DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 72
MOBILES LEBEN
von joachim becker
W
as für ein Unterschied
24 Stunden machen. Ei-
gentlich gilt bei dem Ren-
nen in Le Mans: Wer
bremst, verliert. Die ge-
schlossenen Sportwagen der LMP1-Klasse
werden mit durchschnittlich 225 Stunden-
kilometer gefahren – ein Irrsinnstempo
bei Nacht auf unbeleuchteten Landstra-
ßen. Trotzdem kommen auf 5400 Kilome-
ter in 24 Stunden durchschnittlich nur
5600 Bremsvorgänge. Undenkbar in der
hell erleuchteten Formel 1, die für eine ähn-
liche Renndistanz fast die ganze Saison
braucht. Aber in Le Mans gilt nun mal: Wer
öfter auf das linke Pedal tritt, fällt zurück.
Dunkelheit oder Regen hin oder her.
Etwas anders sieht die Sache aus, wenn
der Fahrer beim Verzögern Energie zurück-
gewinnt. Hybrid-Fahrzeuge verwandeln
Schubkraft in Strom, den sie zum Beschleu-
nigen wieder nutzen. Auch Audi war in Le
Mans mit einem (Diesel-)Hybrid unter-
wegs, die Ingolstädter konnten aber nicht
länger ohne Tankstopp fahren als die direk-
te Konkurrenz. Anders als die Porsche 919
Hybrid, die mehr Energie auf der Straße
einsammeln konnten. „Bei den 24 Stun-
den haben wir über 900 Kilowattstunden
rekuperiert“, erzählt Uwe Michael. „Das
entspricht der Energiemenge, mit der gän-
gige Elektroautos 5000 Kilometer weit
kommen“, erklärt der Porsche-Entwick-
lungsleiter für Elektrik und Elektronik.
Viel ist geschrieben worden über das Du-
ell der feindlichen Brüder. „Wettbewerb ist
der bewährte Weg, besser zu werden“, sag-
te der damalige Porsche-Chef Matthias
Müller. Dann bereiteten seine Fahrer der
Siegesserie von Audi am 14. Juni 2015 ein
Ende. Einiges spricht dafür, dass bei den
24 Stunden in Le Mans nicht die besseren
Fahrer, sondern vor allem überlegene Elek-
trotechnik den Ausschlag gab: „Es macht
uns stolz, dass wir die Rennen in Le Mans
2015, 2016 und 2017 gewonnen haben“,
sagt Uwe Michael: „Aber viel wichtiger ist
für uns, dass dieses Fahrzeug bereits mit
800 Volt gefahren ist. Das machen wir im-
mer so, dass wir neue Technologien auf
der Rennstrecke ausprobieren.“
Die enormen elektrischen Leistungen
würden ein normales Bordnetz auf Rotglut
erhitzen. Es sei denn, das gängige 400-Volt-
netz würde mit dicken Leitungsquerschnit-
ten aufgedoppelt. Doch jedes Kilogramm
Mehrgewicht ist der natürliche Feind eines
Rennsiegs. Auch abseits der Rennstrecken
bringt ein 800-Voltnetz Vorteile. Der neue
Porsche Taycan, der gerade auf der IAA in
Frankfurt präsentiert wurde, spart damit
34 Kilogramm Kupfer. Bei einem Batterie-
gewicht von 600 Kilogramm ist das nicht
mehr als ein Trostpflaster. Entscheiden-
der im Alltag sind die kürzeren Ladezeiten
des Superstromers: Mit Ladeleistungen
von mehr als 250 Kilowatt (kW) gibt der
Taycan an der „Steckdose“ richtig Gas.
„Wir bauen nicht einfach Elektroautos.
Unser Anspruch ist es, ein Konzept anzu-
bieten, das auf der Rennstrecke wie im All-
tag gleichermaßen funktioniert“, sagt der
aktuelle Porsche-Chef Oliver Blume. Im
Konzernduell mit Audi haben sich die Zuf-
fenhausener jedenfalls durchgesetzt: Die
Ingolstädter schwenken voll auf den
800-Volt-Kurs um. „Die PPE-Plattform
wird für Modelle der Mittel- und Oberklas-
se (C- und D-Klasse) eingesetzt, die Seg-
mente der B-Klasse und darunter werden
zukünftig von der MEB-Plattform be-
dient.“ Während Modelle wie der kommen-
de Audi Q4 e-tron (2021) gemeinsam mit
VW- Stromern wie dem ID.3 auf der MEB-
Standardplattform für 400 Volt stehen, ba-
sieren alle größeren und teureren Elektro-
fahrzeuge von Audi vom Jahr 2023 an auf
der Premium Platform Electric (PPE).
Bis 2025 wollen die Ingolstädter 20 rein
elektrische Modelle bringen. Wie viele da-
von auf dem MEB und wie viele auf PPE ba-
sieren werden, verraten sie noch nicht.
Doch das Verhältnis dürfte in etwa ausge-
glichen sein. Die Entwicklungspartner
würden durch die Synergien gut 30 Pro-
zent Kosten sparen, so Blume. „Da wird et-
was Tolles entstehen“, fügt Projektleiter Ul-
rich Widmann hinzu: „Eine Architektur,
die sowohl Flachboden- als auch Hochbo-
denfahrzeuge, also Limousinen einerseits
und SUVs andererseits mit faszinierendem
Design, exzellenter Ladezeit und überlege-
nen Fahreigenschaften ermöglicht.“
So viel Begeisterung war zuletzt rar bei
Audi. Anfänglich wurde das Antriebskon-
zept des Taycan auch in Ingolstadt belä-
chelt: Die heutigen Elektroautos (und die
Ladeinfrastruktur) arbeiten üblicherweise
mit 400 Volt Spannung. 800 Volt gab es
bloß in Industrieanlagen oder Windkraft-
rädern. Für die Straße viel zu teuer, so das
Fazit vieler Experten: Eine Nischenlösung,
die, wenn überhaupt, nur bei Luxusautos
funktioniert. Deshalb entwickelte Audi
den E-tron weiterhin mit 400-Volt-Kompo-
nenten. Doch das Ergebnis ist eine milliar-
denteure Sackgasse. Der Herausforderer
aus Ingolstadt kommt nicht am Elektro-
Platzhirsch Tesla vorbei. Im November
folgt noch der E-tron Sportback, dann
wird die alte E-tron-Plattform auf Basis
des Audi Q5 verschrottet.
„Laden = Tanken“, lautet das Motto der
Elektrooffensive. Dabei geht es um ein
komfortables Verhältnis von Fahrt- zu Pau-
senzeit. Gerade Langstreckenfahrer wol-
len lieber etwas mehr zahlen, um schneller
zurück auf die Piste und ans Ziel zu kom-
men. Die deutschen Premiumhersteller ha-
ben deshalb die Ionity-Initiative gegrün-
det. Mit einem Netz von Ultraschnellla-
dern an der Autobahn wollen sie Langstre-
cken mit dem E-Auto fast genauso schnell
wie mit konventionellen Antrieben ma-
chen. Ob das Oberklasse-Kunden über-
zeugt, auf den Sound von Sechs- und Acht-
zylindermotoren zu verzichten?
„Vier Minuten für 100 Kilometer Reich-
weite“ sei das Zauberwort beim Laden mit
mehr als 250 kW Ladeleistung, sagt Uwe
Michael. Innerhalb der üblichen Pausenzei-
ten von 15 bis 20 Minuten soll genug Ener-
gie für 400 Kilometer Reichweite nachge-
füllt werden. Mit den herkömmlichen Bat-
terien, Bordnetzen und Ladesteckern ist
das aber nicht zu machen. Der derzeitige
Lademeister Audi E-tron kommt auf 150
Kilowatt, dann fangen die Standardste-
cker an zu glühen. Ein Elektrotechniker
würde sagen: Die Verlustleistung steigt ex-
ponentiell (im Quadrat) mit der übertrage-
nen Stromstärke an. Durch den Wechsel
auf 800 Volt lässt sich die Ladezeit bei glei-
cher elektrischer Belastung halbieren.
„Nach Porsche werden sich mehr Auto-
hersteller um 800 Volt kümmern“, erwar-
tet Marktforscher Ferdinand Dudenhöf-
fer: „Ein reines Batterieauto oberhalb von
150 000 Euro dürfte in ein paar Jahren
kaum ohne 800 Volt verkäuflich sein –
und dann wird es Stück für Stück in die un-
teren Marktsegmente wandern.“ Auch
BMW sieht 800 Volt als eine sinnvolle Ent-
wicklungsrichtung. Gerüchten zufolge soll
der nächste 7er damit ausgestattet wer-
den. „Aber eine Kapazität von 80 kWh
lässt sich auch ohne 800 Volt in 20 Minu-
ten nachladen“, sagt ein BMW-Sprecher.
Zumal das Autobahn-Laden nicht der pri-
märe Anwendungsfall sei. Klar ist: Die
Tankzeiten werden durch Ultraschnellla-
den deutlich verringert. Damit schmilzt
der Vorsprung der Brennstoffzelle.
„Bei Wasserstoffautos gibt es viele Träu-
me, aber wenig Konkretes“, meint Duden-
höffer und verweist auf deren schlechtere
Energiebilanz und die unzureichende In-
frastruktur. Die richtige „Tank“-Taktik
könnte auf der Zielgeraden zur Elektromo-
bilität ausschlaggebend sein. Schon jetzt
gibt es mehr Ultraschnelllader als Wasser-
stofftankstellen an den Autobahnen.
Wenn sich die Brennstoffzellenfahrzeuge
mitsamt ihrer Infrastruktur nicht sputen,
haben sie den Technologie-Wettlauf wo-
möglich schon bald verloren.
Wenn Klaus Müller mit anderen Spediteu-
ren zusammensitzt und von seinen mittler-
weile 18Trucks berichtet, die er mit Flüssig-
gas betreibt, dann trifft er immer wieder
auf eine gehörige Portion Skepsis. „Wir wer-
den nur belächelt“, erzählt Müller, Chef der
Firma Ilo Logistics mit Sitz in Nürnberg. Es
gebe zu wenige Tankstellen in Deutsch-
land, sagen die Kollegen. Und in ein paar
Jahren werde Müller dumm aus der Wä-
sche gucken, wenn seine Gasmotoren ka-
puttgehen. Und überhaupt, wie sieht es
denn mit dem Restwert für die Lkw aus?
„Es gibt eine ganze Menge Vorbehalte ge-
gen LNG“, sagt Müller. Er setzt trotzdem
auf „Liquefied Natural Gas“, auf Lastwagen
mit Flüssiggasantrieb.
Ähnlich auch die Bundesregierung: Als
die vor einem Jahr ein Förderprogramm
auflegte, um Spediteure bei der Anschaf-
fung emissionsarmer Lkw zu unterstützen,
wurden auch Gasmotoren in den Förderka-
talog aufgenommen. Nach jüngsten Anga-
ben aus dem Bundesverkehrsministerium
wurden seither 1390 Förderanträge bewil-
ligt, davon haben 994 Fahrzeuge einen LNG-
Antrieb (weitere 339 Lkw fahren mit kom-
primiertem Erdgas, dem sogenannten
CNG). Und nur 57 geförderte Laster haben
einen Elektroantrieb. Lkw-Hersteller wie
beispielsweise Iveco setzen daher weiter
auf den Gasantrieb; vor allem auch, weil die
schweren Batterien der Elektrolaster (noch)
zu viel Nutzlast kosteten und beim Wasser-
stoff noch einiges an Entwicklungsleistung
zu erbringen sei.
Auch Spediteur Müller ist von elektri-
schen Antrieben bislang wenig überzeugt
und setzt auf Gas. „Wir haben beschlossen,
keinen Diesel-Lkw mehr zu kaufen“, sagt
der 67-Jährige, der die Firmenleitung mitt-
lerweile an seinen Sohn Michael abgege-
ben hat. Auch wenn ein LNG-Truck in der
Anschaffung etwa 50 Prozent mehr kostet
als ein herkömmlich angetriebener Lkw
und die staatliche Förderung die Mehrkos-
ten lange nicht ausgleicht – langfristig, hof-
fen die Müllers, werde sich das auszahlen.
Über kurz oder lang, sagt der Senior-
chef, werden Städte wegen der Luftreinhal-
tung Diesel-Lkw aussperren; zuletzt hatte
etwa der Düsseldorfer Oberbürgermeister
Thomas Geisel (SPD) eine schadstoffab-
hängige City-Maut ins Gespräch gebracht.
Hinzu kommt, dass schadstoffarme Lkw
mittlerweile „auch als Verkaufsargument“
dienten, so Müller. In vielen Branchen stei-
ge die Nachfrage nach „grüner Logistik“.
Was das konkret heißt, lässt sich an ei-
nem Dienstag im Herbst im Hafen von Civi-
tavecchia in der Nähe von Rom beobachten.
Dort ist am Morgen das KreuzfahrtschiffAi-
da Novaeingelaufen, das auch mit LNG an-
getrieben wird. Auch die Kreuzfahrtbran-
che steht unter Druck, fahren viele Schiffe
doch mit Schweröl und pusten Schadstoffe
in die Luft. Um die etwa 6000 Passagiere an
Bord zu versorgen, haben Müllers Fahrer
vor Tagen in Hamburg etwas mehr als ein
Dutzend Lkw mit allen möglichen Gütern
beladen und nach Italien gefahren. Nun hie-
ven Gabelstapler die Waren an Bord, palet-
tenweise verschwinden Kanister mit Wein
und Limonade im Bauch des Schiffes, zu-
dem Unmengen an Teigwaren und Dosen-
pfirsichen, Mehl und Zucker, Tiefkühlkost
und Toilettenpapier. Alles, was man eine
Woche lang benötigt an Bord eines Kreuz-
fahrtschiffes.
Proviantmeister Peter Schwichtenberg
steht dabei an einer der Luken und über-
wacht alles. Nur frische Ware, also Obst und
Gemüse, lasse man von örtlichen Firmen
liefern, erklärt er. Alles andere komme per
Lkw aus Hamburg, werde also einmal quer
durch Europa gekarrt. Nicht gerade um-
weltfreundlich, oder? Naja, sagt Schwich-
tenberg, an Bord derAidawürden nun mal
Qualitätsstandards gelten – und die ließen
sich am besten einhalten, wenn die Ware
zentral aus Hamburg komme. Zudem wisse
man bei den Ilo-Lkws, dass die Waren da
seien, wenn sie benötigt werden. „Just in
time“, also das pünktliche Abliefern der be-
nötigten Waren, ist nicht nur im produzie-
renden Gewerbe an der Tagesordnung, son-
dern auch in anderen Branchen. So ein Lie-
geplatz im Hafen kostet viel Geld. Deshalb
bringen Müllers Trucks die Waren auch
nach Venedig, La Spezia, nach Kiel oder Bre-
merhaven. Überall dorthin, wo die Kreuz-
fahrer gerade Station machen. Mit LNG im
Tank, meint der Seniorchef, ließen sich bei
all diesen Fahrten die Schadstoffemissio-
nen zumindest etwas verringern.
Wobei das umstritten ist. Vergangene
Woche erst hatte der Umweltverband Trans-
port & Environment (T&E) eine Studie vor-
gelegt, wonach LNG-Trucks fünfmal mehr
Luftschadstoffe ausstoßen als Laster mit
Dieselantrieb, vor allem Feinstaub und
Stickoxide. Auch Erdgas sei ein fossiler
Brennstoff. Die Erdgas-Lobby erklärte hin-
gegen, die mit LNG betriebenen Lkw wür-
den insbesondere beim CO2-Ausstoß bes-
ser abschneiden und bildeten somit einen
wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. T&E
jedenfalls plädierte dafür, die staatliche För-
derung zu streichen.
Wenn also Nudeln oder Klopapier über-
haupt einmal quer durch Europa gefahren
werden müssen, ließe sich das nicht viel-
leicht auch auf der Schiene abwickeln? Spe-
diteur Müller winkt da aber gleich ab: Der
Güterzugverkehr, insbesondere über Län-
dergrenzen hinweg, sei mehr als unzuver-
lässig. Eine Just-in-time-Lieferung lasse
sich da nie realisieren. marco völklein
Bitte abladen: Die mit Erdgas betriebenen Lkw einer Nürnberger Spedition belie-
ferndas KreuzfahrtschiffAida Nova(im Hintergrund). FOTO: J. FRIEDRICH/ZUKUNFT ERDGAS
Der Porsche Taycan
verträgt Ladeleistungen von
mehr als 250 Kilowatt
Von der Oberklasse dürfte die
Technik nach und nach in die
unteren Marktsegmente wandern
Klopapier quer durch Europa
Oft wundert man sich, was Spediteure so alles durch die Gegend karren. Ob dies mit Erdgas-Antrieben umweltfreundlicher geschehen könnte, ist umstritten
Reisen im Rucksack
Ein „Skateboard“, das es in sich hat: Die PPE-Plattform von Audi
und Porscheeignet sich für verschiedene Elektromodelle von
der Mittel- bis zur Luxusklasse. Während die Fahrzeuge in Länge,
Breite und Höhe stark variieren können, verfügen alle über
ein 800-Volt-Bordnetz, das kurze Ladezeiten ermöglicht.
FOTOS: PORSCHE, AUDI
Elektro-
Schock
Superstromer mit kurzer Ladezeit
und Benziner-Reichweite:
Die 800-Volt-Technologie wird Standard
in der Oberklasse. Für Wasserstoffautos
sind das schlechte Nachrichten
Camping ist gefragt wie nie:
Die SZ hat drei Fahrzeuge für den
mobilen Urlaub getestet Seite 71