Zunächst regnet es, gegen Abend setzt
sichdann die Sonne durch. Sonntag Nach-
mittag kommt neuer Regen. Seite R14
von christian mayer
D
as Schöne auf der Wiesn ist ja,
dass man dort in relativ kurzer
Zeit ein anderer Mensch werden
kann, vielleicht sogar der Mensch, der
man eigentlich sein will, etwas weniger
gehemmt und verklemmt und gar nicht
mehr so zugeknöpft, mal abgesehen von
den zwei Hirschhornknöpfen, die den
Bund der Lederhose im Idealfall zusam-
menhalten. Die rasante Veränderung der
Persönlichkeit war früher allerdings et-
was, was man im Idealfall für sich behal-
ten konnte; man hatte zwar am nächsten
Tag einen Brummschädel, aber konnte
die Erlebnisse im Festzelt erfolgreich ver-
drängen. Heute ist das anders, denn es
besteht immer die Gefahr, dass einer
draufhält mit der Handykamera.
Von geradezu poetischer Kraft ist der
Auftritt des unbekannten Wiesnbesu-
chers, den ein Beobachter am Marien-
platz gefilmt hatte, und zwar beim stoi-
schen Versuch, die Rolltreppe gegen die
Fahrtrichtung emporzusteigen. Schritt
für Schritt kommt der Lederhosenträger
voran, nur keinen Meter weiter, er be-
wegt sich exakt auf gleichem Level, leicht
schwankend, aber doch noch gerade tritt-
fest. Natürlich ist dieses Video im Inter-
net ein großer Hit geworden, wobei viele
Kommentatoren nicht die übliche Häme
über dem Mann entluden, sondern sei-
nen unbezähmbaren Willen lobten. Ein
Rolltreppenwitz? Nein, eine Ermunte-
rung, nie aufzugeben, wenn es mal läuft.
Noch spektakulärer ist das Video, das
am Montagabend im Schützenzelt ge-
dreht wurde. Es zeigt einen Gast, der sich
nach Schankschluss mit nacktem Ober-
körper aufs Laufband der Maßkrug-
Waschanlage legt und dann einmal den
Weg durch das Innere des Spülapparats
zurücklegt – anders als der Rolltreppen-
held erreicht er sein Ziel, nassforsch, aber
fröhlich. Die danebenstehenden Kellne-
rinnen kriegen sich vor Freude kaum
mehr ein, was hinterher ein Nachspiel hat-
te, weil der Schützenzeltwirt eher nicht
so begeistert war von der Aktion. Ähnlich
viel Zuspruch bekommt ein Gast, der
nackt über den regennassen Holzboden
im Löwenbräu-Biergarten rutscht. Auch
dieses Wackelvideo gibt es als komische
Sequenz im Netz, die „fünfzehn Minuten
Ruhm“, die bei Andy Warhol das Wesen
der Popkultur ausmachen, sind hier auf
drei Sekunden zusammengeschrumpft.
Die Wiesn ist fast vorbei, aber die pein-
lichen Bilder bleiben, sie führen jetzt ein
Eigenleben, bis zum jüngsten Tag. Und
man kann selbst nur hoffen, dass einen
keiner dabei gefilmt hat beim Versuch,
ein anderer zu sein.
von h. effern, s. handel
und f. kotteder
München– Auch wenn Wahlkampf auf
der Wiesn offiziell verboten ist: So ganz
verschweigen kann man ja auch nicht,
dass der Veranstalter, also die Stadt Mün-
chen, am 15. März 2020 einen neuen Chef
sucht. Oder einen neue Chefin. Gute Lau-
ne, schöne Bilder, Treffen mit prominen-
ten Netzwerkern, all das schadet keinem
Kandidaten. Da brauchen sie unter den er-
warteten gut sechs Millionen Oktoberfest-
besuchern die paar Münchner Wähler gar
nicht unbedingt direkt zu treffen. Obwohl
das natürlich auch nicht schadet.
Gleich am ersten Tag zum Anstich tref-
fen die drei Kontrahenten, die sich bei der
Kommunalwahl ernsthaft Hoffnung auf
den Posten des Oberbürgermeisters ma-
chen dürfen, in der Ratsbox des Schotten-
hammel aufeinander: Amtsinhaber Dieter
Reiter (SPD) und seine beiden Gegnerin-
nen Kristina Frank (CSU) und Katrin Ha-
benschaden (Grüne). Ein Scherz hier, ein
Spruch da, dann geht er los, der offizielle
Nicht-Wahlkampf auf der Wiesn.
Kristina Frank hat schon an den ersten
Tagen so viele Termine, dass sie am Mon-
tagabend erst zum Armbrustschießen der
BMW-Niederlassung kommt, als die meis-
ten Pfeile schon abgefeuert sind. Als sie ei-
nen Platz am Tisch von Josef Schmid und
seiner Frau Nathalie findet, dauert es eini-
ge Minuten, bis sie entspannen kann, bis
sie nicht mehr auf jedes Wort, jede Geste
zu achten scheint – Wahlkampf-Modus,
da kann ein Fehler großen Schaden anrich-
ten. Mit Schmid, ihrem Vorgänger als OB-
Kandidat der CSU, spricht sie nun natür-
lich nicht über Politisches, schon gar nicht
über die Kampagne zur Kommunalwahl,
sind ja viel zu viele Leute rundrum. Aber es
ist doch eine Vertrautheit und ein Vertrau-
en zu spüren, wahrscheinlich ist es auch
und gerade in der Münchner CSU wichtig,
jemanden zu haben, auf den man sich
verlassen kann.
Katrin Habenschaden hält nicht nur
dirndltechnisch dagegen („Hab’ ich
secondhand gekauft“), sondern auch in
Sachen Brauchtum. Die Grünen sind auch
hier längst auf dem Weg zur Volkspartei.
Gleich am Eröffnungstag dirigiert sie im
Festzelt Tradition auf der Oiden Wiesn wie
die grüne Landtagsabgeordnete Claudia
Köhler die Hauskapelle. Karl-Heinz Knoll,
der frühere Spaten-Vorstand und heutige
Vorsitzende des Münchner Festrings, hat
die beiden auf die Bühne gebeten, Köhler
ist seine Tochter. Katrin Habenschaden
bringt das Dirigat des „Tölzer Schützen-
marsches“ mit Bravour hinter sich und
erntet viel Applaus. „Ich mache jetzt
Sachen“, sagt sie lachend, „da wäre ich
vorher nie draufgekommen!“
Für den Oberbürgermeister selbst star-
tet das Oktoberfest sogar ungewohnt poli-
tisch. SPD-Familienministerin Franziska
Giffey ist am Eröffnungstag zu Gast und
hat sich einen Rundgang gewünscht. We-
nigstens hat Berlin, woher zur Zeit sonst
wenig Erbauliches daherkommt, eine
Frau geschickt, mit der Dieter Reiter offen-
sichtlich kann. Zuvor hat er das erledigt,
was Frank und Habenschaden künftig ger-
ne übernehmen würden: Als Münchner
Oberbürgermeister hat er das erste Fass
auf der Wiesn angezapft, mit wieder ein-
mal nur zwei Schlägen. Die Tage danach
sind dicht getaktet, neben den selbstver-
ständlichen Pflichtbesuchen im Behörden-
hof oder bei der Wiesnwache gibt es da ein
Gespräch und hier ein Treffen, wie zum
Beispiel mit den Landräten aus dem Speck-
gürtel im Augustiner. „Dinge, die norma-
lerweise im Büro stattfinden“, die passie-
ren in diesen beiden Wochen am Biertisch,
sagt Reiter. Normales Geschäft statt Wahl-
kampf. „Kein Mensch spricht mich darauf
an, die Leute wollen Spaß haben.“
Reiter weiß, mit dem Bonus des Amtsin-
habers zu spielen. Er besitzt das, was
Frank und Habenschaden auf dem Okto-
berfest verstärkt anstreben: Bekanntheit
beim Volk. Reiter leistet es sich nun, den
Hintereingang in ein Zelt zu nehmen, aufs
Hereinspielen durch die Wiesnband ist er
auch nicht scharf. „Das würde jeder Kapell-
meister machen“, sagt er. Rein privat mit
seiner Frau Petra über das Oktoberfest zu
schlendern, ist wegen der vielen Selfies-
und Gesprächswünsche kein Vergnügen
mehr. Vor sechs Jahren war das noch an-
ders, Reiter kann sich noch gut erinnern,
dass man als Kandidat anders und aufge-
regter an die letzte Wiesn vor der Wahl her-
angeht. Da sei es wichtig, „mal zu dirigie-
ren und gesehen zu werden“.
Kristina Frank, die CSU-Kandidatin, ist
jeden Tag auf dem Festgelände, sagt sie.
Das fällt ihr nicht schwer, schon in den Jah-
ren vor der Kandidatur zeigte sich bei ihr
ein stark ausgeprägtes Wiesnfieber. Nun
wird sie aber mehr als je zuvor gebeten,
doch vorbeizuschauen – bei Schaustel-
lern, Wirten oder Marktkaufleuten. Aber
sie kann als Kommunalreferentin auch
selbst Themen setzen. Dann kommt sie im
schwarzen Dirndl mit leuchtend oranger
Schürze zu den Müllcontainern hinter
dem Volkssängerzelt auf der Oiden Wiesn.
Dort verkündet sie als Chefin der städti-
schen Müllabfuhr, dass es nun gelungen
sei, die Müllmenge von früher zwei Kilo-
gramm pro Besucher auf 180 Gramm zu
reduzieren, unter anderem dadurch, dass
auf der Wiesn nur noch Mehrweggeschirr
zum Einsatz kommt.
Freilich: So richtig glänzen kann man
mit dem Dreck, den die Wiesnbesucher
machen, dann halt doch nicht. Lieber sind
Frank wohl andere Termine. Wenn sie
etwa der Zweite Bürgermeister Manuel
Pretzl (CSU) im Herzkasperlzelt bei einer
Pressekonferenz zum Thema „Fleisch aus
artgerechter Tierhaltung“ über den Schel-
lenkönig lobt, weil sie sich als Kommunal-
referentin so vehement für die 550 Ochsen
im städtischen Gut Karlshof einsetze. Und
weil etwa 120 davon in der Ochsenbraterei
verspeist werden, besucht Frank dann
auch die Küche dort und lässt sich alles zei-
gen. Erfreulicherweise testet man dort ge-
rade ein neues System zur Vermeidung
von Restmüll, was sie natürlich freut.
Katrin Habenschaden hingegen hat
weder die Zwänge einer Wahlbeamtin
oder eines Bürgermeisteramts zu beach-
ten, noch muss sie allzu engen Schulter-
schluss mit Trachtenvereinen oder Interes-
sengruppen üben: Die Wiesn ist nicht das
wichtigste Revier für grüne Kandidaten.
„Ich mag die Wiesn“, sagt Habenschaden,
aber klar: Dieses Mal ist sie schon deutlich
öfter dort als früher. Schon wegen der Ein-
ladungen, die sie vermehrt bekommt, seit
sie als OB-Kandidatin angetreten ist.
Nein, bei Regine Sixts Damen-Wiesn
war sie nicht, es gab auch keine Einladun-
gen von Brauereien. Aber andere wollen
schon wissen, was diese Habenschaden ei-
gentlich für eine ist. Die kleinen Wiesnwir-
te zum Beispiel, die sie herumgeführt ha-
ben. Oder die Wiesnwache der Polizei, bei
der sie am zweiten Mittwoch noch vorbei-
geschaut hat. „Ich möchte schon wissen,
wie das organisatorisch läuft, auch in der
Leitstelle.“ Seit ihr Name als mögliche
Oberbürgermeisterin im Gespräch ist,
stellt sie „ein erhöhtes Interesse, auch an
mir als Person“ fest. Das gebe ihr zugleich
aber auch die Möglichkeit, hinter die Kulis-
sen zu blicken und Einrichtungen kennen-
zulernen, an die sie früher nicht so leicht
herankam: „Das schätze ich sehr.“
Erfahrungen unbekannter Art macht
auch der Gitarrist Dieter Reiter auf der
Wiesn. Beim Standkonzert unter der Bava-
ria am mittleren Sonntag dirigiert er eine
Welt-Uraufführung – den „Münchner Ok-
toberfest-Marsch“ aus der Feder von Wolf-
gang Grünbauer, Kapellmeister im Fest-
zelt Tradition, dem lang jährigen, unlängst
verstorbenen Wiesn-Stadtrat Hermann
Memmel gewidmet. Reiter ist – im Gegen-
satz zu manch anderem Ehrendirigenten
- kein bisschen Lampenfieber anzumer-
ken: Wer der Chef von mehr als 30 000
städtischen Angestellten ist, der wird sich
von ein paar hundert Musikern nicht ner-
vös machen lassen. Wenn ein Münchner
Oberbürgermeister das Wiesn-Standkon-
zert nutzen will, um Souveränität, Füh-
rungskraft und sogar ein gewisses Showta-
lent zu demonstrieren – dann wird der
Auftritt Reiters Wahlkampf bestimmt
nicht geschadet haben.
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Christian Mayer freut
sich jetztschon auf
den September 2020.
Mit Müll lässt sich nicht so
leicht glänzen. Da ist Fantasie
bei der Kleiderwahl gefragt
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NR. 230,SAMSTAG/SONNTAG, 5./6. OKTOBER 2019 PGS
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Im Märzentscheiden die Münchner, wer ihre Stadt künftig regiert und repräsentiert: Katrin Habenschaden und Kristina Frank fordern
Oberbürgermeister Dieter Reiter heraus. Auf der Wiesn laufen sie sich schon einmal warm für den anstehenden Wahlkampf
Eine Gelegenheit, um gesehen zu werden: Katrin Habenschaden (Die Grünen) möchte bei der Kommunalwahl 2020 Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) ablösen, das Gleiche hat Kristina Frank (CSU, rechts) vor.
Das Oktoberfest nutzten alle, um sich so zu zeigen, wie es bei dem Anlass erwartet wird – in Tracht. FOTOS: STEPHAN RUMPF, FRANCESCO GULOTTA/IMAGO, FLORIAN PELJAK
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