STIL & REISEN
ch habe in einem Vorort von Tel Aviv gewohnt
und Australien im Mietwagen erkundet, ich bin
mit einem Haufen Musiker durch Europa ge-
tourt und zwischenzeitlich auch mal in einem
Auffanglager für Geflüchtete aus der DDR im
bayerischen Dingolfing untergekommen. Kein
Ort steckt für mich so voller Widersprüche wie
meine Wahlheimat, ein kleines Dorf in der Ge-
meinde Mühlenbecker Land nördlich von Ber-
lin. Seit fast fünf Jahren leben mein Mann und
ich nun schon in Brandenburg, und in diesem
Jahr konnte ich erstmals heimatliche Gefühle
orten. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob wir
mit dem Wissen, das wir hier erlangten, noch
einmal alles so machen würden wie in jenem Spätsom-
mer, als wir das Dorf bei einem Wochenendausflug
entdeckten, keine 40 Autominuten vom Alexander-
platz entfernt und eingebettet in dichten Kiefernwald.
Ich erinnere mich noch, wie wir eine Sandstraße
entlangliefen. Trockene Kiefernnadeln knisterten un-
ter unseren Schuhen. Auf den Grundstücken, zwi-
schen vereinzelten Einfamilienhäusern, standen Feri-
enbungalows wie der in der DDR sehr beliebte Lau-
bentyp GL 19. Relikte aus den Jahren vor dem Mauer-
fall, in denen das Dorf als Naherholungsgebiet gedient
hatte und es noch Konsummärkte und florierende
Pensionen gab.
Auf halbem Weg entdeckten wir ein Banner mit der
Aufschrift „Zu verkaufen“. Hinter einem Zaun breite-
ten sich in beeindruckender Unordnung alter Flieder,
Sonnenhut und Hyazinthen aus. Der Tag ging gerade
zu Ende, und die tief stehende Sonne goss einen rötli-
chen Schimmer über die Vegetation. Dieses Bild nah-
men wir mit nach Berlin. Es sollte uns nicht mehr los-
lassen. Ich suchte im Internet nach Informationen
über den Ort, seine Geschichte und die letzten Wahl-
ergebnisse. Drei Monate später kauften wir das
Grundstück, nach einem Jahr zogen wir in unser neues
Zuhause. Die Zeit nach dem Einzug fühlte sich unwirk-
lich an. Meine Begegnungen mit der Natur schienen
einem kitschigen Heimatroman entsprungen. Als ich
eines Morgens mit meiner Kaffeetasse in der Hand die
Terrasse betrat, hingen noch Nebelschleier über der
Wiese. Keine sechs Meter vor mir graste ein Reh. Für
Sekunden blickte es auf, und wir standen da, Auge in
Auge, bis es mit weiten Sprüngen verschwand. In die-
ser Zeit rollte sich am Nachmittag regelmäßig ein
Fuchs zum Schlafen ins Gras, und die Frischlinge ei-
ner sporadisch am Abend einkehrenden Bache rieben
ihre Borsten an stets derselben Kiefer.
ABSCHIEDE Noch vor dem ersten Winter errichte-
ten wir einen Wildzaun zum angrenzenden Wald, die
Tiere blieben aus, und die Tage wurden weniger, an
denen ich am Fenster saß, auf die Straße vorm Haus
starrte und kaum glauben konnte, dass selten mehr
als drei Menschen am Tag zu sehen waren. Da war der
einarmige Schrottsammler, der immer um dieselbe
Zeit auf dem Fahrrad vorbeifuhr, die Frau mit kurzen
Haaren und einem Dackel an der Leine sowie ein
Mann um die 80 Jahre, mit weißem Schopf und son-
nengegerbter Haut. Jeden Tag kam er mit seinem
Stock und hochgekrempelten Hosenbeinen vorbei. Er
schien auf ständiger Wanderschaft zu sein. Einmal
traf ich ihn beim Joggen, da pflückte er am Feldrand
Wildblumen für mich. Das fand ich rührend, aber in
der Woche zuvor hatte er meinem Mann noch Schlä-
ge angedroht, als dieser am Altglascontainer Flaschen
entsorgen wollte. Wie sich herausstellte, wohnte der
alte Herr in einem Haus in der Parallelstraße und war
dement. Als er irgendwann nicht mehr kam, ahnte ich
schon, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Für Me-
lancholie blieb wenig Zeit, bald flanierte ein anderer
Senior vor unserem Haus. Er trug auch bei 24 Grad ei-
nen Anorak, winkte mal lächelnd in unsere Küche hi-
nein, um dann unruhig in den Garten unserer Nach-
barin zu blicken, die kürzlich erst verstorben war. Ir-
gendwann tauchte auch er nicht mehr auf, und ich
fffrage mich, ob ich eines Tages genauso die abhanden-rage mich, ob ich eines Tages genauso die abhanden-
gekommenen Puzzleteile meiner Erinnerung hinter
den Gartenzäunen suchen werde, bevor es ganz zu
Ende geht. Mit einer eigentümlichen Selbstverständ-
lichkeit wurde ich hier mit Vergänglichkeit konfron-
tiert: Gebäude verfielen, Tierkadaver und Pflanzen-
reste verrotteten am Rande des Waldes oder auf dem
Kompost. Vielleicht war dies ja das ehrlichste Argu-
ment für ein Leben in Brandenburg.
Inzwischen hatte ich Bekanntschaften geknüpft,
fand das Dasein in seiner Überschaubarkeit exotisch,
mit den Festen in durchschnittlich eingerichteten
Speisegaststätten, zu denen sich Dorfmenschen aus
mehreren Generationen versammelten. Der Riss im
Idyll erfolgte sechs Monate nach unserer Ankunft,
ausgelöst durch den Satz eines mitfeiernden Nach-
barn. An jenem Abend war die Stimmung gelöst, wir
hatten getanzt und redeten über Erfahrungen beim
Hausbau. Dabei erwähnte ich, dass wir ein altes Keller-
gebäude abgerissen hatten. Da platzte es aus meinem
Gegenüber heraus: Ausländer sollte man alle in einen
Keller sperren und zuschütten!
Mir war klar gewesen, dass ich mich auf dem Land
auch mit Xenophobie und Vorurteilen auseinanderset-
zen müssen würde. Doch als es passierte, erwischte es
mich kalt. Mit diesem Hass, der da unvermittelt her-
vortrat, konnte ich nicht umgehen. Wie unter Schock
redete ich weiter, so, als wäre der Satz nie gefallen. Der
Eklat folgte mit ein paar Wochen Verzögerung auf ei-
ner Beerdigung, bei der ich mit dem Nachbarn wegen
seiner Äußerungen aneinandergeriet. Danach brach
die Kommunikation ab. Ein Jahr brauchte es bis zu ei-
ner verhaltenen Annäherung. Inzwischen haben wir
einen Modus des Klarkommens entwickelt. Bei ihm
geht es nicht über ein kurzes „Hallo“ hinaus, seine
Frau und ich wechseln manchmal ein paar freundliche
Worte. Die anfänglich ausgesprochene Einladung zum
Kaffee war nie wieder Thema.
In manchen Häusern hier scheint das Misstrauen
gegen die Außenwelt groß zu sein, hinter zu Mauern
geschorenen Thujen und stets ähnlich aussehenden,
unterkühlt wirkenden Vorgärten, in denen eine fast
zwanghafte Kontrolle über das Wachstum von Rasen
und Beetpflanzen herrscht. Und dann, eine Straße
NEUES LEBEN
Die Widersprüche
einer ganzen Welt
Vereint in einem kleinen
Dorf in Brandenburg.
Jackie Asadolahzadeh zog
vor fünf Jahren aus der
Großstadt aufs Land.
Es war schöner als
erwartet, schlimmer als
erwartet – und vor allem
viel komplizierter
I
FORTSETZUNG AUF SEITE 46
VVVergänglichkeit ergänglichkeit Schuppen, die verfallen, Pflan-
zen, die verrotten – und Nachbarn, die nicht mehr
vorbeikommen
JJJeder fege vor seiner Tür ... eder fege vor seiner Tür ... Jackie A., hier mit
schickem Strohbesen zu Socken im Tarnfleck