Mittwoch, 2. Oktober 2019 FEUILLETON 35
Gerade in der Demokratie müssen einige wenige
über viele andere herrschen, sagt Peter Sloterdijk SEITE 36, 37
In New Glarus baut man schweizerisch.
Doch was heisst das? SEITE 39
Da lacht die Sphinx
Nach dem Honeym oon geht’s richtig los: Paavo Järvi tr itt sein Amt als Chefdirigent der Tonhalle Zürich an.Von Christian Wildhagen
Es war Ilona Schmiels unbestrittenes
Meisterstück und einPaukenschlag. Im
Mai 2017 präsentierte die Intendantin
der ZürcherTonhalle-Gesellschaft der
staunenden Musikwelt den neuen Chef-
dirigenten ihres Orchesters. Dank exzel-
lentenKontakten in die internationale
Musikbranche war es Schmiel gelungen,
einen der profiliertesten,aber eben auch
gefragtesten Dirigenten unserer Zeit für
Zürich zugewinnen.Damit glückte ihr
ohneFrage eine spektakuläre und oben-
drein entscheidendeWeichenstellung in
einem überaus heiklenAugenblick.
Denn zur selben Zeit befand sich
das Tonhalle-Orchester in der schwers-
ten künstlerischen Krise seinerjünge-
ren Geschichte. In den Schlamassel,der
sogar noch das150-Jahr-Jubiläum des
Orchesters 2018 über schatten sollte,
war dieTonhalle während der drei
Jahre vor Schmiels Befreiungsschlag
geraten.Durch eigenesVerschulden,
denn die gut gemeinte Idee, auf die
rund zweiJahrzehnte währende Ära
von David Zinman, dem dasTonhalle-
Orchester wesentlich sein überregiona-
les Renommee verdankt, partout einen
scharf kontrastierenden Neuanfang
mit dem sehr jungenFranzosen Lio-
nel Bringuier folgen zu lassen, erwies
sich schon bald nach dessen Antritt als
zu wenigtragfähig.
Wie schnell das Niveau des Orches-
terspiels unter der Situation zu leiden
begann,war eine irritierende Erfahrung.
Umso mehr,als dasTonhalle-Orches-
ter punktuell durchaus noch immer an
alte Glanzzeiten anzuknüpfen wusste
- wenn esdenn wollte.Es wollte,vor
allem bei Gastspielen von Zinman und
in ge radezu singulärerWeise dann bei
den ersten Dirigaten des «Zukünfti-
gen». DieseVorab-Konzerte ab Okto-
ber 2018 glichen vorzeitigen Flitter-
wochen, in denen man sich mit Nach-
druck der gegenseitigenWertschätzung
versicherte und auf Anhieb so befreit,
so engagiert und energiegeladen mitei-
nander musizierte, als gelte es, die un-
befriedigenden letztenJahre umgehend
vergessen zu machen.Nun aber ist auch
diese Honeymoon-Phase vorbei, jetzt
wird es ernst, denn von heute an gibt
der «Neue», gibt Paavo Järvi als Chef-
dirigent und Musikdirektor seine offi-
ziellen Antrittskonzerte in der Zürcher
Tonhalle Maag.
Orchestererzieher
Järvi lacht sein charakteristisches
Sphinx-Lachen, als wir zwischen zwei
Proben Gelegenheit haben, über seine
Wahrnehmung der verfahrenen Situa-
tion zu sprechen.Er sieht sich ausdrück-
lich nicht als «Retter in der Not» und
möchte, ganz Profi, den Blick ohnehin
lieber nach vorne richten.Aber er habe
die besondere Energie, den Enthusias-
mus und die Offenheit der Musiker be-
merkt, die schon die ersten gemeinsa-
men Proben undKonzerte beflügelt hät-
ten. «Dawar eine Bereitschaft und Fle-
xibilität zu spüren, wie ichsie vor allem
von kleineren Ensembles wie der Deut-
schen Kammerphilharmonie kannte,
weniger von einem grossen und so tra-
ditionsreichen Klangkörper wie dem
Tonhalle-Orchester.» Dies habe ihm die
Augen geöffnet: In dem Moment stand
für ihn endgültig fest, dass dieBasis für
eine Zusammenarbeit gegeben war.
Die Zuversicht im Hinblick auf die
künftige Zusammenarbeit mit demTon-
halle-Orchester istkein Zweckoptimis-
mus. Denn auchJärvi selbst dürfte be-
kannt sein,was man sich in Musikerkrei-
sen gern erzählt und gegenseitig bestä-
tigt: dass bisher noch jedes Ensemble,
bei dem er längere Zeit als Chefdiri-
gent gewirkt hat, am Ende besser, präzi-
ser und vor allem inspirierter klang. Das
galt für das Orchestre deParis, das er
von 2010 bis 2016 leitete; und es galt ge-
radezu exemplarisch für das Sinfonieor-
chester des HessischenRundfunks, das
er zwischen 2006 und 2013 buchstäb-
lich ausroutiniertem Mittelmass ineine
höhere Umlaufbahn katapultierte. Die
Frankfurter Musiker dankten ihm dies
- wie zuvor das ähnlich wachgeküsste
CincinnatiSymphony Orchestra – mit
dem Titel eines Ehrendirigenten.
Kontinuitäten
Wie nachhaltigJärvi als Orchestererzie-
her zu wirken vermag, demonstriert
nicht zuletzt die erwähnte Kammer-
philharmonie mit Sitz in Bremen, deren
künstlerischer Leiter er nun schon seit
fünfzehnJahren ist – eine Tätigkeit,
die Järvi parallel zu den Chefposten
in Zürich sowie beim NHKSymphony
Orchestra in Tokio (seit 2015) beibe-
halten will. Die Kammerphilharmonie,
1980 als ursprünglichrein privatwirt-
schaftlich getragener Zusammenschluss
von Musikstudenten ins Lebengerufen,
zählt nach schwierigen Anfängen heute
nicht nur zu den erfolgreichsten Orches-
terneugründungen in Deutschland, son-
dern auch zu den Klangkörpern mit dem
klarsten stilistischen Profil.
Als wegweisend gilt der dort mit
Järvi erarbeitete Beethoven-Zyklus
- eine Interpretation aus dem Geist
und auf dem neuesten Stand der his-
toris chenAufführungspraxis, aber auf
überwiegend modernem Instrumenta-
rium.Damit ist der Bremer Sinfonien-
zyklus zugleich eineFortschreibung der
preisgekrönten Beethoven-Einspielun-
gen David Zinmans mit demTonhalle-
Orchester, die bereits etlicheJahre frü-
her einen ähnlichen Ansatz verfolgten.
Järvi selbst sieht dieseKontinuität und
schätzt Zinmans Beethoven als eine
nach wievor bahnbrechende Interpre-
tation, die obendrein tief in diekollek-
tive DNA des Orchesters eingedrungen
sei.«Man hört sofort, dass hier über län-
gere Zeit etwas Bleibendes und Eigenes
erarbeitet wurde. So etwas erreicht man
nicht in bloss zwei Proben und einer
Aufführung. Heutegibt es leiderselbst
bei den besten Orchestern nur noch sel-
ten die Gelegenheit, etwas sokontinu-
ierlichund zielgerichtetaufzubauen.
Zinman und demTonhalle-Orchester ist
da wirklich ein Meilenstein gelungen.»
Tief eingeschrieben
Wie aber will er künftig bei der Arbeit
zwischen seinen Orchestern differen-
zieren?Wohl gerade weil dieParalle-
len zwischen der Arbeit in Bremen und
Zürich im Ansatz, im stilistischen Emp-
finden und im informierten Umgang
mit dem Notentext auf der Hand liegen,
siehtJärvi Unterscheidbarkeit nicht als
vorrangiges Kriterium an. Unterschiede
seien allein schon durch die Kammer-
orchester-Besetzung in Bremen, aber
auch durch diePersönlichkeiten der
Musikerinnen und Musiker gegeben.All
das manifestieresich für ihn im Klang:
«In Zürich höre ich, einmal losgelöst
von Stilfragen,den grossen,satten Klang
eines Sinfonieorchesters mit einer tiefen
Verwurzelung in derTradition.Das ist
für mich das Eigene, mit dem ich arbei-
ten will.Vergleiche mit meinen anderen
Ensembles bringen uns da nicht wesent-
lich weiter.»
Umso mehr schätztJärvi nicht nur
den immer noch hörbaren Ertrag der
Arbeit unter Zinman, sondern auch die
grundsätzlicheVerankerung der Zür-
cher in einer massgeblich durch die
deutsch-österreichische Sinfonik ge-
prägten Musizierweise. «Das war für
mich entscheidend, denn diese Musik
bildet auch das Herz meinesRepertoires.
Ich liebe beispielsweise das herrliche
Legatospiel der Streicher, das sich völ-
lig organisch in den kraftvollen, gerun-
deten Klang des Ensembles fügt.Das ist
in dieser Ursprünglichkeit mittlerweile
eine Rarität», schwärmt er. «Die gros-
sen Orchester derWelt können heutzu-
tage fast alles irgendwie spielen; aber
hier in Zürich gibtes etwas Besonderes,
ganz tief eingeschrieben in die Musiker-
seelen, das etwa bei Brahms oder Bruck-
ner prächtig zumTragen kommt.»
Die Verbindung von gelebterTradi-
tion mitneueren Ansätzen der histori-
schenAufführungspraxis erscheint ihm
als eine idealeKombination, die sich
auch in der Mischung von historischen
und neuen Instrumenten niederschla-
gen kann wie bei seinen Beethoven-
Dirigaten. Gleichwohl weissJärvi, dass
sich Orchester im 21.Jahrhundert kaum
mehr nur auf ein spezifischesKern-
repertoire kaprizierenkönnen. «Des-
halb spielen wir auf unserer ersten ge-
meinsamen CD Orchesterwerke von
Olivier Messiaen», sagt er und muss
selbst schmunzeln über diese doch ein
wenig exotisch anmutendeWahl.
MoralischeUnte rstützung
Aber auch das Überraschungsmoment
hat Methode beiJärvi: «Programme
müssen eine innereVerbindung haben,
die Werke sollen sich gegenseitig er-
hellen, und oft liegt in zunächst über-
raschenden Gegenüberstellungen ein
besonderer Erkenntnisgewinn für die
Hörer.» Ein solcher dürfte sich ebenfalls
in Järvis ersterTonhalle-Saison einstel-
len, die der gebürtige Este bewusst der
Musik aus dem nordischenRaum gewid-
met hat. Er verbindet mit den Klängen
aus Skandinavien und demBaltikum
nicht bloss Heimatgefühle; die hierzu-
lande noch immer unterschätzten Sin-
fonien vonJean Sibelius und Carl Niel-
sen, aber auch Stücke von zeitgenössi-
schen estnischenKomponisten wieArvo
Pärt und Erkki-SvenTüür in südlicheren
Gefilden zu etablieren, betrachtet er als
seine persönliche Mission.
Dass der inzwischen 84Jahre alte
Pärt bei der Uraufführung der eigens
für Zürich erarbeiteten Neufassung
seines Stücks«Wenn Bach Bienen ge-
züchtet hätte...» anwesend sein wird,
freut ihn deshalb besonders. Und für
die hiesige Erstaufführung von Sibe-
lius’ wilder, früher Chorsinfonie «Kul-
lervo» nachTexten aus dem finnischen
Nationalepos «Kalevala» hat sichJärvi
vorsichtshalber noch weitere morali-
sche Unterstützung mitgebracht: sei-
nen Vater Neeme,den Patriarchen der
international tätigen Musikersippe der
Järvis. «Ihm verdanke ich unendlich
viel,auch als Dirigent», sagt er, und aus-
nahmsweise blitzt die Sphinx dabei ganz
milde aus seinenAugen.
Antrittskonzerte Paavo Järvi: 2., 3. und
- Oktober, Tonhall e Maag. Restkarten für 3.
und 4. Oktober. Das Konz ert vom2. Oktober
wird via http://www.mezzo.tv übertra gen und am
- Oktober auf SRF1ausgestrahlt.
CD-Hinweis:Olivier Messia en,«L’ascension»,
«Le tombeau re splendissant», «Les offrandes
oubliée s» und «Un sourire». Tonha lle-Orches-
ter Zürich, Paavo Järvi (Leitung). Alpha Classics
CD 548 (1 CD).
Paavo Järvi, der neue Musikdirektor und Chefdirigent desTonhalle-Orchesters Zürich, in derTonhalle Maag. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ