Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

D


a wird also der Regierungschef
einer Musterdemokratie vom
Obersten Gericht schuldig ge-
sprochen, das Gesetz gebrochen
und das Parlament seiner Rechte beraubt
zu haben.
Und was macht dieser Regierungschef?
Gibt er klein bei? Tritt er zurück? Entschul-
digt er sich wenigstens?
Nicht, wenn er Boris Johnson heißt.
Es ist der Mittwochabend einer weite-
ren irrsinnigen Brexit-Woche, als Großbri-
tanniens Premier Johnson in London vor
rund 600 Abgeordnete tritt, die nach sei-
nem Willen eigentlich zur Untätigkeit ver-
dammt sein müssten. Aber nachdem der
Supreme Court die Zwangspause des Un-
terhauses für nichtig erklärt hat, drängen
sich alle wieder auf den viel zu schmalen
Bänken im Palast von Westminister. Und
sollte jemand gehofft haben, dass der
55-Jährige jetzt, nachdem er höchstrich-
terlich verurteilt wurde, endlich zur Räson
komme, sieht er sich bereits nach wenigen
Sätzen getäuscht.
»Das Gericht hat unrecht«, poltert John-
son und hebt an zu einer wütenden Atta-
cke: gegen Politiker, die die britischen
Wähler »als Geiseln nehmen« und aus lau-
ter »Feigheit« zu Richtern rennen, statt
sich einem ehrlichen Kampf zu stellen; ge-
gen die Verräter in allen Parteien, die ihm
ein »Kapitulationsgesetz« aufgezwungen
haben; gegen all jene dunklen »Kräfte« im
Land, die das einzig gültige Urteil mit
Füßen treten – »das Urteil des Volkes«.
»Komm schon, Mann!«, ruft er dann noch
hinüber zu Labourchef Jeremy Corbyn,
als wollte er die Sache jetzt und hier und
ein für alle Mal klären.
Es ist ein Auftritt, wie ihn auch das leid-
geprüfte Unterhaus noch nicht erlebt hat.
Abgeordnete schreien auf. Abgeordnete
kämpfen mit den Tränen. Abgeordnete,
auch aus den Reihen der Tory-Partei, ver-
suchen den Irrwisch da unten in der Arena
zu bremsen. Aber Johnson lässt sich nicht
mehr bremsen.
Alle da draußen sollen sehen, wie zornig
er ist. Boris Johnson, den viele Briten noch
immer für einen gemäßigten Konservati-
ven halten, schwingt sich in diesen Minuten
endgültig zum Volkstribun auf. Er reißt er-
neut Brücken, die zu einem Brexit-Kom-
promiss führen könnten, mutwillig ein. In
einem Land, das längst aus der Fassung ist,
schürt er vom höchsten Regierungsamt aus
weiter die Wut auf die da oben.
Er ist das Volk.
Und er tut das alles nicht im Affekt,
nicht in der Hitze des Gefechts – sondern
ganz offensichtlich aus kaltem Kalkül.
Boris Johnson, der den Brexit immer
für einen Klacks hielt, wenn er vom Rich-
tigen – ihm – gesteuert werde, hat sich in
gerade einmal zwei Monaten im Amt in
eine verzweifelte Lage manövriert. Er


weiß, dass er Neuwahlen, die früher oder
später kommen werden, nur gewinnen
kann, wenn er die frustrierten, die erbit-
terten, die ungehaltenen Briten auf seine
Seite zieht. Mehr als drei Jahre nach dem
Brexit-Referendum gibt es immer mehr
davon. Aber Johnson muss sie loseisen
vom Original-Wutprediger Nigel Farage.
Der Chef der Brexit-Partei hat Johnsons
Tories bei der jüngsten Europawahl im
Mai beinahe atomisiert und gedroht, das
bei nächster Gelegenheit wieder zu tun.
Johnson will sich immunisieren gegen
diese Gefahr von rechts, und das tut er,
indem er Farage immer ähnlicher wird. Er
zwingt »eine einst liberale konservative
Partei mehr und mehr in eine populistische
Richtung«, sagt der Extremismusexperte
Matthew Goodwin von der University of
Kent. Aber niemand kann vorhersagen,
ob diese hochriskante Taktik aufgehen
wird. Und ob die Geister, die Johnson ruft,
je wieder zurückgedrängt werden können
in die Flasche.
Johnsons Spiel auf der populistischen
Klaviatur begann unmittelbar, nachdem
er von den konservativen Parteimitglie-
dern ins Amt gehievt worden war: Mitte

August beschuldigte er Abgeordnete, auch
Parteifreunde, die einen vertragslosen
Bruch mit der EU am 31. Oktober verhin-
dern wollen, einer »schrecklichen Art von
Kollaboration«. Das Volk gegen die Volks-
vertreter, das ist die Frontlinie, die er zog –
und auf welcher Seite er sich sieht, daran
ließ er nie einen Zweifel.
Dass er es auf Neuwahlen anlege, wies
er lange weit von sich; »es ist das Letzte,
was ich will«. Tatsächlich aber haben sich
die Downing-Street-Strategen offenbar
von Anfang an auf einen Urnengang vor-
bereitet. Sie nehmen an, dass die prekären
Mehrheitsverhältnisse im Parlament prak-
tisch keinen Spielraum für einen wie auch
immer gearteten Brexit-Ausgang lassen.
Um Labour-Wähler zu umgarnen, ver-
sprach Johnson Milliardengeschenke für
den nationalen Gesundheitsdienst NHS
und für vernachlässigte Kommunen. An-
hänger der Brexit-Partei köderte er mit
der Aussicht auf 20 000 zusätzliche Stellen
bei der Polizei. Sein zentrales Versprechen
aber lautete, das Land am 31. Oktober »un-
ter allen Umständen« aus der EU zu füh-
ren, und sei es mit einem harten Schnitt.
Damit aber war klar, dass er sehr bald
Wahlen brauchen würde. In die zöge er
als der Mann, der den Brexit um jeden

Preis will. Mit komfortabler Mehrheit
könnte er, falls der Plan aufgeht, entweder
noch einen Last-Minute-Deal mit Brüssel
schließen und durchs Parlament peit-
schen – oder die EU gruß- und vertragslos
verlassen. Und der erfolgversprechendste
Weg zu Neuwahlen wäre unter diesen Um-
ständen, wenn ihn die »Kollaborateure«
im Parlament per Misstrauensvotum stürz-
ten. Das ließe sich in einem Populisten-
wahlkampf wunderbar ausschlachten.
Zusehends verschärfte Johnson in den
vergangenen Wochen seine Rhetorik ge-
gen die gewählten Volksvertreter und alle,
die ihn auf dem Weg zum wahren Brexit
hindern wollen. Neben der wöchentlichen
Fragestunde für die Abgeordneten im Par-
lament hält er neuerdings über Facebook
eine »Volksfragestunde« ab, in der sich die
Wähler direkt an ihn wenden können.
Fast täglich tauchen vor dem Westmins-
terpalast Claqueure auf, die auf riesigen
Schildern die »Verräter« im Unterhaus an-
prangern und versprechen: »Wir werden
niemals kapitulieren«. Auffällig dabei:
Während den Pro-EU-Demonstranten zu
Theresa Mays Zeiten immer Menschen ge-
genüberstanden, die für irgendeine Form
des Brexits stritten, dominieren unter John-
son jene die Straße, die den harten Bruch
wollen. Ihr Motto: »No Deal is Ideal«.
Dann, Ende August, kündigte der Re-
gierungschef den nächsten Eskalations-
schritt an: Er werde Mitte September den
Parlamentsbetrieb schließen, um ein neues
Regierungsprogramm für seine Amtszeit
zu erarbeiten. Dieses Prorogation (Verta-
gung) genannte Verfahren ist durchaus üb-
lich, es dauert für gewöhnlich aber nur vier
bis sechs Tage – und nicht, wie von John-
son geplant, fünf Wochen.
Die Abgeordneten schäumten. Der Ver-
dacht liegt nahe, dass Johnson sie mit dem
provokativen Schritt zwingen wollte, ein
Misstrauensvotum gegen ihn einzuleiten.
Wäre ein solches Votum erfolgreich und
gelänge es daraufhin keiner anderen Partei,
eine Mehrheit im Unterhaus zu organi -
sieren, gäbe es automatisch Neuwahlen –
aber den Termin würde Johnson festsetzen.
Und niemand könnte ihn dann noch hin-
dern, den 31. Oktober untätig verstreichen
zu lassen, um anschließend als No-Deal-
Triumphator in den Wahlkampf zu ziehen.
Statt in diese Falle zu tappen, nutzten
die Parlamentarier die wenigen Tage bis
zur Zwangspause, um im Eilverfahren ein
Gesetz zu verabschieden, das Johnson
empfindlich traf. Er muss nun bis zum EU-
Gipfel Mitte Oktober ein Austrittsabkom-
men mit Brüssel schließen oder dort um
eine Verlängerung der Brexit-Frist über
Halloween hinaus bitten. Johnson hat das
ausgeschlossen, er würde, so sagt er, »lie-
ber tot im Graben liegen«.
Dutzende Abgeordnete hatten zudem
Klage gegen die Zwangspause des Parla-

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 87

Ausland

In einem Land, das
längst aus der Fassung
ist, schürt er weiter
die Wut auf die da oben.
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