Hinter dem Projekt Wikipedia steht die Wi-
kimedia Foundation, die nach eigenen An-
gaben freies Wissen und freie Inhalte för-
dern möchte. Die gemeinnützige Gesell-
schaft mit Hauptsitz in San Francisco hat
mehr als 300 Angestellte, die sich unter an-
derem um die Software, die technische In-
frastruktur und die Tausenden ehrenamtli-
chen Autoren kümmern. Gegründet wurde
die Gesellschaft 2003 von dem damals
37 Jahre alten Amerikaner Jimmy Wales,
den Wikipedia-Nutzer von seinen Spen-
denaufrufen her kennen dürften (2018 hat
Wikimedia Deutschland 3,6 Millionen Eu-
ro an Spenden eingenommen). „Unser An-
spruch muss es sein, so gut zu sein wie der
Brockhaus!“, sagte Wales über sein Werk.
Auch in Deutschland gibt es eine natio-
nale Länderorganisation. Sabria David, 52,
ist Vize-Präsidentin von Wikimedia
Deutschland e. V.
SZ: Das Erscheinungsbild von Wikipedia
hat sich in 18 Jahren kaum verändert, alle
Moden scheinen an der Website vorbeizu-
gehen. Ist das Absicht?
Sabria David: Wikipedia liegt bei den meist-
besuchten Internetseiten der Welt auf Platz
fünf, ist also so arriviert, da müssen wir
nicht mit jeder Mode gehen. Aber wir schau-
en natürlich schon, welche Veränderungen
der Nutzungsgewohnheiten für die Zu-
kunft wichtig sind. So gibt es jetzt zum Bei-
spiel den Visual Editor zum leichteren Bear-
beiten von Artikeln und die Einbindung
von Audio- und Videomaterial. Wir als
Organisation können auch nicht einfach Än-
derungen einführen, ohne das mit den Au-
toren abzustimmen. Änderungen müssen
auch deren Wünschen entsprechen.
Die Wikimedia Foundation entwickelt ge-
rade ein Leitbild, was Wikipedia im Jahre
2030 sein möchte. Haben Sie eine Ant-
wort gefunden?
Wir wollen ein adäquates Bild der Gesell-
schaft abbilden...
...also auch dafür sorgen, dass künftig
mehr Frauen zum Mitschreiben kom-
men? Etwa 90 Prozent aller Wikipedia-
Einträge werden von Männern verfasst.
Ja, das heißt es auch. Wikipedia ist der Spie-
gel des Wissens derer, die darin schreiben.
Deshalb ist Diversität so wichtig, dass also
möglichst viele verschiedene Stimmen
und Perspektiven vertreten sind.
Wie wollen Sie das erreichen?
Es gibt mehrere Wege. Zweimal im Jahr
werben wir etwa im Banner um neue Auto-
ren. Im Rahmen unserer Community-För-
derung unterstützen wir lokale Räume vor
Ort, in denen sich Interessierte und erfah-
renden Autoren begegnen und austau-
schen können. Speziell für Frauen gibt es
„Women edit“-Veranstaltungen in ganz
Deutschland, auf denen Wikipedianerin-
nen auftreten und Teilnehmerinnen bei ih-
ren ersten Schritten helfen.
Ein anderes Problem: Viele Einträge in
der deutschen Wikipedia sind veraltet. Er-
stickt Wikipedia am eigenen Erfolg?
Am Anfang war es natürlich leichter, Wiki-
pedia-Artikel auf dem neuesten Stand zu
halten, weil viel weniger Artikel zu pflegen
waren. Wir wollen das Bewusstsein schär-
fen, dass jeder Mensch Artikel ändern und
schreiben kann. Manchmal sitze ich im
Bus und bin ganz berührt bei dem Gedan-
ken, dass jeder im Bus Wikipedia kennt.
Was das für eine Marke ist! Aber es ist mir
ein Rätsel, warum jeder es kennt und doch
nur so wenige mitschreiben.
Haben Sie eigentlich mal erwogen, eine
Redaktion mit der Pflege von Wikipedia-
Artikeln zu beauftragen?
Was sollte das für eine Fachredaktion sein,
bei weltweit fast 50 Millionen Artikeln in
mehr als 300 Sprachen? Nein, da stehen
wir Nutzer in erster Linie alle selbst in der
Verantwortung.
interview: thorsten schmitz
K
ann man der Wikipedia noch
trauen? Auf jeden Fall ist es in
den vergangenen Jahren
schwieriger geworden. Das Pro-
blem der veralteten, überhol-
ten Artikel ist das augenscheinlichste –
aber es ist nicht das einzige.
Grundsätzlich kann an der Wikipedia je-
der mitarbeiten. Wer einen Artikel verän-
dern will, gelangt über einen Reiter am
Kopf jedes Textes in den Bearbeitungsmo-
dus. Unter dem Reiter „Versionsgeschich-
te“ kann man sich außerdem ansehen, wel-
che Änderungen an einem Artikel vorge-
nommen wurden seit seiner Entstehung.
Wenn ein neuer Autor etwas ändert, muss
ein erfahrener Wikipedianer die Änderun-
gen sichten und freischalten, be-
vor sie veröffentlicht werden. Je-
de Aussage muss vom Autor be-
legt werden. Als weitere Kon-
trollinstanz können schließlich
die Administratoren eingreifen.
Wikipedia steht jedem offen
- und doch fehlt es dem Projekt
an neuen Autoren, an geneigten
Experten, die ihr Wissen ein-
bringen. Die Folge dieses Fach-
kräftemangels: Bei einem so
wichtigen Themenkomplex wie
„Nationalsozialismus“ gehören
nicht etwa die angesehensten
Experten und renommiertesten
Historiker, sondern ein arbeits-
loser Klavierlehrer und ein aus
dem Schuldienst ausgeschiede-
ner Lateinlehrer zu den aktivs-
ten Autoren.
Ein weiteres systemimma-
nentes Problem ist der Zirkel-
schluss der Quellen: In der Wiki-
pedia steht ein Sachfehler, der in der Publi-
kation einer seriösen Zeitung wiederholt
wird; dieses Medium gilt wiederum als rele-
vante Quelle. Ein klassischer Fall ist der
Streit um die angebliche Doppelstaatsbür-
gerschaft von Lukas Podolski: Nachdem
Podolski bei der Fußball-EM 2008 zwei To-
re gegen Polen geschossen hatte, verlangte
der frühere nationalpopulistische polni-
sche Erziehungsminister, dem deutschen
Nationalspieler den polnischen Pass weg-
zunehmen. Podolski erklärte dazu, er habe
gar keinen polnischen, sondern nur einen
deutschen Pass. Doch tauchte schon am
Tag nach dem Schlagabtausch auf Wikipe-
dia die Information auf, der im polnischen
Gleiwitz geborene Podolski sei Doppel-
staatler – unter Berufung auf den Ex-Mi-
nister. Und wiederum einen Tag später
stand dies in der Presse, unter anderem im
Stern; die Autoren hatten diese falsche In-
formation offenkundig auf Wikipedia ent-
deckt. Diese wurde anschließend auf den
Diskussionsseiten des Online-Lexikons
heftig verteidigt: So habe die Information
schließlich imSterngestanden.
Auch gezielte Manipulation ist in Wiki-
pedia-Artikeln zu finden, durch „Schön-
schreiber“ etwa, die Artikelinhalte „opti-
mieren“. Ein Beispiel aus der Wirtschaft:
Im Artikel über die Gauselmann-Gruppe,
den Aufsteller von Spielautomaten, wurde
der Begriff „Spielsucht“ durch die harmlo-
sere Wendung „vorübergehend übertriebe-
nes Spielverhalten“ ersetzt; auch wurde ei-
ne Passage über die Lobbytätigkeit des Un-
ternehmens entfernt. Wer nun hat den Arti-
kel verändert?
Grundsätzlich gilt: Ein Neu-
Autor braucht nicht unbedingt
ein eigenes Profil bei Wikipedia.
Der Autor, der den Gauselmann-
Artikel umschrieb, hatte kein ei-
genes Benutzerkonto, gab also
weder ein Pseudonym noch den
Klarnamen an. In solchen Fäl-
len wird die IP-Adresse ange-
zeigt – und diese wies in die PR-
Abteilung des Unternehmens.
Oder: Im Themenbereich Me-
dizin wurde ein Vielschreiber
als Angestellter des Pharmakon-
zerns Merck enttarnt; ihm konn-
te nachgewiesen werden, dass
er Informationen über Neben-
wirkungen von Medikamenten
in Wikipedia verharmlost hat.
Zudem wird ihm vorgeworfen,
das Kapitel über die Geschichte
seines Arbeitgebers während
der NS-Zeit „weißgewaschen“
zu haben: Er hat das Thema in einen neuen
Artikel ausgelagert, auf den man aber nur
bei gezielter Suche stößt. Auf den Merck-
Artikel wird täglich etwa 350-mal geklickt,
auf den ausgelagerten Text über die Ge-
schichte des Konzerns lediglich 16-mal.
Auch externe Lohnschreiber befassen
sich mit der Optimierung von Artikeln. Der
Inhaber einer Hamburger PR-Agentur et-
wa musste zugeben, dass er Wikipedia-Ar-
tikel über Lebensmittelproduzenten schön-
schreibt. Die Autoren spielen dabei oft
über Bande: Da die Informationen in Wiki-
pedia mit Quellen versehen sein müssen,
schaffen die Autoren diese Quellen selbst
über gezielt platzierte Artikel in Online-Zei-
tungen. Oder sie handeln als Tandem und
verweisen aufeinander.
Oft sind es aber Überzeugungstäter, die
Artikel manipulieren. Betroffen sind in ers-
ter Linie Themenfelder, auf denen traditio-
nell viele Dogmatiker unterwegs sind: Poli-
tik, Zeitgeschichte, Weltanschauung, Um-
weltschutz, Naturheilkunde. Der Auf-
wand, den die getriebensten unter den
Autoren betreiben, ist beachtlich. Das Mit-
glied einer linken Gruppierung, das an-
fangs unter dem Pseudonym „Jesus-
freund“ schrieb, bearbeitete vor allem Arti-
kel zur Zeitgeschichte – und das bis zu
16 Stunden am Tag. Kritiker, die auf seine
permanenten Regelbrüche hinwiesen (auf
Edit-Wars und unerlaubte Änderungen
auf Diskussionsseiten etwa) wurden von
Administratoren gesperrt, die offensicht-
lich mit ihm befreundet sind.
Wer nun widmet sich der Aufdeckung
der Klüngel und Missstände?
Das politische Milieu, aus dem
einige der Rechercheure kom-
men, ist so obskur wie jenes, aus
dem viele der Enttarnten stam-
men.
Zu den fleißigsten Ermittlern
gehören Markus Fiedler und
Dirk Pohlmann, sie betreiben
den Video-Blog „Geschichten
aus Wikihausen“. Dabei gehen
sie den digitalen Spuren der Au-
toren nach, suchen Hinweise in
deren Wikipedia-Profilen. Die
beiden sind keine objektiven
Journalisten, sondern haben ih-
re eigene Agenda. Sie beschrei-
ben eine Unterwanderung der
Wikipedia durch linksradikale,
dabei proamerikanische und
proisraelische Gruppen. Sie
selbst treten beim Staatssender
Russia Today auf und liefern Bei-
träge zu umstrittenen Internet-
portalen wie „KenFM“, die eine Steuerung
der „Mainstream-Medien“ durch eine ame-
rikafreundliche Lobby propagieren.
„Die dunkle Seite der Wikipedia“ heißt
ein Film, den Fiedler zusammen mit Frank
Michael Speer produziert hat, er widmet
sich dem „Schlechtschreiben“ – ein Pro-
blem, das mittlerweile so gewaltig ist, dass
Gerichte sich damit befassen.
Diese Methode der Diffamierung auf Wi-
kipedia ist simpel: In Personenartikeln
werden Einzelmeinungen über politische
Gesinnungen als lexikalisch relevant einge-
fügt. Oder es werden Informationen ge-
zielt weggelassen. So sieht sich etwa der
Dortmunder Wirtschaftsprofessor Walter
Krämer bei Wikipedia diskreditiert, weil
dort zu lesen ist, er habe Vorträge bei AfD-
Veranstaltungen gehalten. Nicht aufge-
führt ist, dass er auch bei der CDU, der SPD
und der FDP aufgetreten ist. Das Anonymi-
täts-Prinzip auf Wikipedia hilft den Ver-
leumdern. Die Autoren müssen ihre Klar-
namen nicht nennen. Zwei Gerichtsurteile
sollten den gemeinnützigen Verein hinter
der Webseite, Wikimedia, nun eigentlich
dazu zwingen, diese Vorgabe zu überden-
ken: 2018 hat das Landgericht Berlin dem
Informatikprofessor Alexander Waibel
Recht gegeben. Er hatte geklagt, weil in ei-
nem Wikipedia-Artikel über ihn angeführt
war, dass er „mit Hilfe deutscher Steuergel-
der“ für den US-Geheimdienst NSA gear-
beitet habe. Als Quelle war ein Bericht des
ARD-Magazins „Fakt“ angeführt, der aller-
dings später korrigiert wurde – doch dies
schlug sich nicht in Wikipedia nieder. Das
Gericht befand, dass die fal-
schen Informationen eine straf-
bare „üble Nachrede“ darstell-
ten. Auch die anonym agieren-
den Autoren müssten „presse-
mäßigen Sorgfaltsanforderun-
gen“ genügen. Bislang hatte Wi-
kimedia für sich rechtliche Im-
munität in Anspruch genom-
men, mit der Begründung, man
stelle lediglich eine Plattform
zur Verfügung, sei aber nicht
für Inhalte verantwortlich.
Das zweite Gerichtsurteil,
das ein Grundprinzip von Wiki-
pedia tangiert, fällte im Febru-
ar dieses Jahres die Pressekam-
mer des Landgerichts Ham-
burg. Es entlastete die Macher
des „Wikihausen“-Blogs Poh-
lmann und Fiedler. Sie hatten
die Identität eines Vielschrei-
bers mit dem Pseudonym Fe-
liks aufgedeckt. Ihre Recher-
chen ergaben, dass Feliks bei der Partei
Die Linke aktiv war – und in Wikipedia-Ar-
tikeln über etwa 50 ihm unliebsame Partei-
genossen gezielt Negatives eingefügt, sie
als „antizionistisch“ oder „antisemitisch“
bezeichnet hat.
Der User versuchte, gerichtlich durchzu-
setzen, dass sein echter Name nicht mehr
genannt werden darf. Die Hamburger Rich-
ter aber befanden in ihrem Urteil, dass hier
das „öffentliche Informationsinteresse“
die Persönlichkeitsrechte übersteige.
Schließlich habe er Artikel über einzelne
Personen in einer Weise beeinflusst, dass
sie „den Maßstab der Objektivität in rele-
vanter Weise verlassen“; er habe sie an ei-
ne „Art Gewissenspranger“ gestellt. Sein
Verhalten sei geeignet, „das Vertrauen auf
die dort lesbaren Informationen zu er-
schüttern“. thomas urban
Wer eine Frage hat, schaut erst mal auf Wi-
kipedia nach – da geht es vielen Wissen-
schaftlern nicht anders als Laien. Stephan
Rixen, 52, ist Sprecher bei „Ombudsman
für die Wissenschaft“, einem Gremium der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, das
sich mit Fragen der wissenschaftlichen In-
tegrität befasst. Der Hochschullehrer an
der Universität Bayreuth ist Jurist, und als
solcher klickt er „schon mal in die englisch-
sprachige Wikipedia, die oft einen guten
ersten Überblick über Fragen zum anglo-
amerikanischen Rechtskreis liefert“.
SZ: Herr Rixen, wie wird Wikipedia im
Hochschulbetrieb als Quelle genutzt?
Stephan Rixen: Es gibt wenig Austausch
darüber, wie die Wikipedia genau genutzt
wird. Meine Vermutung: Viele
Lehrende nutzen das wie ich als
erste Informationsquelle.
Wenn man zum Beispiel schnell
wissen möchte, wie groß ein
Bundesland ist oder wie viele
Landkreise es hat. Die Zurück-
haltung nimmt aber zu, je wich-
tiger die Themen sind und
wenn man präzise argumentie-
ren muss. Da herrscht bei Leh-
renden doch eher ein großer Vor-
behalt gegenüber dem Online-
Lexikon.
Wie skeptisch sind denn die Stu-
denten?
Vorbehalte gegenüber Wikipe-
dia sind da wohl nicht so ausge-
prägt wie bei Lehrenden. Natür-
lich gibt es immer Studierende,
die sorgfältig mit Quellen umge-
hen, das sind meines Erachtens
die allermeisten – aber es gibt
eben auch andere, die das nicht
tun und weder die gedruckte Literatur ver-
nünftig auswerten noch Internetquellen.
Sprechen Sie diese Studenten darauf an?
Ja. Wenn Leute offensichtlich nur mit Inter-
netquellen arbeiten und das noch nicht ein-
mal im Ansatz abgleichen mit anderen
Quellen, dann weise ich sie darauf hin.
Manche zum Beispiel googeln etwas und
nehmen das erstbeste Ergebnis, das
kommt, so wirkt das jedenfalls. Diesen Stu-
dierenden muss erst einmal der Sinn für ei-
ne differenzierte Einschätzung der Quali-
tät der Quellen vermittelt werden. Ohne zu
sehr verallgemeinern zu wollen, würde ich
schon sagen: Je jünger Studierende sind,
desto eher werden Internetquellen und ge-
rade auch Wikipediaquellen unreflektiert
genutzt. Das fällt mir zum Beispiel bei An-
fängerseminaren auf, wo erste längere
schriftliche Arbeiten vorgelegt werden
müssen.
Eine Generationenfrage also?
Nun, die Grundfrage, was relevantes Wis-
sen ist, wo ich aktuelle, richtige und wo ich
nur veraltete, falsche Informationen finde,
die hat sich nicht verändert. Aber das Pro-
blem ist durch das Internet radikalisiert
und beschleunigt worden. Wir müssen
einer Generation junger Menschen, die
ihre Informationen überwiegend online
bezieht, das Bewusstsein vermitteln, dass
sehr viele gedruckte Aufsätze oder Bücher
nicht im Internet verfügbar sind – und
dass es lohnenswert ist, sich auch mit
solchen Quellen auseinanderzusetzen.
Welche Entwicklung können Sie bei On-
line-Quellen erkennen?
Ein großes Problem, mit dem
auch Wikipedia und andere On-
line-Wissensquellen fertig wer-
den müssen, ist eine sich welt-
weit ausbreitende Wissen-
schaftsfeindlichkeit, die so tut,
als gebe es verlässliches Wissen
nicht und als sei alles irgendwie
Ansichtssache. Da muss man ge-
genhalten, indem man jetzt
nicht gegen Wikipedia ist oder
generell gegen das Internet, das
wäre ja absurd. Wir müssen viel-
mehr an Schulen und Universitä-
ten frühzeitig Medienkompe-
tenz aufbauen im Umgang gera-
de mit Wissensangeboten im
Netz.
Die Qualität der Artikel steht
und fällt mit den Autoren. Hal-
ten Sie es für richtig, dass Wiki-
pedia-Autoren anonym schrei-
ben?
Nein, ich glaube, dass hier Trans-
parenz nötig ist. Natürlich klingt das erst
mal gut, nach demokratischer Wissensver-
waltung, dass bei Wikipedia fast jeder, der
meint, etwas zu wissen, sein Wissen an-
onym präsentieren kann. Das allein ge-
währleistet aber nicht, dass das Wissen ver-
trauenswürdig ist. Die Frage ist somit: Wie
kann die Qualität dauerhaft gesichert wer-
den?
Durch Klarnamenpflicht?
Bei allen Nachteilen, die Namensnennung
auch haben kann: ja, im Sinne einer Selbst-
verpflichtung. Der Name hilft einzuschät-
zen, ob sich eine Person schon länger mit
dem Thema beschäftigt, weil sie zum Bei-
spiel zu diesem Thema schon geforscht
und publiziert hat. Bei der Anonymität
bleibt das ja alles im Dunkeln.
interview: thorsten schmitz
Eigentlich ist das Foto auf dem Bildschirm
nicht besonders gelungen. Es zeigt die
Kreuzung am Luise-Kiesselbach-Platz in
München-Sendling. Bäume und Schilder
verdecken den Blick auf die beiden Zwiebel-
türmchen von Münchens ältestem Senio-
renheim im Hintergrund. Ein Linienbus
mit kaputter Anzeige fährt von links ins
Bild.
Henning Schlottmann sitzt vor seinem
Laptop und strahlt. „Toll, oder?“
Es ist ein Mittwochabend im Septem-
ber. Im „WikiMUC“, wie die Münchner
Wikipedianer ihren kleinen Veranstal-
tungsraum im Zentrum der Stadt nennen,
haben sich sechs Männer und drei Frauen
um einen großen Tisch versammelt. Auf
den meisten Bildschirmen der Computer
vor ihnen haben sie einen Wikipedia-Arti-
kel geöffnet. Jeden Mittwoch treffen sie
sich hier, um sich über ihre
ehrenamtliche Mitarbeit an der
Online-Enzyklopädie auszutau-
schen oder um an gemeinsa-
men Projekten zu arbeiten. An
diesem Abend geht es darum,
die Artikel über die Münchner
Stadtbezirke besser zu bebil-
dern. Den Wikipedia-Stamm-
tisch in München gibt es seit
2003, er war damals der erste
weltweit.
Schlottmann, 49 Jahre alt
und Jurist, schreibt und bearbei-
tet seit 15 Jahren Artikel der
deutschsprachigen Wikipedia.
Seit Kurzem ist sein Foto von
der Luise-Kiesselbach-Kreu-
zung das erste, was ein Wikipe-
dia-Nutzer sieht, wenn er den Ar-
tikel über den Stadtbezirk Send-
ling-Westpark aufruft. Schlott-
mann kümmert sich inoffiziell
um das Programm der Münch-
ner Gruppe und betreut die offene Sprech-
stunde an Mittwoch- und Freitagnachmit-
tagen.
Schlottmann kann anschaulich davon
erzählen, wie hoch die Hemmschwelle für
manchen ist, mitzuschreiben. Fast jede
Woche, sagt er, kämen Menschen ins
WikiMUC, die einen Wikipedia-Artikel
schreiben wollen, sich das aber allein nicht
zutrauten. Erst kürzlich habe ein pensio-
nierter Chirurg einen Textentwurf über
den Chemiker und Glas-Unternehmer Jo-
sef Anton Riedel vorbeigebracht, den der
Wikipedianer anschließend in die Online-
Enzyklopädie integriert habe. Die Motivati-
on des Neu-Autors ist wie so oft persönli-
cher Natur: Sein Großvater war Riedels
Nachbar gewesen.
Das WikiMUC ist einer von fünf Räu-
men dieser Art in Deutschland. Daneben
gibt es in Berlin, Hamburg, Hannover und
Köln feste Orte, an denen sich Wikipedia-
ner regelmäßig treffen. Knapp ein Dut-
zend bilden in München den harten Kern,
30 bis 35 den erweiterten, schätzt Schlott-
mann. Neben der wöchentlichen Runde
verabreden sie sich einmal im Monat zum
Stammtisch und machen hin und wieder
mal Ausflüge, gerade sind sie auf die Bre-
cherspitz gewandert.
Der Student Michael Schönitzer, 29, en-
gagiert sich online und offline in der
Münchner Community, seit seinem 16. Le-
bensjahr. Warum? Für ihn sei die Wikipe-
dia nicht nur ein Hobby, sondern eine Über-
zeugung: „Wir sammeln das Wissen der
Welt und stellen es der Welt zur Verfü-
gung.“ Er weiß um das größte Problem,
den Mangel an Autoren, aber er
sieht auch Fortschritte: Projek-
te wie Wikidata, eine mit Wiki-
pedia verknüpfte Datenbank,
können den Autoren Arbeit ab-
nehmen, indem sie beispielswei-
se Einwohnerzahlen in den ent-
sprechenden Artikeln automa-
tisch aktualisieren. Doch die
Umstellung geht schleppend
voran, in der Community sind
viele skeptisch.
Kathrin Herwig, Pseudonym
„Kaethe17“, ist etwa seit einem
Jahr dabei. Die 45 Jahre alte Gra-
fikerin kämpft dafür, dass die –
sowohl in Artikeln als auch un-
ter den Nutzern – stark unterre-
präsentierten Frauen auf der
Plattform sichtbarer werden.
Deswegen schlug sie vor, in
einem Artikel über eine Musike-
rin den aus ihrer Sicht sexisti-
schen Begriff „DJane“ durch
das generische DJ zu ersetzen – und ernte-
te einen Mini-Shitstorm. Zwei mutmaß-
lich männliche Nutzer, straften sie mit „Ver-
balwatschen“, wie sie sagt. Sie zog sich aus
der Diskussion zurück.
In der Runde im WikiMUC haben alle
schon mal ähnliche Erfahrungen gemacht.
Herwig sagt: „Der Austausch mit den ande-
ren erdet mich nach solchen Online-
Streits.“ Trotz solcher Erfahrungen denkt
sie nicht ans Aufhören. „Wikipedia ist zu
98 Prozent eine gute Sache, und die übri-
gen zwei Prozent lassen sich aushalten.“
Deshalb versuche sie weiterhin, neue weib-
liche Wikipedianer für die Plattform zu ge-
winnen. „Man wird den Umgangston nicht
ändern können, solange nicht mehr Frau-
en mitmachen.“ caspar von au
Fachkräftemangel
DieManipulatoren: Auf Wikipedia toben sich auch Autoren aus, die Halb- und Unwahrheiten,
Beschönigungen und Diffamierungen verbreiten
„Großer Vorbehalt“
Die Wissenschaftler: Wie geht der akademische
Betrieb mit Wikipedia als Quelle um?
„Ein Rätsel“
Die Macher: Wie geht der Wikimedia-Verein
mit den Problemen des Online-Lexikons um?
Offline
Der Stammtisch: Wer sind die Autoren,
die ehrenamtlich ihre Artikel verfassen?
Seit 2001 gibt es eine chinesische Versi-
on, und zunächst äußerte sich selbst die
Staatspresse begeistert. Doch bald rie-
fen einige Nutzer bei sensiblen Themen
zu mehr Zurückhaltung auf. Viele Auto-
ren übten daraufhin Selbstzensur bei
Artikeln, etwa über Mao Zedong und
über Taiwan. 2004 wurde die Seite vor
dem 15. Jahrestag des Massakers auf
dem Platz des Himmlischen Friedens
zum ersten Mal für kurze Zeit komplett
gesperrt. 2005 war die Seite für mehr als
ein Jahr in China nicht zu erreichen. Seit
diesem Frühjahr ist Wikipedia im Land
gesperrt. Die größte chinesische Kopie
heißt Baidu Baike, sie gehört zur Suchma-
schine Baidu. Gestartet 2006, ist die
Plattform inzwischen auf mehr als 15 Mil-
lionen Artikel in 28 Sprachen angewach-
sen. Baidu verspricht Gleichheit, Team-
work und Freiheit für seine Nutzer – und
das in Einklang mit den Gesetzen der
chinesischen Regierung. Einträge zu
politisch unliebsamen Themen finden
sich deshalb nicht. LEA DEUBER
Etwa jede zwanzigste Anfrage bei Wiki-
pedia weltweit richtet sich an die russi-
sche Version. Die meisten dieser Anfra-
gen kommen aus Russland selbst. Doch
auch die Einwohner der meisten ande-
ren ehemaligen Sowjetländer nutzen
das russische Wikipedia häufiger als die
jeweils eigene Version. Die russische
Regierung indes möchte ein zweites
Wikipedia schaffen, das sich auf die
„Große russische Enzyklopädie“ stützen
und bis April 2022 fertig sein soll. Bis
dahin investiert sie mehr als 27 Millio-
nen Euro in das Projekt. Bereits jetzt
versucht sie, Wikipedia-Inhalte zu kon-
trollieren. Ihre Internet-Zensurbehörde
heißt Roskomnadsor. Seit 2012 führt sie
eine schwarze Liste für Seiten, die sie
als jugendgefährdend oder extremis-
tisch einstuft, darunter auch Wikipedia-
Artikel. 2015 etwa entschied ein Gericht
in Tschorny Jar, einem Ort im Süden
Russlands, einen Artikel über „Charas“
zu sperren. Charas ist eine indische
Form von Haschisch. SILKE BIGALKE
Etwa 200 Millionen Einwohner hat Nige-
ria – aber gerade mal 49 aktive Wikipe-
dia-Autoren. Das Land steht damit
exemplarisch für den gesamten afrikani-
schen Kontinent, der so wenig Autoren
hat wie keine andere Region, gerade
mal 1000 der 70 000 Autoren weltweit
kommen von hier. „Der Zugang zum
Internet ist ein Hauptgrund dafür. Der
Datenverbrauch ist teuer, und wenn die
Leute ein Guthaben kaufen, dann wol-
len sie Dinge tun, die für sie spannender
sind, als sich ehrenamtlich bei Wikipe-
dia zu engagieren“, sagt Dumisani Ndu-
bane, Mitarbeiter der Wikimedia-Stif-
tung in Südafrika. Das Problem ist folg-
lich, dass selbst afrikanische Themen
auf Wikipedia meist aus europäischer
und amerikanischer Sicht behandelt
werden. Nur 20 Prozent der lokalen
Themen werden auch von Afrikanern
beschrieben. Und so herrscht auch hier
ein Afrikabild, in dem der Kontinent vor
allem auf Kriege, Korruption und Katas-
trophen reduziert wird.BERND DÖRRIES
Wer in der Türkei Wikipedia aufruft,
landet auf einer leeren Seite. Und dies
schon seit dem 29. April 2017. Die Behör-
den begründeten die Sperre via Twitter:
In zwei englischsprachigen Artikeln
werde die Türkei fälschlicherweise der
Unterstützung von Terrorgruppen in
Syrien beschuldigt. Jüngst kündigte
das türkische Verfassungsgericht an,
es werde über einen Antrag der
Wikimedia-Stiftung zur Aufhebung der
Blockade entscheiden. Presse- und
Meinungsfreiheit sind in der Türkei von
der Verfassung garantiert, aber auch
Posts in sozialen Medien haben schon
viele Menschen ins Gefängnis gebracht.
Twitter und Facebook waren zeitweise
ebenfalls gesperrt. Das hat viele Türken
gelehrt, VPN, virtuelle Netzwerke,
zu benutzen und damit Internetblocka-
den zu umgehen. Das kostet ein
paar Lira extra, aber VPN ist das moder-
ne Simsalabim – es öffnet auch das
Tor zum Weltwissen von Wikipedia.
CHRISTIANE SCHLÖTZER
Die allermeisten Wikipedia-Beiträge auf
Portugiesisch kommen aus Brasilien.
Wie überall wird auch hier versucht,
Einträge über Politiker positiv oder
negativ zu beeinflussen. In Brasilien
aber hat dies dazu geführt, dass viele
Profile nur noch von bestimmten Mit-
gliedern bearbeitet werden dürfen. So
können anonyme oder neue Nutzer
etwa nicht den Artikel über den höchst
umstrittenen Präsidenten Jair Bolsona-
ro verändern. Dass auch Politiker selbst
versuchen, Einfluss auf ihre Einträge zu
nehmen, zeigte zuletzt der Fall des
Erziehungsministers Abraham Wein-
traub: Kurz nach seinem Amtsantritt im
April wurde ein Artikel über ihn erstellt,
der daraufhin in schneller Folge immer
wieder verändert wurde. Die Administra-
toren der portugiesischen Wikipedia
begrenzten daraufhin die Zugänge –
schlossen dabei aber anscheinend auch
Mitarbeiter Weintraubs aus. Sie gehör-
ten zu jenen, die am Artikel herum-
schrieben.CHRISTOPH GURK
Fast jeder
in der
Runde
hat schon
mal einen
Shitstorm
aushalten
müssen
„Manche
Studenten
googeln
etwas und
nehmen
das
erstbeste
Ergebnis.“
Ein
Problem:
Firmen
schreiben
sich
ihre eigene
Geschichte
schön
Ein zweites
Problem:
Gegner
werden
in Artikeln
diffamiert
und
verleumdet
12/13 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230 DEFGH
China
Wikipedia-Artikel
wurden mittlerweile in
mehr als 300 Sprachen
geschrieben.
Russland Nigeria
Bis zu 60 000
Zugriffe verzeichnen
die Wikipedia-
Server pro Sekunde.
Türkei
Brasilien
Etwa 90 Prozent
der Autoren auf Wikipedia
sind männlich.
Die globale Wikipedia
umfasst insgesamt
49,3 Millionen Artikel (Stand
Januar 2019).