Die Welt Kompakt - 06.10.2019

(John Hannent) #1

WELT AM SONNTAG NR. 40 6. OKTOBER 2019 KULTUR 41


© 2019 MGM & Relentless Prod., LLC. THE HANDMAID’S TALE TM MGM. All Rights Reserved.

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AB 18. OKTOBER


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Die komplett ausverkaufte Herbst-
Tour durch große Hallen deutet da-
rauf hin, dass die lange Kunstpause
dem Berliner Karibik-Kombinat nicht
geschadet hat. 2012 erschien das letz-
te Album, gefolgt von diversen Solo-
Nummern der Bandmitglieder. Im
Mai 2018 verstarb Lead-Sänger Dem-
ba Nabé, der zuvor als Boundzound
auch auf experimentellen Pfaden
wandelte. Nun geht die Show weiter,
mit der Single „Ticket“ haben sie
bereits einen spirituellen Abschied
für Mitstreiter Nabé zelebriert.
Seeeds musikalisches Fundament
steht. Versiert kreisen sie um die
traditionellen Spielarten des Roots-
Reggae. „Scheiß aufs Berghain“ lautet
eine Zeile. Kreuzberg bleibt Karibik.
Ausflüge ins Elektronische unter-
nimmt man mit Gästen, etwa Deich-
kind, die in „Lass das Licht an“ ihren
anarchischen Blick in deutsche

Schlafzimmer werfen. Auch Cloud-
Rapper Trettmann und die eritreische
Vokalistin Nura übernehmen Parts, in
denen vielfach am Mann-Frau-Ver-
hältnis gearbeitet wird, zuweilen
etwas studentisch, wie bei der Herz-
schmerz-Nummer „Lass sie gehn“. In
toto ein absolut routinierter Auf-
schlag. RALF NIEMCZYK

PLATTENKRITIK

Seeed


Der „Rolling Stone“, Deutschlands
wichtigstes Musikmagazin, erstellt
die Plattenkritik exklusiv für „Welt am
Sonntag Kompakt“

Seeed:
„Bam Bam“
(BMG Rights)

was in dieser Zeit entstand, vernichtet
worden. Die wenigen Gedichte, die er-
halten blieben, zeigen einen Geist, der
bisweilen wie eine Spieluhr allgemeine
Weisheiten herunterleiert, doch immer
wieder mit eigentümlichen, auch rätsel-
haften Wendungen überrascht, ein
Geist, der dem augenblicklichen Na-
tureindruck zugewandt bleibt und dem
dabei Schönheiten gelingen, die Mörike
bewunderte.
Sein Lieblingsgedicht war eines, das
ihm Hölderlin im Jahre 1823 zum Ge-
schenk machte und das mit den Versen
beginnt: „Wenn aus dem Himmel hellere
Wonne sich / Herabgießt, eine Freude den
Menschen kommt, / Daß sie sich wundern
über manches ...“ Besonders die Schafe,
die in diesem Gedicht geradezu ge-
spenstisch da und dort auftauchen, hat-
ten Mörike tief angesprochen:
„Über dem Stege beginnen Schaafe
Den Zug, der fast in dämmernde Wälder
geht.
... Da, auf den Wiesen auch Verweilen
diese Schaafe ...
Gewässer aber rieseln herab und sanft
Ist hörbar dort ein Rauschen den ganzen
Tag.“
In seinen ersten Jahren im Turm
plante Hölderlin sogar noch einen Al-
manach, wofür er täglich eine Menge
Papiers vollschrieb. Darunter die ergrei-
fend schlichten Verse: „Das Angenehme
dieser Welt hab ich genossen, / Die Jugend-
stunden sind, wie lang! wie lang! verflos-


sen, / April und Mai und Julius sind ferne, /
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr
gerne!“
Um dieselbe Zeit entstand ein Ge-
dicht, das Hölderlin Heinrich Zimmer
widmete. Zimmer schilderte in einem
Brief an Hölderlins Mutter, wie es zu-
stande kam: „So sah Er bey mir eine
Zeichnung von einem Tempel Er sagte
mir ich solte einen von Holz so machen,
ich versetze ihm darauf daß ich um Brod
arbeiten müßte, ich sey nicht so glüklich
so in Philosofischer ruhe zu leben wie
Er, gleich versetzte Er, Ach ich bin doch
ein armer Mensch, und in der nehmli-
chen Minute schrieb er mir folgenden
Vers mit Bleistift auf ein Brett:

Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grän-
zen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott er-
gänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und
Frieden.“

Dieser Text ist ein ge-
kürzter Auszug aus:
Rüdiger Safranski,
„Hölderlin. Komm!
ins Offene, Freund!“.
Erscheint am 21. Ok-
tober. 28 Euro
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