Mittwoch, 2. Oktober 2019 UNTERNEHMENSPRAXIS27
Was bei innovativen Proj ekten alles schiefgeh en kann
Drei Schweizer Industriefirmen mussten schmerzhaft erfahr en, wie kostspielig und langwierig sich di e Umsetzung
revolutionärer Entwicklungen gestalten kann. Ni cht für alle diese Unternehmenkam es a m Ende gut heraus.
Die Beispiele zeigen,dass zu grosser Optimismus und Selbstüberschätzung in einDebakel führ en können.
Revolutionäre Erfindungen kosten viel Lehrgeld
Der Leidensweg der drei Schweizer Industriefirmen Vetropack, Comet und Meyer Burger mit ihren bahnbrechenden Projekten
GIORGIOV. MÜLLER
Es war das Steckenpferd von Claude
Cornaz, demPatron des BülacherVer-
packungsglasherstellers Vetropack,
und es drohte zu einemRunning Gag
zu werden: Hartglas. Bei der Flamatter
Industriefirma Comet sodann war es die
Ebeam-Technologie für die Sterili-
sierung von Nahrungsmitteln und bei
Meyer Burger Heterojunction, ein effi-
zienteresVerfahren zur Herstellung von
Solarzellen.Allen dreiTechnologien
war eines gemein: Sie boten ein riesi-
ges Potenzial, mussten aber wegen ihrer
Radikalität hohe Hürden überwinden
und wiederholtRückschläge einstecken.
Knappvor dem Durchbruch
Thermisch gehärtetes Glas gibt es im
Bereich Sicherheitsglas schon seitJahr-
zehnten. Die patentgeschützteTechno-
logie wurde von Emhart Glass, einer
Tochtergesellschaft von Bucher Indus-
tri es, entwickelt. Um sie auch bei Ge-
tränkeflaschen einzusetzen, brauchte
man für die Industrialisierung einen
Partner. Die Vor- und Nachteile seien
kritisch diskutiert worden, bevorVetro-
pack vor knapp zehnJahren zugesagt
habe, erinnert sichJohannReiter, der
heutige Konzernchef vonVetropack
(siehe Detail«VIP Glass»).
Die Erwartungen an die «revolutio-
näre» Glasflasche, die einst sogar die
in Verruf geratene PET-Flasche erset-
zen sollte, waren von Beginn weg sehr
hoch. Ende 2012 werde im österreichi-
schenWerk Pöchlarn eine Pilotanlage
zur thermischenHärtung installiert und
anschliessend mitder industriellen Pro-
duktion gestartet. So stand esim Ge-
schäftsbericht 2011 des Unternehmens.
Ein Jahr später wurde dieAufnahme der
Produktion aufFrühling 2013 verscho-
ben. Jahr fürJahr wurde die Marktein-
führung inAussicht gestellt. InTat und
Wahrheit dauerte es bisFrühling 2019.
In der Zwischenzeit wurde der Name
Hartglas fallengelassen; nun heisst das
Projekt vollmundig VIP Glass (Vetro-
pack ImprovedPerformance Glass).
Ritter, der das Hartglasprojekt von
Beginn an eng begleitet hatte, gibt sich
selbstkritisch. Die Prozesse und Aggre-
gate seien nicht ausreichendgut getes-
tet worden, sagt er im Gespräch.Auf-
grund einzelner positiver Indikatoren
hätten sie jeweils gemeint, im darauf-
folgendenJahr mit der Produktion be-
ginnen zukönnen. «Das waren unrealis-
tische Erwartungen.» Umso mehr freut
er sich nun, dass es geklappt hat.Laut
Angaben sind für dieMohrenbrauerei
schon 3,5 Mio. Flaschen gefertigt wor-
den. Das Produkt laufe gut,und mit der
Entwicklung sei er sehr zufrieden. VIP
ist fürVetropack vonstrategischer Be-
deutung, und man erwartetkontinuier-
lich steigende Umsätze.
Noch ist die Härtungsanlage von
Vetropack indes nicht ausgelastet. Im
kommendenJahr sollen zwei, drei neue
Artikel hinzukommen, wobei Bierfla-
schen nicht im Mittelpunktstünden.
Weil dasVerfahren teuer sei – laut Rit-
ter belaufen sich die Zusatzkosten auf
20 bis 40% –, habe man hochwertige
Boutique-Produkte wie Milchflaschen
im Visier,bei denen die bessereOptik
einenVorteil darstelle.
ZuwenigDurchhaltevermögen
Zu keinem guten Ende kam eine poten-
ziell bahnbrechendeTechnologie bei
Comet (siehe Detail «Ebeam»).Die
Lorbeeren von Ebeam ernten nun an-
dere. Geg enwärtig würden «verschie-
dene Alternativen» fürdas Ebeam-
Geschäft geprüft, lässt das Unterneh-
men verlauten. Um die Risiken zu be-
schränken undVerluste zu stoppen, sei
das Unternehmen zum Schluss gekom-
men, dass es für dieWeiterführung von
EbeamPartnerschaften brauche. Bei
den beiden GrosskonzernenTetra Pak
und Bühler sowie bei der ZürcherGe-
treidehandelsfirma Kündig als Erst-
anwender lebt dieTechnologie weiter.
Als dasVerfahren zur Sterilisierung
mit Röntgenstrahlen vor einemJahr-
zehnt lanciert wurde,tönte es noch viel-
versprechend. «In zehnJahren wird
dieseTechnik der Hauptpfeiler unseres
Unternehmens sein», prophezeite vor
sechsJahren der damaligeKonzernchef
Ronald Fehlmann.Comet müsse sich für
die Serienfertigung vorbereiten, in Zu-
kunft müssten«Tausende von Emittern»
hergestelltwerden.Im vergangenenJahr
erzielte das Unternehmen, das insge-
samt 436 Mio. Fr. umsetzte, damit Ein-
nahmen von 20 (i.V. 29,5) Mio. Fr. und
erlitt einenVerlust in ähnlicher Höhe.
DemEbeam-Debakel istmittlerweile
auch derKonzernchefRené Lenggen-
hager zum Opfer gefallen. MitteJahr,
nach kaum zweiJahren, musste er das
Unternehmen verlassen. Der Bereichs-
leiter Charles Flükiger legte nach 37
Jahren Betriebszugehörigkeit schon
Ende 2017 sein Mandat nieder. «Comet
hat grosseFortschritte in der Entwick-
lung erzielt, doch dieKommerzialisie-
rung ist anspruchsvoll,kostenintensiv
und dauert länger als geplant», heisst
es in einer schriftlichen Stellungnahme.
Mündlich will sich bei Comet niemand
mehr dazu äussern.
Kundenwarennichtbereit
Für Meyer Burger hätte es sogar noch
schlimmerkommenkönnen. An sei-
ner Heterojunction-Technologie ist das
Unternehmen fast zugrunde gegangen
(siehe Detail «Heterojunction»). Mit
dem taiwanischen Unternehmen REC
haben dieThuner endlich einenkom-
merziellenPartner für HJT gefunden.
Eigentlich hätte es vor zweiJahren so
weit sein sollen. «In meinem Büro steht
noch heute einFoto, auf dem ich dem
Präsidenten eines grossen chinesischen
Herstellers zumVertragsabschluss die
Hand schüttle», erzählt Hans Brändle,
der Konzernchef von Meyer Burger. Er
sei sehr enttäuscht gewesen,als nur zwei
Wochen später der Deal geplatzt sei,
weil sich dieForschungsabteilung des
Kunden gegen HJT gestellt habe.
In dieser Phase setzte die Branche
auf Perc, ein evolutionäres und deshalb
günstigeresVerfahren,das lediglich eine
Anpassung bestehenderFertigungsanla-
gen bedingt.Laut Brändle ist die Photo-
voltaikbranche extrem risikoavers, «oft
ist der Erste, der eine neueTechnologie
eingeführt hat, vom Marktverschwun-
den», sagt er. Für einen Solarzellenher-
steller, der substanziell auf HJT setze,
gebe eskein Zurück mehr.
Doch nun sei derDurchbruch ge-
lungen, und die Erleichterung sei gross,
meint der Chef des Unternehmens, das
seit JahrenVerluste schreibt. Es sei
eben sehr schwer vorauszusagen, wann
bei einer neuenTechnologie der Kipp-
punkt erreicht sei.«In derRegel ist man
zu optimistisch.» In dieser Einschätzung
dürftensich alle drei porträtiertenFir-
men einig sein.
DasNeuenburgerCentre suisse d’électronique et de microtechnique forschte mit an der Heterojunction-Technologie. J.-C. BOTT/KEYSTONE
Ebeam –Elektronenstatt Chemie
gvm.· Zwecks Sterilisierung von Ge-
tränkekartons wird seit langem erhitztes
Wasserstoffperoxid eingesetzt.Das tötet
an der Oberfläche die Mikroorganismen.
Das starke und wirksame Oxidationsmit-
tel, das auch beim Bleichen von Zähnen
und Haaren sowie derWundbehand-
lung verwendet wird, zerfällt zwar rück-
standslos zuWasser und Sauerstoff. Doch
in hohen Dosen undKonzentrationen ist
es nicht ungefährlich. Und die bei die-
semVerfahren nötigeTrocknung der Ge-
binde verlangsamt den Produktionspro-
zess.DeshalbwarendieGetränkeherstel-
ler seit Jahren auf der Suche nach einer
besserenAlternative. In einem unter der
Bezeichnung Ebeam laufendenVerfah-
renwerden stattChemie schwacheRönt-
genstrahlen zur Sterilisierung eingesetzt.
In derLaborautomationkennt man diese
Technologie schon seitJahrzehnten.
Kernstück sinddie Niederenergie-
Elektronenemitter von Comet. Der Fla-
wiler Spezialist für industrielleRöntgen-
technologie und Hersteller vonVakuum-
kondensatoren gewann vor zehnJahren
für seineWeiterentwicklung denSwiss
TechnologyAward. Als ersterkommer-
ziellerPartner wurde 2005Tetra Pak, der
führende Hersteller von Getränkever-
packungen,gewonnen.ErsteTests waren
erfolgreich. Gegenüber herkömmlichen
Sterilisiationsverfahren konnten mit
Ebeam Betriebskosten gesenkt und Pro-
duktionskapazitäten erhöht werden.
Der Startschuss zumkommerziellen
Einsatz gabenTetra Pak und Comet an
der Branchenmesse AnugaFood Tec im
Frühling 2012. Es dauerte nochmals drei
Jahre, bisTetra Pak ihre erste mit Ebeam-
Technologie ausgerüstete Abfüllanlage
lancierte. ZweiJahrespäterkonnte den
Käufern mit der Spitzenanlage (Tetra
PakE3/Speed)eineKapazitätvon40 000
Gebinden proStunde versprochen wer-
den, ohneEbeamwaren es 24000 gewe-
sen. Zudem verbrauchten sie einen Drit-
tel weniger Strom, was die Betriebskos-
ten um einenFünftelreduziere, heisst es.
Im Jahr 2015 ging Comet mit dem Uzwi-
ler Hersteller von Müllereianlagen, Büh-
ler,eine Partnerschaft ein.Unter der Be-
zeichnungLaatu werden trockene Nah-
rungsmittel wie Gewürze,Teigwaren,
Nüsse und Saatgut unter der Zuhilfe-
nahme von niedrigwelligen Elektronen
von Salmonellen, E.Coli-Bakterien und
Sporen befreit.
Heterojunction– Solarzellen kombiniert
gvm.· Die Heterojunction-Technolo-
gie (HJT) verbindet dieVorteile kris-
talliner Silizium-Solarzellen mit denen
von Dünnschicht-Technologien. Kristal-
line Zellenkönnen mehr Sonnenlicht in
Strom umwandeln, während Dünn-
schichtzellen bei diffusen Lichtverhält-
nissen sowie bei hoher Luftverschmut-
zung leistungsfähiger sind. Zudem ist ihr
Temperaturkoeffizient tiefer, das heisst,
ihr Wirkungsgrad nimmt bei steigenden
Temperaturen wenigerrasch ab als bei
kristallinen Zellen.Die Grundlage die-
ser Technologie, die vom japanischen
Unternehmen Sanyo (heutePanasonic)
entwickelt wurde, reichen fast 20Jahre
zurück. Als 2010 derPatentschutz weg-
fie l,begannen auch andere Produzenten
Sola rzellen mit HJT herzustellen.
Bei derFabrikationder elektrischen
Strukturen von Heterojunction-Zellen
wird ein hauchdünner monokristalliner
Siliz ium-Wafer von einer noch dünne-
ren, amorphen Siliziumschicht umhüllt.
Die Verbindung von zwei unterschied-
lichen Silizium-Arten, monokristallin
und amorph,kombiniert dieVorteile
beider Zell-Technologien.Das Thuner
UnternehmenMeyer Burger baut für
die Hersteller von Photovoltaik-Modu-
len Fertigungsanlagen.
Aufgrund der hohen Lichtausbeute
und der hervorragendenPassivierungs-
eigenschaften des amorphen Siliziums
ist es schon jetzt möglich,Wirkungs-
grade von mehr als 24% zu erzielen;da-
durch spricht derWechselrichterrascher
an, wandelt früher Gleich- inWechsel-
strom um und verbessert die maximale
Leistung eines Photovoltaik-Moduls.
Weitere Kostenvorteile ergeben sich aus
dem vergleichsweise einfachen Nieder-
temperatur-Herstellungskonzept.Weil
es weniger Strom und Produktions-
schritte erfordert, ist es für die Solarzel-
len-Hersteller wirtschaftlich attraktiv.
«V IPGlass»– härter und leichter
gvm.·Am 15.April 2019 war es end-
lich so weit: Die österreichische Braue-
rei Mohren, die diesesJahr ihr 30-jähri-
ges Bestehen feiert, füllte ihr Bier erst-
mals in eine Flasche ab, die aus einem
besonders harten und deshalb weniger
dicken Glas gefertigtist. Die 33 clgrosse
Mehrwegflasche wiegt nur 210g,das sind
rund90 gwenigeralsbeieinerherkömm-
lichenBierflasche dieser Grösse und ent-
spricht ungefähr dem Gewicht einer Ein-
wegf lasche gleicher Grösse. Hergestellt
wirddas Fläschchen vom SchweizerVer-
packungskonzernVetropack.
Die chemische Zusammensetzung
der Vetropack ImprovedPerformance
Glass (VIP Glass) genannten Glassorte
ist identisch mitjener der üblichen Glas-
flaschen. Deshalb gibt es auch keine
nachteiligenAuswirkungen auf dieRe-
zyklierung. Das Besondere daran ist,dass
die im sogenannten Enghals-Press-Blas-
Verfahren hergestellte Flasche in einem
zusätzlichenSchrittthermisch gehärtet
wird. Dabei wird die Flasche ineinem
Ofen nochmals auf rund 700 Grad er-
hitzt und anschliessend innen und aus-
sen gleichmässig undrasch abgekühlt.
Dieses Härtungsverfahrenkommt auch
für die Herstellung von Sicherheitsglas
undWindschutzscheiben zur Anwen-
dung. Für Getränkeflaschen gab es so
etwas bisher nicht. Eine dünne Flasche
spartRohstoffe, und das geringere Ge-
wicht senkt dieTransportkosten.
Ein willkommener Nebeneffekt ist,
dass mit VIP Glass gefertigte Flaschen
nach mehrmaligem Gebrauch weniger
Gebrauchsspuren aufweisen.DieVorarl-
berger Brauerei plant, in denkommen-
den Monaten die fast4Mio. alten Pfiff-
Flaschen anVetropack zuretournieren,
damit diese daraus neueVerpackungen
herstellen kann.
Dieses Härtungsverfah-
ren gab es bisher nur
für Sicherheitsglas und
Windschutzscheiben,
nicht für Flaschen.