Meşale Tolu saß über Monate in der
Türkei in Haft – mit ihrem Sohn. Im
Interview erzählt sie davon Seite 58
E
s sieht beinahe so aus, als woll-
ten wir gerade einen Teil unse-
rer Errungenschaften schnell
wieder loswerden, weil sie uns
unheimlich geworden sind. Und
sind einige Phänomene nicht wahrhaftig
beinahe über Nacht in unseren Alltag ge-
kommen? Plötzlich standen die grünen
E-Scooter am Gehsteigrand und warteten
darauf, dass ein ehemaliger Fußgänger sie
abholte und mit ihnen verlegen grinsend
durch den Stadtverkehr schlingerte. Kaum
waren sie da, kamen die ersten Unfallmel-
dungen und bald sogar Berichte über Men-
schen, die sich auf den Dingern zu Tode
fuhren. Die SUV, jene panzerartigen Wohl-
standsmobile, wurden angeschafft, damit
die Berliner Kleinfamilie aus der Heinrich-
Roller-Straße besser durch die steinigen
Feldwege in der Schorfheide kommt. Sym-
pathisch waren diese Autos von Beginn an
nur wenigen, aber weil sogar die Mütter in
Prenzlauer Berg angeblich ihre Kinder da-
mit zur Kita fuhren, taugte der SUV immer-
hin für köstliche Glossen in der Lebensstil-
beilage.
Dann passierte mitten in Berlin ein un-
fassbarer Unfall mit vier Toten, und der
SUV war keine milde bespöttelte robuste
Tussenkutsche mehr, sondern ein Kriegs-
gerät, das aus dem Verkehr gezogen wer-
den müsse. Weil wir ohnehin gerade im Ver-
botsmodus sind, erklang prompt der Ruf,
den Verkauf dieser großen, harten Autos
zu untersagen. Und als Echo kam der inzwi-
schen zum Lobbyismus zusammenge-
schnurrte Liberalismus, den Christian
Lindner vertritt, zurück: „Wir werden den
Planeten nicht retten, indem wir einen
Morgenthau-Plan für Deutschland umset-
zen und die Deutschen zu veganen Radfah-
rern machen“, sagte der FDP-Vorsitzende
in einem FAZ-Gespräch. Ob der Mann wirk-
lich glaubt, die Verknüpfung abgeschmack-
ter historischer Anleihen mit bis zur Unred-
lichkeit verkürzten Porträts vermeintlich
lächerlicher Bürger brächte ihm und sei-
ner Partei auch nur ein Körnchen Vertrau-
en ein?
Wenn Christian Lindner sich in irgendei-
nem intellektuellen Trend befindet, dann
wohl in dem des rhetorischen Rigorismus.
Die Spieleraufstellung ist jedem geläufig:
Die einen möchten Geräte und Konsumgü-
ter verbieten, welche tatsächlich oder ihrer
Wahrnehmung nach geeignet sind, Klima
und Ressourcen zu schädigen. Die anderen
wollen von dem ganzen Vorschriftenzeug
nichts wissen und fahren erst recht SUV,
weil es ihrer Vorstellung gemäß zur Frei-
heit des mündigen Bürgers gehört. Aus bei-
den Feldern bedienen sich die Parteien
und Lobbys. Die einen, nennen wir sie die
Grünen, wünschen eine sanfte Radikalisie-
rung ökologischer Politik, möchten aber
immer noch einigen der konsumfreudigen
Wähler aus dem anderen Lager zuzwin-
kern dürfen. Die anderen, sagen wir die
FDP, vulgarisieren ihren eigenen Freiheits-
begriff und erklären den trotzigen Ich-zahl-
schließlich-Steuern-Konsumenten zum
Lifestyle-Garibaldi.
Und wir anderen stehen alle ein biss-
chen ratlos am Straßenrand, sitzen grü-
belnd in der Abflughalle und verkneifen
uns das Fluchen, wenn im Bioladen die
Scheißpapiertüte drei kleine Äpfel aus der
Uckermark nicht aushält, ohne aufzurei-
ßen.
Vermutlich sind wir noch gar nicht reif
für diese komplette Überversorgung mit
Schnelligkeit, Erreichbarkeit und Mei-
nungsvielfalt. Vielleicht überschätzen wir
unsere zivilisatorischen Fertigkeiten, weil
wir weder motorisch noch moralisch so
weit sind, den ganzen Irrsinn sachgerecht
zu handhaben. Zu beinahe jedem Alltagsge-
genstand gibt es inzwischen eine kritische
Fußnote. Fleisch zu essen war bis vor Kur-
zem eine Sache des persönlichen Ge-
schmacks oder der Gesundheit, mittlerwei-
le ist es beinahe ein Angriff auf die Wertege-
meinschaft. Wer Plastiktüten benutzt,
muss das Bild des Pelikans mit tödlichem
Müll im Kehlsack vor Augen haben. Im
Flugzeug werden wir zu Mitgestaltern am
Klimawandel; das Zeitalter des E-Autos
sehnen wir uns zwar herbei, haben aber
den kleinen grünen Teufel Kretschmann
auf der Schulter sitzen, der uns ins Ohr
schwäbelt: „Wo sollen die alle tanken?“
Die Reichweite unserer Verantwortung
ist größer denn je, sie langt von der Vergan-
genheit über die Gegenwart in die Zukunft.
Jahrzehntelang haben unsere Väter ohne
Augenmaß von Ressourcen gelebt, deren
Schwinden wir heute konstatieren – unse-
ren Kindern hinterlassen wir vielleicht ei-
ne Welt, die so aussieht, wie Greta Thun-
berg sie uns schwarzmalt.
Möglicherweise sieht sie ja auch deut-
lich besser aus, aber das spielt keine Rolle,
weil der zivilisatorische Marschbefehl lau-
tet: Ihr habt diese Erde bislang miserabel
verwaltet, jetzt müsst ihr dafür bezahlen.
Und zwar mit Verzicht, der neuen ideologi-
schen Währung, von der sich mancher eine
Abkehr von der kapitalistischen Wahnwelt
aus Überkonsum und rasendem Stillstand
verspricht. Das Triste daran ist, dass der
Verzicht in den meisten Fällen keinen frei-
willigen individuellen Lastenabwurf be-
deutet, sondern die Folge eines Verbots ist,
also einer autoritären Ansage.
Wir sind eine Zuruf-Gesellschaft, die
auf Reizwörter reagiert. Häufig, eigentlich
zu häufig werden Begriffe von den einen ge-
kapert und von den anderen zurückgeholt.
Die Mobilität ist den Konservativen ein
Freiheitsbegriff, die Klimaschützer sehen
in ihr eine Kulturtechnik, die es ein-
zuschränken gilt. Über Klimawandel ist
kaum ein vernunftgesteuertes Gespräch
zu führen, weil der Begriff längst ideologi-
siert und in eine Kampfvokabel überführt
ist: Den Rechtsextremen ist sie ein
Synonym für Volks- und Freiheitsverrat;
für die Klimaschützer ist darin der General-
verdacht gegen das Alltagsverhalten der
meisten Menschen in den westlichen Ge-
sellschaften enthalten. Wo die einen versu-
chen, zivilisatorischen Wildwuchs einzuhe-
gen, machen sich die anderen mit der Sen-
se auf den Weg.
Es gibt neuerdings sogar unter liberalen
Menschen den Konsens, dass Liberalität
am besten durch Verbote und Weisungen
zu verteidigen sei. Die streberhafte und
ängstliche Normierung von Sprache ist ein
auffälliger Teil davon. Akteure wie Wähler,
Lehrer und Studenten sollen nur als Partizi-
pialformen, also als Wählende, Lehrende
und Studierende auftreten; Scherze mit ge-
schlechterbezogener Pointenausrichtung
haben zu unterbleiben. Krass und grell wü-
tet demgegenüber die komplette Entgren-
zung derer, für die bereits der demokrati-
sche Konsens ein Reizwort ist und die mit
Hasssprache gegen jede zivilisatorische
Vereinbarung anschreien. Richter der 27. Zi-
vilkammerdes Berliner Landgerichts be-
schieden kürzlich, dass am untersten Ende
der Leiter ansässige Schmähbegriffe wie
„Stück Scheiße“ und „Drecks Fotze“, in die-
sem Fall auf die Grünen-Politikern Renate
Künast gemünzt, keineswegs einem Ver-
bot unterliegen dürfen, sondern als Mittel
der Meinungsäußerung zulässig seien.
So steht es augenblicklich mit der Mo-
ral: Die einen möchten die Welt in Watte pa-
cken, die anderen wollen sie zu einem rau-
eren Ort machen, als sie es bereits ist. Zor-
nig sind sie alle; die einen, weil sie glauben,
dass ihre Ängste nicht ernst genommen
werden, die anderen, weil sie meinen, ihr
Hass werde noch nicht ausreichend durch
Konsequenzen gewürdigt. Was beide ver-
bindet, ist der Hang zum Autoritären. Die
vereinzelten Überkorrekten, die im Garten-
café böse blickend den Zigarettenrauch
des Tischnachbarn wegfächeln, sind von
gut organisierten Aktivisten abgelöst wor-
den, die um die Legitimation ringen, im
Zweifelsfall Tische verbieten zu können,
weil man darauf einen Aschenbecher stel-
len könnte.
Vor einiger Zeit durfte man noch darauf
vertrauen, dass die Leute gewisse Dinge
selbständig regeln. Die Raucher fanden ih-
ren Freiraum vor der Kneipentür, die Hun-
debesitzer zückten schon die Plastiktüte,
wenn der Hund um einen Baum strich, und
das teure Carsharing machte viele Städter
zu Gelegenheitsautofahrern. Das alles
reicht nicht mehr aus, jetzt geht es immer
gleich ums Ganze. Denn der Wallungswert
bei unkorrektem Allgemeinverhalten ist er-
heblich gestiegen, und das Vertrauen in die
sich selbst zügelnde Zivilgesellschaft ist
dem Wunsch nach mehr staatlicher Regu-
lierung gewichen.
Woran das liegen mag? Wir wissen offen-
bar nicht mehr so recht weiter, weil wir zwi-
schen zwei hochaufgeladenen Weltendeu-
ter-Fraktionen stehen. Den einen ist kein
Alarmismus zu überzogen, um mit einem
Schwung die Schädlinge von der Ölhei-
zung über die Plastiktüte bis hin zum In-
landsflug zu verbieten. Die anderen freuen
sich schon auf die Verbote, weil sie dann sa-
gen können, die freie Gesellschaft werde
geknebelt und man solle besser AfD wäh-
len, denn da kommt die Klimakrise nur als
blunzblöder Stammtischwitz vor.
In den Achtzigerjahren setzte jeder et-
was bessere Kabarettist auf die Wut als
Zündschnur für mittelscharfe Kritik am
Regierungsstil der Kohl-Regierung. An der
Regierung wohlgemerkt, den Begriff
Systemkritik, den die Rechten heute
kapern, um das demokratische Prinzip zu
denunzieren, gab es nur im Baudrillard-Se-
minar. „Die Wut ist jung“ sang die Düssel-
dorfer Kom(m)ödchen-Diva Lore Lorentz
und reklamierte für sich intellektuelle Fri-
sche. Heute sind Wut und Zorn eher muffi-
ger Stoff für die durchgeknallten Hass-
Twitterer oder die hässlichen kleinen Bril-
lenmänner der AfD, wenn sie von ihren
Marktplatzbühnen dem Volk zubrüllen, es
solle sich sein Land, von wem auch immer,
zurückholen.
Als die sonst eher ruhig und souverän
auftretende Greta Thunberg beim UN-Kli-
magipfel in New York auf einmal mit ver-
zerrtem Zorngesicht die älteren Generatio-
nen für ihr vermeintlich verlorenes Leben
verantwortlich machte, mussten viele
einst solidarisch geballte Fäuste für verle-
genes Hineinhüsteln herhalten. Die haus-
meisterhafte Zurechtweisung, die Abmah-
nung und die schmallippige Rechthaberei
zeigten die eher unschöne Seite der Radika-
lisierung. Und imSpiegelder vergangenen
Woche war über die Aktivistin Carola Ra-
ckete zu lesen, sie würde dem Reporter
kein Gespräch gestatten, sofern dieser mit
dem Flugzeug zum Interview käme.
Vielleicht wären viele Menschen ja
durchaus davon zu überzeugen, dass es ei-
ne Reihe von entbehrlichen Errungen-
schaften gibt, auf deren weitere Benut-
zung man verzichten kann. Natürlich
muss kein Mensch von Nürnberg nach
München fliegen. Auch die Plastiktüten
kann man sofort abschaffen, ohne dass die
Freiheit des Einzelnen eine Delle be-
kommt. Aber keiner will sich von sehr wü-
tenden Menschen sehr strenge Verbote auf-
erlegen lassen. Und die Psychologie der Ver-
botspolitik hat von den Karlsbader Be-
schlüssen bis hin zur amerikanischen Pro-
hibition das gezeitigt, was Wolf Biermann
einmal in die Liedzeilen „Keiner tut gern
tun, was er tun darf/ Was verboten ist, das
macht uns gerade scharf“ gegossen hat.
Es ist dieses Jahr dreißig Jahre her, dass
die Mauer gefallen ist und dabei ein politi-
sches System mitgerissen hat, das sich
kaum anders als durch Verbote am Leben
halten konnte. Natürlich sind Verbote ei-
nes autoritären Staates nicht mit denen in
einer demokratischen Gesellschaft gleich-
zusetzen. Aber es hilft manchmal, die Ge-
genwart mit einer grellen historischen
Blende zu überziehen. Dann könnte man
sich zumindest gedanklich und sprachlich
dergestalt sensibilisieren, dass lässig da-
hingesagte Formeln wie „Freiheit ist ohne
Verbote nicht zu haben“ in der Asservaten-
kammer des Blödmenschen verdämmern.
Dort träfen sie dann auf jene, die wieder-
um glauben, man gebe einen Teil seiner
Identität ab, wenn man in einem Kinder-
garten auf den Verzehr von Schweine-
fleisch verzichte.
Die Hoffnung liegt dann auf all jenen,
die langsam und schrittweise, der Mensch
ist eben manchmal so, auf den Trichter
kommen, dass in letzter Zeit wohl ein biss-
chen zu viel überflüssiger Kram in ihren
Alltag gerutscht ist.
Gefangen
FOTO: BRADLEY SECKER/LAIF
Viele Eltern wollen kein Kind mit
Downsyndrom. Familie Ofterdinger
hat eines adoptiert Seite 56 Mit dem Ende des Adels in Russland machten Bälle eine
sozialistische Pause. Nun wird wieder getanzt. Auch in der
deutschen Heimat von Zarin Katharina Seite 55
Carola Rackete gibt nur dann ein
Interview, wenn der Reporter
nicht mit dem Flugzeug kommt
DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 53
GESELLSCHAFT
Zu fast jedem Alltagsgegenstand
gibt es inzwischen eine
kritische Fußnote
Berliner Richter entschieden
gerade: Das Wort „Drecks Fotze“
gehört zum Meinungsspektrum
Ihr könnt
mich mal
Während die einen
inbrünstig Konsumverzicht und
immer neue Verbote fordern,
um die Welt zu retten,
sind die anderen gerade auf
ihre Rücksichtslosigkeit stolz.
Ein Schlichtungsversuch
von hilmar klute
Geborgen
FOTO: HEIKE NIEDER
Gefeiert
Als erster Sozialdemokrat zog Brandt
ins Kanzleramt. Schon da haderte
die SPD mit der Macht Seite 57
Willy will’s wissen
Wo darf man heute
eigentlich noch
rauchen? Wer in der
Öffentlichkeit zur
Zigarette greift, kann
sich jedenfalls auf
was gefasst machen.
FOTO: DANIEL MONTEIRO / UNPLASH