Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

Mittwoch, 2. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Ein unvergessener Mord


Hinter dem Verbrechen an Jamal Khashoggi voreinem Jahr stand wohl der saudische Kronprinz – eine Hypothek für sein Land


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Der saudische Thronfolger Moham-


med bin Salman hat sich lange über


Jamal Khashoggis kritische Kolum-


nen in der«WashingtonPost» geärgert.


Prinz Mohammed habeReformen ver-


sprochen, aber zu sehenseieineVerhaf-


tungswelle gegen andersdenkende Intel-


lektuelle undreligiöseFührer, schrieb


Khashoggi im September 2017. «Saudi-


arabien verdient etwas Besseres.»


Weil er in seiner Heimat praktisch

einem Schreibverbot unterlag und um


seineFreiheit fürchten musste, entschied


sich der saudischeJournalist für ein Le-


ben im amerikanischen Exil. Mit nur


einem Ziel:«Ich habe mein Zuhause,


meineFamilie und meinenJob verlas-


sen, jetzt erhebe ich meine Stimme.»


VerhängnisvolleHeiratspläne


Kronprinz Mohammed diskutierte mit


seinem engen Berater Saud al-Kahtani


angeblich schon seit 20 17 darüber, wie


sie Khashoggis kritische Stimme zum


Schweigen bringenkönnten. Er werde


eineKugel benötigen, sollte Khashoggi


nicht nach Saudiarabien zurückkeh-


ren, sagte bin Salman gemäss ameri-


kanischen Geheimdienstberichten. Ein


Jahr später bot sich dem starken Mann


in Riad eine gute Gelegenheit: Kha-


shoggi war unglücklich in den USA. Er


wollte nachIstanbulziehen, dort seine


Verlobte heiraten und ein neues Leben


beginnen. Gemäss türkischemRecht


brauchte der 59-jährigeJournalist dafür


aber eine saudische Urkunde, die seinen


unverheirateten Zivilstand bestätigte.


Also ging Khashoggi am 28. Sep-

tember 20 18 aufs saudischeKonsulat in


Istanbul. Erkönne das Dokument am



  1. Oktober abholen, beschied man ihm.


Ein Sicherheitsattaché desKonsulats


kontaktierte danach Maher Abdulaziz


Mutreb in Riad, einen Geheimdienst-


offizier und Begleiter des Kronprinzen


aufAuslandreisen.«Wirwaren alle ge-


schockt... Es gibt nichts Offizielles,


aber es ist bekannt, dass er (Khashoggi)


einer der gesuchten Leute ist»,sagte der


Sicherheitsattaché gemäss Mitschnitten


des türkischen Geheimdienstes. Ein Hin-


weis darauf, dass Khashoggi nur einer

von mehreren Dissidenten imAusland

war, die Riad imVisier hatte.


Vermutlich inKoordination mit Kah-


tani und dem stellvertretenden Ge-

heimdienstchef Ahmed al-Asiri stellte

Mutreb einTeam von 15 Personen zu-

sammen, die in zwei Privatflugzeugen

nach Istanbul flogen und Khashoggi

am 2. Oktober imKonsulat erwarte-

ten.Das Kommando war offenbar be-

reit, im Notfall äusserste Gewalt anzu-


wenden. Diesen Eindruck bestärken

die heimlichenTonaufnahmen des tür-

kischen Geheimdienstes. Kurz bevor

Khashoggi dasKonsulat betrat, unter-

hielt sich Mutreb mit Salah Mohammed


Tubaigy,einem speziell eingeflogenen

Gerichtsmediziner. «Kann man die Lei-


che in einen Sack stecken?», fragte Mu-


treb. «Nein, zu schwer und zu gross», ant-


worteteTubaigy. «Nachdem ich die Lei-


che zerlegt habe, wickelst du dieTeile

in Plastiksäcke, steckst sieinKoffer und


schaffst sieraus.» Am Ende der Unter-


haltung fragt Mutreb: «Ist unser Opfer-


tier eingetroffen?»


EinKommandoausVertrauten


Keine halbe Stunde nachdem Kha-

shoggi dasKonsulat betreten hatte, war


er tot. Später rief ein Mitglied des sau-


dischenKommandos – vermutlich Mu-


treb – einenVorgesetzten in Riad an.

«Sag deinem Chef, die Mission ist er-

füllt», soller gesagt haben. Ob mit dem


«Chef» Mohammed bin Salmange-

meint war, wirddieWelt vielleicht nie

erfahren. Die saudischeJustiz hat zwar


el f Personen vor Gericht gestellt, aber

Saud al-Kahtani – einer der Hauptver-


dächtigen und Schlüsselzeugen – ge-

hört trotz amerikanischen Ermahnun-

gen nicht dazu. Der Prozess findet unter


Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Offi-


ziell wurden die Namen der Angeklag-


ten nicht veröffentlicht. Gemäss einem


Uno-Bericht gehören Mutreb undTu -

baigy aber zu jenen fünf Beschuldigten,


denen dieTodesstrafe droht.


Solange Kronprinz Mohammed die

Fäden der Macht in den Händen hält,

wird er kaumKonsequenzen befürchten


müssen. Er und seinLand gerieten nach


dem Mord an Khashoggi zwar inter-

national unter Druck,aberkein west-

lichesLand dachte daran, schmerzhafte


Wirtschaftssanktionen gegen den Erd-

ölriesen zu ergreifen. Am wenigsten die


USA, die unter Präsident DonaldTr ump


zu einerkonfrontativenPolitik gegen-

über Iran zurückkehrten und dafür Riad


alsregionalenVerbündeten brauchen.

Der nächste G-20-Gpifel wird deshalb

auch in Riad stattfinden.


Khashoggis langerSchatten


Tr otzdemist der ungesühnte Mordan

Khashoggi für Saudiarabien nicht ganz


folgenlos. In Grossbritannien und in den


USA, den beiden grösstenWaffenliefe-


ranten desKönigreiches, geriet die mili-


tärische Zusammenarbeit mit Riad in

die Kritik.DerFall Khashoggi verstärkte


die Zweifel an der Unterstützung Saudi-


arabiens imJemen-Krieg. Riads militäri-


sche Intervention gegen die Huthi-Miliz


führte laut der Uno zur «grössten huma-


ni tären Katastrophe derWelt» mit Mil-


lionen von Menschen in Hungersnot.

Seit September führtWashington auf

der Suche nacheinerFriedenslösung mit


den Huthi direkte Gespräche.Auch dies


ist ein Zeichen des Misstrauens gegen-


über Riad und dem Kronprinzen, die in


der Miliz bloss einen verlängerten Arm


des Erzfeindes Iran sehen. Bin Salman


war vor fünfJahren eine treibende Kraft


hinter der Intervention inJemen.


Wie gross der Imageschadenist, zeigt


einVergleich von zwei Interviews,die der


Kronprinz vor und nach dem Khashog-


gi-Mord der amerikanischenJournalis-


tin Norah O’Donnellgab.«Mit 32Jah-


ren ist Mohammed bin Salman bereits

der dominanteste arabischeFührer sei-


ner Generation», stellte dieModerato-


rin desFernsehsenders CBS ihren Ge-


sprächspartner im März 20 18 vor.«Seine


innenpolitischenReformen warenrevo-


lutionär.» Ganz anders verlief das Inter-


view am vergangenen Sonntag.Ob es

nun um Khashoggi, den gescheiterten

Jemen-Krieg, den verheerenden Angriff


auf die saudischen Erdölanlagen im Sep-


tember oder inhaftierteFrauenrechtle-


rinnen ging, der Kronprinz war mit we-


nig überzeugenden Gegenargumenten in


der Defensive. Mohammed bin Salman


ist immer noch Kronprinz und wird viel-


leicht auchKönig werden, Khashoggis

Schatten wird ihn und seinLand jedoch


stets begleiten.


Als Reformer präsentierte sichKronprinz Mohammed vor dem Attentat. Heute ist er in derDefensive. DAN KITWOOD / GETTY


Giuliani verstrickt sich in Verschwörungstheorien


Der frühere New Yorker Bürgermeister und heutige Berater Trumpssteht im Zentrum der Ukraine-Affäre


PETER WINKLER,WASHINGTON


Dies hätteRudy Giulianis Bild in den


Geschichtsbüchern seinkönnen: Nach


dem furchtbaren Anschlag auf das


World Tr ade Center im September


2001 führte der NewYorker Bürger-


meister seine Stadt nicht nur souverän


durch jene schwierigen Stunden,Tage


und Monate. Er war auch einer der Ers-


ten,die der verwundeten Nation zurie-


fen, trotz allem Schmerz seienRache-


akte gegen muslimische Mitbürger in-


akzeptabel.Für dieseFührungsquali-


täten adelte OprahWinfrey ihn mit dem


Übernamen «America’s Mayor». Köni-


ginElizabeth II.tates imJahr darauf mit


dem Schlag zum Ehrenritter.


ImAuge desHurrikans


Heute fällt es schwer, Rudy Giuliani mit


jenem Bild vonfrüher zu vereinen, wenn


er etwa imFernsehstudio vonFox News


sitzt, Verschwörungstheorien verbreitet,


dem PräsidentenTr ump huldigt und im


politischen Gegner nur den zersetzen-


denFeind im Dienst dunkler Mächte se-


hen kann.Tr umps früherer Berater für


Inlandsicherheit,Tom Bossert, erklärte


kürzlich,Giuliani sei eine der wichtigs-


ten Quellen fürTr ump, wenn es um


Verschwörungstheorien wie imFall der


Ukraine gehe. Und wenn der Präsident


etwas immer wieder höre, glaube er zu-


letzt selber daran.


Der Enkel italienischer Einwande-

rer war immer eine schillerndeFigur,


wofür auch sein politischerWerdegang


Anschauungsunterricht gibt. Als jun-

ger Mann war er überzeugter Demo-

krat – zu der gleichen Zeit übrigens, als


Hillary Clinton eingefleischteRepubli-


kanerin und AnhängerinBarry Gold-

waters war. Giulianis Mutter berichtete


später, er sei insFahrwasser derRepu-


blikaner geraten, weil ihm diese gute

Arbeit verschafft hätten. Sie bezog sich


auf dieRegierungen Fordund Nixon,

die Giuliani zuerst in NewYork, dann

inWashington wichtigePositionen im

Justizministerium anboten. EinKonser-


vativer, meinte dieMutter auch noch, sei


ihrRudy aber nie gewesen.


Sie erkannte offensichtlich schon

früh die populistische Neigung Giulia-

nis,die sich mit der Kandidatur Donald


Tr umps mit aller Kraft offenbaren sollte.


Der frühereNewYorker Bürgermeister


blühte richtig auf. Eines untervielen ver-


bindenden Merkmalen war die Abnei-

gung gegenüberBarack Obama.Tr ump


half bei dessen Diskreditierung mit der


Verbreitung der Legende, Obama sei ein


kenyanischer Muslim. Giuliani beschul-


digte den ersten schwarzen Präsidenten,


Rassenspannungen anzuheizen und den


Leuten einen Hass auf diePolizei einre-


den zu wollen.


Tr ump schien schlummernde Kräfte


in Giuliani zu wecken, allerdings nicht

im positiven Sinn. ImWahlkampf für

Tr ump übernahm er auch dessen Nei-

gung,bei denFakten oft eine Abkür-

zung zu wählen. So behauptete er bei-


spielsweise, in den achtJahren vor Oba-


mas Amtsantritt hätten es islamistische


Terroristen nicht geschafft, einen An-

schlag auszuführen.Fürden Mann,der


am 11.September 20 01 Bürgermeister

von NewYork gewesen war, ist das eine


happigeAussage.


Seine Hoffnungen auf einen Kabi-

nettsposten – demVernehmen nach hatte


er auf das Amt desAussenministers spe-


kuliert – zerschlugen sich im November


20 16. Die «NewYorkTimes» vermutete


damals, es seien die zumTeil undurch-


sichtigen Geschäftsbeziehungen Giulia-


nis gewesen, die seine Ernennung ver-

hindert hätten. Unter diesen sticht ein

Unternehmen hervor, das mit weitver-

zweigtenVerbindungen nachRussland

und in die früheren sowjetischenRepu-


bliken wirbt.Damit legte Giuliani ver-


mutlich den Grundstein für seine Be-

ziehungen zu russlandfreundlichen

Kreisen in der Ukraine, die nun, im Zu-


sammenhang mit der Affäre um dasTele-


fongespräch zwischenTr ump und dem

ukrainischen PräsidentenWolodimir Se-


lenski, im Scheinwerferlicht stehen.


Giuliani hatte offenbar schon lange

an derThese gearbeitet, wonach nicht

etwaRussland zugunstenTr umps auf

die Präsidentenwahl 20 16 einwirkte,

sondern die Ukraine zugunsten Clin-

tons.Der unbekannte Geheimdienst-

mitarbeiter, der mit seiner Beschwerde


überTr umpsVerhalten die Impeach-

ment-Untersuchung imRepräsentan-

tenhaus auslöste, zeichnete nach, wie

Giuliani bereits Ende des letztenJahres


mitUkrainern sprach,dieandieseTheo-


rie glaubten. Zu ihnen gehören zwei frü-


here Generalstaatsanwälte,diebeide

ihrenPosten unter einerWolke desKor-


ruptionsverdachtsräumen mussten.


Längst widerlegt


AufAngaben aus der Ukraine scheinen


sich eine ganzeReihe von Untersuchun-


gen zu stützen, die zumTeil von Giuliani


in seinerFunktion als persönlicher An-


waltTr umps, zumTeil auch vonJustiz-


minister William Barr durchgeführt

werden. Sie haben dabei auch eine ge-


wisse Eigendynamikentwickelt.Das

Weisse Haus wusste laut dem früheren


SicherheitsberaterTom Bossert sehr ge-


nau, dass die Ukraine-Verschwörungs-

theorien längst widerlegt waren. Doch

Giuliani liess sich davon nicht beirren.

Mit einerArt Schattendiplomatie, die

sich zumTeil auch auf Hilfe desAus -

senministeriums stützte, ging er seinen

angeblichen Spuren weiter nach, mehr-


mals auch in Europa. DreiAusschüsse

desRepräsentantenhauses wollen nun

Aufklärung über seineKontakte.Ame-


rica’s Mayorreagierte nur mit Häme.


Gespräche nicht nur mit der Ukraine


A. R.· Die Anstrengungen derAdmi-

nistrationTr ump, diplomatische Bezie-

hungen für parteipolitische Zwecke zu


nutzen, beschränkten sich nicht auf die


Ukraine allein.Laut amerikanischen

Medienberichten führte DonaldTr ump


Anfang September auch einTelefonat

mitAustraliens Premierminister Scott

Morrison und bat ihn um Hilfe bei lau-


fendenErmittlungen.Das Gespräch

wurde am Dienstag von australischer

Seite bestätigt. Offenbar waresTeil

vonTr umps Kampagne, die von 20 16

bis 20 19 geführten Untersuchungen zur


Russland-Affäre zu diskreditieren. Sein


Interesse anAustralien warkein Zufall.


Ein Hinweis des australischen Geheim-


diensts über verdächtigeRussland-Kon-


takte einesTr ump-Beraters hatte 20 16

die Ermittlungen zuRusslands Ein-

mischung in die amerikanischenWahlen


ausgelöst.Tr ump versucht, dem Schat-

ten derRussland-Affäre zu entfliehen,

und propagiert dieTheorie,dass die

Untersuchung gegen ihn und seinTeam


ein Machtmissbrauch desWashingtoner


Sicherheitsapparats gewesen sei.


Im selben Zusammenhang pflegte

seinJustizministerWilliamBarr in letz-


ter ZeitKontakte mit den Behörden Ita-


liens und Grossbritanniens. Staatsange-


hörige der beidenLänder hatten zu

Beginn derRussland-Affäre ebenfalls

eineRolle gespielt. Die Demokraten in


Washington dürften diesen internatio-

nalen Effort als Beleg dafür sehen, dass


die Druckausübung auf die UkraineTeil


eines grösseren Plans gewesen war.

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