze, wurden für Ihre
Ferien in San Diego heftig kritisiert.
Sind Sie nicht selbst in der Glaubwürdig-
keitsfalle?
Schulze:Der Vorwurf, dass die Grü-
nen-Abgeordneten mehr fliegen, zielt da-
neben. Wir sind die kleinste Fraktion im
Bundestag. Wenn es Delegationsreisen
gibt und jede Fraktion vertreten sein soll,
dann fliegt der Einzelne bei uns im Durch-
schnitt eben zwangsläufig mehr. Ich war
übrigens gerade erst wieder in Amerika:
bei der UN-Klimakonferenz und für eine

Konferenz an der University of Pitts-
burgh. Ich bin überzeugt, dass wir in einer
globalisierten Welt das Miteinander pfle-
gen müssen, gerade auch die deutsch-ame-
rikanische Freundschaft. Genauso wich-
tig ist mir, dass Politik Rahmenbedingun-
gen setzt, damit nachhaltigeres Leben,
auch nachhaltigeres Reisen möglich ist.

Indem Sie die Verantwortung an die Poli-
tik delegieren, tun Sie doch auch so, als
könne der Einzelne ungeschoren davon-
kommen.
Hartmann:Politik und individuelles
Verhalten – beides ist wichtig und geht
Hand in Hand. Es bringt nichts, sich gegen-
seitig Vorwürfe zu machen. Der eine fährt
weniger Auto, und der andere, der auf sein
Auto angewiesen ist, kann in seinem Haus
vielleicht eine Pellet-Heizung einbauen.
Alle können ihren Beitrag leisten.

Denken Sie manchmal: Schade, dass wir
nicht in China leben? Dort könnte man
den Klimaschutz einfach befehlen...

Schulze:Nein, definitiv nicht.

Aber wenn die Menschheit sich zugrun-
de richtet, hilft doch auch die Demokra-
tie nichts mehr.
Schulze:Die Demokratie ist für uns
Grüne unantastbar. Wir kommen ja als
Partei nicht nur aus dem Umwelt- und Kli-
maschutz, sondern auch aus der Bürger-
rechtsbewegung.
Hartmann: Das beste Beispiel ist
doch das Volksbegehren: Da haben wir
durch den Druck der Straße viel mehr Ar-
ten- und Naturschutz bekommen, als die
Regierung wollte. Demokratie bedeutet
auch Wettbewerb der Ideen. Genau den
brauchen wir beim Klimaschutz.

Auch Markus Söder spricht, wenn es um
Klimaschutz geht, von den technischen
Möglichkeiten von morgen und sagt, die
Grünen seien im Heute gefangen.
Hartmann:Söder spricht viel von syn-
thetischen Kraftstoffen. Power-to-X heißt

das heute, wenn aus Strom Wasserstoff
oder Gas erzeugt wird. Ich war jetzt gera-
de erst bei MAN – die sagen, es ist schon
vieles möglich, aber man muss es jetzt end-
lich mal draußen ausprobieren, nicht nur
im Labor. Bei vielen Produkten kommt
der richtige Schub erst, wenn sie einmal
auf dem Markt sind. Das muss vom Staat
massiv unterstützt werden. Dazu fehlt Sö-
der der Mut. Und noch ein Punkt: Die
Grundlage neuer Kraftstoffe ist erneuerba-
rer, sauberer Strom. All die neuen Techni-
ken machen nur dann Sinn, wenn wir aus-
reichend sauberen Strom haben. Aber da
tritt Söder schon wieder gewaltig auf die
Bremse, Stichwort Windkraft.

Wie sehr schmerzt es Sie, dass sich die
CSU im vergangenen Jahr gegen Sie
und für die Freien Wähler als Koalitions-
partner entschieden hat?
Schulze:Wir sind damals mit kla-
ren Themen angetreten und haben ge-
sagt, wir sind bereit, Verantwortung zu
übernehmen. So oft, wie Markus Söder
die Sondierungen erwähnt, glaube ich
fast, dass er schon ein Trauma vom Regie-
ren mit den Freien Wählern hat.
Hartmann:Ich finde es schon im-
mer noch schade, dass sich die CSU einen
progressiven Partner nicht zugetraut hat.
Wir hätten damals das Beste aus beiden
Welten zusammenführen können. Davon
bin ich immer noch felsenfest überzeugt.

In der CSU erzählt man, Sie seien mit
Maximalforderungen aufmarschiert –
Kreuze runter und neues Polizeigesetz
weg –, so dass es gar keine Basis für Ge-
spräche gegeben habe.
Hartmann:Unsinn. Wir haben mit
drei klassischen Ökothemen angefangen:
Windkraft, Flächenfraß, Landwirtschaft.
Und Söder hat bei allen drei Themen
gleich gesagt: Die 10-H-Regel bei der
Windkraft bleibt bestehen, der Flächen-
verbrauch muss freiwillig geregelt werden
und beim Artenschutz wird auch nichts
gemacht. Ich erinnere mich, dass da sogar

Horst Seehofer eingeworfen hat, über den
Artenschutz solle man vielleicht mal re-
den. Ich bin mir sicher, dass Söder von
der ersten Minute an ein Ziel hatte: dass
es bloß nichts mit uns werden darf. Denn
überall, wo Grüne mitregieren und bewei-
sen, dass sie vernünftige Politik machen,
werden sie stärker. Den Nachweis wollte
er uns in Bayern nicht antreten lassen,
dass wir tatsächlich auch gute Regierungs-
arbeit machen.

Ein Blick ins Nachbarland: Kretsch-
mann scheint Söder ganz gut zu finden,
umgekehrt auch. Wie finden Sie das?
Hartmann:Dass sich zwei Minister-
präsidenten gut verstehen, ist erst mal
nicht schlecht. Aber Söder muss es natür-
lich wieder übertreiben. Wie stolz er ge-
sagt hat, sie würden sich duzen! Viele du-
zen sich. Ich mich mit beiden. Trotzdem
halte ich nichts von Söders Politik.
Kretschmann ist verlässlich, glaubwürdig
und hat einen klaren politischen Fahr-
plan. Das alles hat Söder nicht, und des-
halb stalkt er Kretschmann. Er hofft, von
dessen gutem Image zu profitieren.

Der CSU-Vize Manfred Weber hat
jüngst Schwarz-Grün als Modell der Zu-
kunft gepriesen.
Schulze: Ich fand es interessant,
wie die Reflexe in der CSU funktionieren,
weil er gleich eins auf den Deckel bekom-
men hat. Aber das müssen die mit sich
ausmachen. Für uns gilt, was immer gegol-
ten hat: Wir arbeiten daran, möglichst
stark zu werden und dann anhand von In-
halten dieses wunderbare Land zu gestal-
ten. Aber ein Schritt nach dem anderen.
Hartmann:Man sieht daran schön
den Unterschied zwischen Söder und We-
ber: Der eine ist Taktiker, der andere Stra-
tege. Weber scheint erkannt zu haben,
dass die Grünen die nach vorn denkende
Kraft sind und gleichzeitig in der Lage, in
stabilen Regierungen die Herausforderun-
gen der Zukunft zu lösen.
Die Fragen stelltenTimo FraschundAlexander Ha-
neke.

ImGespräch: Ludwig Hartmann und Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag


bub.BERLIN,6. Oktober.Die Grünen
können im kommenden Jahr mit zusätz-
lichen fünf Millionen Euro aus der
staatlichen Parteienfinanzierung rech-
nen. Die Zuwendungen würden von
19,9 Millionen auf 24,6 Millionen Euro
steigen, berichtete die „Welt am Sonn-
tag“. Grund für die verbesserten Partei-
finanzen sind zum einen die Stimmen-
gewinne bei den Landtagswahlen und
den Europawahlen. Nach dem Parteien-
gesetz gibt es für die ersten vier Millio-
nen Stimmen einen Euro aus der Staats-
kasse, für jede weitere Stimme 0,
Euro. Maßgeblich sind die Listenstim-
menzahlen bei den jeweils letzten Bun-
destags-, Landtags- und Europawahlen
(insgesamt 18 Wahlen).
Durch eine höhere Anzahl an grü-
nen Mandatsträgern ist auch die Ge-
samtsumme der Mandatsbeiträge ge-
stiegen. Darüber hinaus profitieren die
Grünen auch finanziell von der gestie-
genen Mitgliederzahl. Anfang Septem-
ber zählten die Grünen erstmals 90 000
Mitglieder, 10 000 sind allein im ersten
Halbjahr dieses Jahres eingetreten.
Dazu kommen noch Spenden. Die öf-
fentliche Hand zahlt zudem für jeden
Euro, den eine Partei als Mandatsbei-
trag, Mitgliedsbeitrag oder rechtmäßi-
ge Spende bis 3300 Euro im vorange-
gangenen Jahr erhalten hat, 45 Cent
hinzu. Bundesgeschäftsführer Michael
Kellner sagte der „Welt am Sonntag“,
dass der Wahlkampfetat der Grünen in
der Vergangenheit nur ein Drittel von
dem der SPD und Union betragen
habe. Er hoffe, dass er zumindest auf
die Hälfte anwachsen werde.
Auch die AfD hat in diesemJahr vie-
le Stimmen hinzugewonnen, allerdings
wird sich das für sie wohl nicht auszah-
len. Die staatliche Finanzierung darf
die eigenen Einnahmen der Partei im
Vorjahr, die im Rechenschaftsbericht
festgelegt sind, nicht übersteigen. Nach
Informationen der „Welt am Sonntag“
liegen die Einnahmen der AfD unter
dem errechneten staatlichen Zuschuss.
Die absolute Obergrenze für die staatli-
che Parteienfinanzierung insgesamt be-
trägt 190 Millionen Euro – wogegen
aber Verfassungsklagen anhängig sind.

KALKAR,6. Oktober. Parteitage der
nordrhein-westfälischen AfD waren bis-
her regelmäßig quälend lange Veranstal-
tungen. Erst bekommen sich die Dele-
gierten über Regularien in die Haare,
dann werden stundenlang heftige Rich-
tungsdebatten geführt – häufig mit wüs-
ten Beschimpfungen. Erst im Juli ver-
sank der Warburger Parteitag im Chaos,
mit dem der größte Landesverband der
AfD nach unerbittlichen Machtkämpfen
im Vorstand eigentlich einen personel-
len Neustart organisieren wollte. Umso
straffer ist die Regie am Samstag im
„Wunderland“, einem Vergnügungspark
in Kalkar am Niederrhein. Die Redezeit
ist strikt beschränkt, weshalb sich die
Anhänger der beiden großen Lager – die
sogenannten Gemäßigten und die Sym-
pathisanten der rechtsnationalistischen
Sammelbewegung „Der Flügel“ – ledig-
lich in Kurzattacken bekriegen können.
Nach etwas mehr als zwei Stunden kann
dann tatsächlich ein neuer Landesspre-
cher gewählt werden, wie die AfD ihre
Vorsitzenden nennt.
Es ist der Oberst a. D. Rüdiger Lucas-
sen. Der AfD-Bundestagsabgeordnete
erhält 59,55 Prozent der Stimmen. Sein
Gegenkandidat, der bisherige Ko-Vorsit-
zende Thomas Röckemann, der engen
Kontakt zum „Flügel“ um den Thürin-
ger AfD-Landeschef Björn Höcke hält,
kommt auf 39,89 Prozent. Zuvor haben
die Delegierten das System der Doppel-
spitze abgeschafft, es gilt als eine der Ur-
sachen für die chronischen Konflikte im
größten Landesverband der AfD. Nord-
rhein-Westfalen sei der „Schlüssel zu ei-
ner neuen Deutschland-Politik“, sagt
der 68 Jahre alte Lucassen. „Die brau-
chen wir, um unser Land zurückzuho-
len.“ Auch die Ko-Vorsitzende der AfD-
Bundestagsfraktion Alice Weidel ist ins
„Wunderland“ gekommen, um eindring-
lich für einen Neustart zu werben. „Ihr
habt eine große Verantwortung, weckt
diesen so wichtigen Landesverband,
weckt den schlafenden Riesen“, ruft
Weidel den Delegierten zu. Es sei not-
wendig, einen „Schnitt zu setzen“ und
zusammenzufinden.
Doch es ist fraglich, ob die nord-
rhein-westfälische AfD ihre heftigen in-


haltlichen und personellen Konflikte
durch den Parteitag in Kalkar überwun-
den hat. Nur oberflächlich betrachtet
hat sich mit der Wahl Lucassens ein
vergleichsweise gemäßigtes Lager
durchgesetzt. Der schon lange schwä-
rende Machtkampf zwischen verbal ge-
mäßigten Kräften und Anhängern des
„Flügels“ hatte auf dem Parteitag im
Juli in Warburg einen neuen Höhe-
punkt erreicht.
Nach einem erbitterten Führungs-
streit war der als gemäßigt geltende Ko-
Vorsitzende Helmut Seifen mit einem
Großteil des zwölfköpfigen Landesvor-
standes zurückgetreten. Der Ko-Vorsit-
zende Röckemann hatte es – wie zwei
weitere Vorstandsmitglieder – abge-
lehnt, zurückzutreten. Seifen hatte den
„Flügel“-Anhängern vorgeworfen, meh-
rere Landesverbände der AfD zu unter-
wandern und zu spalten. Deshalb sei der
Bestand der Partei „in großer Gefahr“.
Der „Flügel“ wird vom Bundesamt für
Verfassungsschutz als sogenannter Ver-
dachtsfall geführt, weil die Behörde
„stark verdichtete Anhaltspunkte“ dafür
sieht, dass es sich bei der Sammelbewe-
gung um „eine extremistische Bestre-
bung handelt“.
In Kalkar wird Röckemann während
seiner mit Ausfällen gespickten Rede
zwar von einem Teil der Delegierten im-
mer wieder ausgebuht. Die rund 40 Pro-
zent, die der Landtagsabgeordnete dann
aber trotzdem bekommt, machen deut-
lich, welches Potential der rechtsnationa-
le „Flügel“ auch in der nordrhein-westfä-
lischen AfD mittlerweile haben dürfte.
Auffällig ist, dass der neue Vorsitzende
Lucassen – anders als im Juli Seifen in
Warburg – am Samstag ausgesprochen
freundlich mit dem „Flügel“ umgeht. Er
werde „alle innerhalb unseres Landesver-
bandes berechtigten Strömungen ge-
meinsam vertreten“, verspricht Lucas-
sen. Der „sogenannte Flügel und seine
politische Positionierung“ sei nicht das
Problem, fügt er an, um sich dann ledig-
lich taktisch, nicht aber inhaltlich vom
„Flügel“ abzugrenzen: „Eine Auseinan-
dersetzung mit dieser Strömung inner-
halb unserer Partei ist nicht nur notwen-
dig, sondern auch sinnvoll.“

„Söders Glaubwürdigkeit liegt in Trümmern“


Fünf Millionen


Euro mehr für


die Grünen


Im Wunderland ist nur


noch Zeit für Kurzattacken


Lucassen neuer AfD-Landeschef / Von Reiner Burger


Grünes Doppel:Ludwig Hartmann und Katharina Schulze Foto Jan Roeder

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