46 STIL WELT AM SONNTAG NR. 40 6. OKTOBER 2019
weiter: Elektroautos, die im Unkraut vor Trampoli-
nen parken.
Ich ließ mir einen Termin im Rathaus geben, weil
ich wissen wollte, wie ich mich in der Gemeinde nütz-
lich machen könnte. Seither schreibe ich Kolumnen
für Hefte, die mit dem Amtsblatt kostenlos in jedem
Briefkasten landen. Als das nahe Strandbad zum Ver-
kauf stand, schrieb ich einen Text mit dem Titel
„Komm, wir kaufen ein Strandbad“. Es ging um den
Vorschlag, das Bad als eine Art kollektiven Einkauf zu
erwerben, und es so für die Gemeinde zu erhalten.
375.000 Euro sollte es kosten. Bei 14.823 Bewohnern
im gesamten Mühlenbecker Land wären das 25,30 Eu-
ro pro Person gewesen, was ungefähr zwei Kästen Bier
entspricht. Und auch wenn die Idee nie ganz ernst ge-
meint war, der Erhalt des letzten freien Zugangs zum
See war mir ein echtes Anliegen.
Das Feedback war enorm. Jugendliche aus dem Dorf
boten ihre Hilfe beim Druck von Info-Plakaten an, Un-
bekannte wollten mir auf der Straße Geldscheine in
die Hand drücken. Die Regionalzeitung fing an zu be-
richten. Bewohner umliegender Dörfer schrieben E-
Mails. Die Idee eignete sich gut, um auch mit eher ab-
weisend wirkenden Menschen ins Gespräch zu kom-
men, wie mit dem Mann mit Glatze, der beim Bäcker
am Tisch saß. „So was geht hier nicht“, sagte er. Ich
hakte nach und seine Worte waren: „Du kennst das
Dorf nicht.“ Immerhin, am Ende bot er seine Unter-
stützung an. Damals verstand ich nicht, was er mir sa-
gen wollte. Inzwischen glaube ich, dass dieser Riss, der
seit den letzten Landtagswahlen noch ein ganzes
Stück tiefer durch Deutschland klafft, geradewegs
durch unser Dorf führt. In meiner subjektiven, stark
vereinfachten Vorstellung sitzen auf der einen Seite
des Abgrunds die Alteingesessenen hinter blickdich-
ten Hecken, mit grauen, oft verhärteten Gesichtszü-
gen und längst erwachsenen Kindern, die in die Stadt
abgewandert sind oder hier zu wütenden Typen mit
dreiviertellangen Cargo-Hosen und kläffenden Hun-
den wurden und über deren Klingel auf Blechschildern
steht: „Wir wollen hier nichts kaufen, nichts spenden
... unsere Religion nicht wechseln, also Tschüss.“
Auf der anderen Seite sitzen die Ahnungslosen,
Neue wie wir, von der gesunden Luft und erschwing-
lichen Grundstückspreisen angelockt. Leute, die kom-
men und gehen. Dazu zählt auch die Gruppe derer, die
im Dorf unsichtbar bleiben, weil sie in Berlin arbeiten
und ihre Freundschaften pflegen, ihr Haus im Grünen
nur zum Schlafen und am Wochenende nutzen. Nicht
zu vergessen all jene, die nur bei schönem Wetter in
ihren Ferienhäusern urlauben.
Und irgendwo zwischen diesen beiden Welten, auf
einer imaginären Hängebrücke über dem Abgrund,
entdeckte ich Dede*. Beinahe jeden Abend sitzt er am
Tresen der Gaststätte: kurz geschorene Haare, dicker
Bauch, wenige Worte. Irgendwann siegte die Neugier
und ich setzte mich auf den Barhocker neben ihn. Kei-
ne zehn Minuten später haben wir gestritten. Es ging
um ein Waldstück, das gerade abgeholzt wurde. Dede
fand das in Ordnung, weil nun eine Arztpraxis gebaut
werden könnte, die das Dorf dringender bräuchte als
Bäume. So ähnlich argumentierte auch der Waldbesit-
zer. Ich fand das falsch, weil mir nicht einleuchten
wollte, wieso man für eine Praxis einen ganzen Wald
roden muss. Jedenfalls wurde es etwas lauter und
dann ganz still, bevor er fragte, was ich trinken wolle.
„Echt jetzt?“, fragte ich. „Okay, einen Rotwein.“
Wenn wir uns begegnen, ist da seither eine kleine,
kaum merkliche Freude. „Na“, sage ich, und Dede
macht einen Spruch: „Wat is’ nu schon wieder mit dei-
ne Haare, haste in die Steckdose jefasst?“
DIE WANDELNDE DORFCHRONIKDede outete sich
bald als unkonventionelles Dorflexikon mit beachtli-
chem Wissensspektrum. Er kennt das schönste Heide-
fest, den Standort der letzten Fleischerei (sie ist ge-
schlossen) und die Geschichte der alten Motorenwer-
ke, deren Überreste im Wald von Moos und jungen
schlossen) und die Geschichte der alten Motorenwer-
ke, deren Überreste im Wald von Moos und jungen
schlossen) und die Geschichte der alten Motorenwer-
Birken überwuchert werden.
Vermutlich braucht es noch Jahre, um die Schichten
zu durchdringen, die mein Dorf bedecken, die Altlas-
ten, den emotionalen Asbest, über Generationen wei-
tergegeben. Ein Bewohner zeigte mir die Kopie eines
Dokuments aus den 1970er-Jahren. In diesem Proto-
koll der SED-Kreisleitung wurde mehrfach ein Paten-
schaftsvertrag des Dorfes mit einer Abteilung des MfS
erwähnt. Wie kann ein ganzes Dorf mit der Staatssi-
cherheit kooperieren? Es gibt hier noch viele unbeant-
wortete Fragen. Und es gibt sympathische Menschen
auf der anderen Seite des Abgrunds, deren Gesichter
offen sind und die einen mit seltsamen Geständnissen
konfrontieren, wie der Fußballer aus dem örtlichen
Verein, der bei einem längeren Gespräch auf einer
Bierbank beichtete: „Du wirst jetzt enttäuscht sein,
aber ick glaub an Gott.“
Einmal stieg ich in Berlin ins Taxi für eine lange
Tour nach Hause. Es stellte sich heraus, dass der Fah-
rer und ich im selben Dorf wohnten. Als er erfuhr, dass
ich Kolumnistin bin, wurde er misstrauisch: „Für die
Zeitung arbeiten Sie? Dann müssense aber immer sehr
systemtreu schreiben.“ „Nee“, antwortete ich. „Da
zensiert niemand meine Texte.“ „Na jetzt seinse mal
ehrlich, wir wissen doch beede, wo wir leben“, beharr-
te er, und da bekam ich schon so eine Ahnung. „Sie
kommen mir jetzt nicht mit der BRD GmbH?“ Selbst-
verständlich kam er mit der BRD GmbH und sämtli-
chen verschwurbelten Details, die dazugehören. Am
Ziel lächelte er und behauptete, dass er sich selten so
gut unterhalten habe. Dabei hatte er über weite Teile
der Nachtfahrt einen Monolog geführt, während ich
resigniert aus dem Fenster blickte.
LICHTSIGNALEDas Gefühl der Hoffnungslosigkeit
erreicht seinen Höhepunkt in den Wintermonaten,
wenn ab 16 Uhr Finsternis herrscht und selbst der Ein-
armige auf seinem Rad nicht mehr zu sehen ist. Dann
scheint es, als würde das ganze Dorf von der Dunkel-
heit verschluckt werden. Nicht einmal die Busfahrer
nehmen einen wahr. So erlebte ich es an der Haltestel-
le: Es war 17 Uhr, und der Bus raste vorbei. In einem
Akt der Verzweiflung – der nächste würde erst in einer
Stunde kommen – rannte ich auf die Fahrbahn, brüllte
„Anhalten!“ und riss meine Handtasche in die Luft.
Der Bus bremste zwanzig Meter weiter. Die Türen öff-
neten sich, und nachdem ich als einziger Fahrgast
Platz genommen hatte, erzählte der Fahrer, dass auf-
merksame Bewohner Taschenlampen mit sich führten,
damit sie ihm in der Dunkelheit Signale geben können.
Seither versuche ich, Signale zu senden, mit der Ta-
schenlampe, mit freundlichen Gesten oder Worten, an
den Busfahrer und fast jeden im Dorf, der des Weges
kommt. Besonders viele sind es ja nie.
In diesem Jahr hatte sich etwas verändert. Fast so,
als hätte es nie einen Riss gegeben. Zum ersten Mal
fühlte ich mich beim Heidefest aufgehoben, kannte
Bewohner und deren Eigenheiten inzwischen besser,
vermeintlich Verhärmte tauten auf, Vorurteile wurden
korrigiert. Und dann kamen die Wahlen. In jedem vier-
ten Haus wurde AfD gewählt. Auf der anderen Seite
bleibt der neu gewählte Bürgermeister der bisherige
von der SPD, einer mit italienischem Namen und tür-
kischstämmiger Ehefrau.
Das Strandbad am See hat inzwischen ein Arzt aus
dem Dorf gekauft. Sein Konzept für ein „Gesundbad“
mit Restaurant und kostenlosem Seezugang für alle
hat er kürzlich der Presse vorgestellt. Zeitgleich hat
der letzte Bäcker zugemacht. Ein Berliner, der hier je-
den Sommer mit seiner Familie verbringt, erzählte
mir von einem Fluchtversuch, den er als Jugendlicher
an der DDR-Grenze unternommen hatte und der im
Gefängnis endete. Der Bungalow gegenüber gehörte
einem ehemaligen Grenzsoldaten, der inzwischen ver-
storben ist. Sie lebten jahrelang beieinander, problem-
los, wie er sagt. In meinem Dorf zu leben heißt, mit
Widersprüchen zu leben.
*Name geändert
TJackie Asadolahzadeh ist langjährige Nachtleben-
reporterin und Kolumnistin beim Stadtmagazin „tip
Berlin“. Dort schreibt sie unter dem Namen Jackie A.
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WWWilde Gästeilde GästeEine Libelle genießt die Wärme der
Holzplanken in der Sonne
Brutzelt schönZweige dienen zum Anfeuern,
Holz, Kohle und Grill und -gut können folgen
JACKIE ASADOLAHZADEH
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Ruhe des LandlebensFrieden für die Katze – seit
der Fuchs ausgesperrt ist aus dem Garten