40 KULTUR WELT AM SONNTAG NR.40 6.OKTOBER2019
an hatte Hölderlin, um
ihn nicht zu beunruhi-
gen, glauben machen
wollen, die Reise ginge
nach Tübingen, um dort
Ankäufe für die fürstliche Bibliothek zu
tätigen. So wie er sich verhielt, wird er
es nicht geglaubt haben. Wahrschein-
lich befürchtete er, ins Gefängnis ge-
bracht zu werden wie zuvor Sinclair,
sein revolutionär umtriebiger Freund.
Dass seine Bestimmung das Autenrieth-
sche Klinikum in Tübingen war, wird
ihm wohl keiner gesagt haben. Am 15.
September 1806 wurde er eingeliefert,
und man behielt ihn dort bis zum 5. Mai
1807, genau 231 Tage.
Hölderlins Erinnerungen an den Auf-
enthalt in der Klinik werden wohl trau-
matisch gewesen sein, denn immer
wenn ihm später jemand begegnete, den
er damit in Verbindung brachte, konnte
er rasend werden. Sein Zustand verbes-
serte sich nicht. So jedenfalls berichtete
es der Schreinermeister Heinrich Zim-
mer, der Hölderlins „Hyperion“ gelesen
hatte – der ihm „ungemein wohl gefiel“
- und nun davon hörte, dass der von
ihm geschätzte Dichter in der Klinik un-
tergebracht sei.
„Ich besuchte Hölderlin im Clini-
kum“, so heißt es in Zimmers Schilde-
rung dreißig Jahre später, „und Bedau-
erte ihn sehr, daß ein so schönner Herr-
licher Geist zu Grund gehen soll. Da im
Clinicum nichts weiter mit Hölderlin zu
machen war, so machte der Canzler Au-
tenrieth mir den Vorschlag Hölderlin in
mein Hauß aufzunehmen, er wüßte kein
pasenderes Lokal. Hölderlin war und ist
noch ein großer Natur Freund und kan
in seinem Zimmer daß ganze Näkerthal
samt dem Steinlacher Thal übersehen.
Ich willigte ein, und nahm ihn auf, jetzt
ist es 30 Jahre daß er bei mir ist.“
Zimmer hatte das Haus kurz zuvor
am Neckarufer errichtet, wobei Teile
der Stadtmauer mit einem wiederherge-
stellten Turm einbezogen worden wa-
ren. In diesem Turm, in einem Zimmer
mit schönem Rundblick, wurde Hölder-
lin einquartiert, und dort lebte er die
zweite Hälfte seines Lebens, sechsund-
dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tod. Es
hatte seinen guten Grund, dass Zimmer
ausdrücklich auf dieses Turmzimmer zu
sprechen kommt, denn dieser helle
Raum mit den Fenstern nach verschie-
denen Richtungen hatte genau jene At-
mosphäre des Offenen, die Hölderlin so
liebte und die gewiss dazu beitrug, dass
dieses lange Leben im Turm trotz allem
doch ein lebbares war. Ein Student, der
fünfzehn Jahre nach Hölderlins Tod
dieses Turmzimmer bezog, beschrieb
die Aussicht von dort aus so: „Das eine
Fenster geht hinaus auf den reißenden
zwischen Weidengebüsch dahin eilen-
den Neckar, auf die hinter ihm thronen-
den Alleen, aus welchen einige freundli-
che Häuser hervortauchen & die ganze
Aussicht umkränzt vom blauen Saume
der rauhen Alp.“
Der andere Blick geht hin über die
Stadtmauer und die dicht daran gebau-
ten Häuser entlang bis zu den Ausläu-
fern des Schlossbergs. Dort hinaus sah
Hölderlin, tagein, tagaus. Er ging im
Zimmer hin und her und wanderte stun-
denlang in der Nähe des Hauses auf ei-
nem schmalen Weg entlang der Stadt-
mauer, auf und ab. Weiter hinaus wollte
man ihn allein nicht lassen, auch des-
halb nicht, weil das „Gratial“, eine fi-
nanzielle Unterstützung durch das Kon-
sistorium, daran gebunden war, dass
Hölderlin stets unter Aufsicht blieb.
Doch es kam immer wieder vor, dass
Studenten den Turmbewohner besuch-
ten und ihn in den schönen Jahreszeiten
mit hinausnahmen in die umliegenden
Weinberge. Manche haben ihre Stunden
mit Hölderlin in unauslöschlicher Erin-
nerung behalten, etwa Wilhelm Waib-
linger und Eduard Mörike, und Hesse,
dessen Großvater Gundert den Turm-
bewohner noch kannte, hat später eine
wunderbare Erzählung über einen die-
ser Sonnentage mit Hölderlin in den
Weinbergen geschrieben, „In Pressels
Garten“ heißt sie.
Als Autenrieth seinen Patienten an
Zimmer übergab, gab er ihm höchstens
noch drei Jahre. Zunächst sah es auch
danach aus, denn es kam noch recht
häufig zu Anfällen von „Zorn und Rase-
rei“, nach denen der Kranke in der Regel
geschwächt für einige Tage darnieder-
lag. Einmal, es war 1812, ging es ihm so
übel, dass man mit dem baldigen Tod
rechnete. Doch überstand er diese Kri-
se, und er erholte sich wider Erwarten.
Von da an blieb er körperlich gesund. Er
war von stabiler Konstitution.
Lange Jahre war er immer noch ein
schöner Mann, mit feinen Gesichtszü-
gen, hoher Stirn, schmalen Händen;
doch musste man ihn drängen, sich die
Fingernägel schneiden zu lassen. Bis in
die letzten Jahre hatte er noch alle seine
Zähne, erst spät begannen sie auszufal-
len. Dann wurden die Backen hohl, und
er sah so alt aus, wie er war. Bis dahin
aber hatte er sich noch immer etwas Ju-
gendliches bewahrt, das besonders zum
Vorschein kam, wenn er mit Zimmers
studentischen Untermietern zusam-
mensaß. Hier wurde er, wie auch sonst
im Hause, hochgeachtet und liebevoll
behandelt. Die Anfälle von „Raserei“
wurden seltener und verschwanden fast
ganz. Hölderlin lebte ruhig dahin, er
schätzte die wohltuende Regelmäßig-
keit, die von den Zimmers sorgfältig be-
wahrt wurde, da sie ein Gespür dafür
hatten, was er benötigte. Hölderlin
durfte in einer Atmosphäre von Verläss-
lichkeit leben.
EINE SEHENSWÜRDIGKEITMit der
Sonne stand er auf, im Sommer also
sehr früh, begann dann seine Wande-
rungen am Hause, ruhte sich aus auf ei-
nem Sofa, das ihm der Hauswirt nach ei-
nigen Jahren ins Zimmer gestellt hatte;
so brauchte er sich tagsüber nicht ins
Bett zu legen. Auf dieses Sofa bat er
auch die Besucher, die bei ihm vorspra-
chen. Es wurden immer mehr, denn all-
mählich wurde er zu einer Sehenswür-
digkeit. Wenn er alleine blieb, wanderte
er auch nachmittags wieder ums Haus
herum. Er machte sich viel Bewegung
und sprach dabei. Er las auch, doch
meistens nur in eigenen Werken, in den
späteren Jahren vor allem im „Hyperi-
on“, der 1822 nochmals verlegt worden
war und der ihm im neuen Gewande,
grünes Leinen, sehr gut gefiel.
Ein einziges Mal in all den Jahren äu-
ßerte er den Wunsch, an seinem Leben
etwas zu verändern. Das war, als ihn ei-
nes Tages irgendwann in den zwanziger
Jahren das Verlangen anwandelte, nach
Frankfurt zu gehen. So hartnäckig hielt
er eine Weile daran fest, dass man ihm
die Stiefel wegnahm. Das erzürnte ihn
sehr, und er legte sich tagelang ins Bett.
Frankfurt – das war natürlich Diotima,
seine verstorbene Geliebte Susette
Gontard. In der Regel mied man das
Thema, die Besucher waren rücksichts-
voll genug, es nicht zu erwähnen. Einer
aber schnitt es doch an und erhielt eine
bemerkenswerte Antwort: „Ach meine
Diotima! Reden Sie mir nicht von mei-
ner Diotima; dreizehn Söhne hat sie mir
geboren: der eine ist Papst, der andere
ist Sultan, der dritte ist Kaiser von Ruß-
land usw. (er zählte an den Fingern ab).
Darauf sagte er hastig und in vollständi-
gem Bauerschwäbisch: ‚und wisset Se,
wies no ganga ist? Närret is se worde,
närret, närret, närret.‘“
Hölderlin schrieb gern und unabläs-
sig. Zum Glück wurde bei den Zimmers
nicht am Papier gespart. Es wurde auch
auf die Rechnung für Kost, Logis und
Pflege gesetzt. Leider ist das meiste,
Exil mit Aussicht
Der Hölderlinturm
in Tübingen
PRISMA BILDAGENTUR
/THOMAS BRENNER
Friedrich Hölderlin schrieb berauschend
schöne Verse – und galt zu seiner Zeit als
rasend, so dass man ihn wegsperrte. Rüdiger
Safranskibeleuchtet nun in der Biografie des
Dichters auch den Ort seiner Umnachtung
ganz neu. Ein Vorabdruck
M
Getürmt ins
hholde Leben