Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019–Seite 28*
·························································································································································································································································································
Sport
E
shätteein Abendnachdem
GeschmackvonSebastian
Coeseinkönnen.DieLeute
sollten doch bitteschön
den großartigen Sportbei den
Leichtathletik-Weltmeisterschaften
inKatarwürdigenundnichtständig
auf irgendwelchenWidrigkeiten he-
rumhacken, hatte derPräsident des
Weltverbandes (IAAF)vorallem in
HinblickaufeuropäischeKritikerge-
fordert.AmDonnerstagnunfeierten
die Briten begeistertihreSieben-
kampf-Siegerin Katarina Johnson-
Thompson, die endlich mal einen
bedeutenden Wettkampf ohne
schwerwiegenden Lapsus beenden
konnte.Im4 00-Meter-Lauf besiegte
Bahrains SalwaEidNaser,vor21 Jah-
reninN igeria alsEbelechukwu Ag-
bapuonwu geboren, inverblüffen-
den 48,14Sekunden dieFavoritin
Shauna Miller-Uibovonden Baha-
mas,diezuvor25Rennenin Seriege-
wonnen hatte.Schneller alsNaser
waren auf dieserStrecke nur Marita
Kochund JarmilaKratochvilova,da-
mals in den finsterenAchtzigern.
UndDeutschlandbekamseinerstes
Gold durch den Sensationssieger
NiklasKaulim Zehnkampf.Auchda
gabeseineüberraschendeSilberme-
daille für dieFamilie Uibo,durch
ShaunasestnischenGattenMaicel.
Genießen konnteSebastian Coe
den Abend trotzdem nicht. Schon
bevorihmdieUS-Antidoping-Agen-
tur(Usada)denletztenGenickschlag
versetzte,hattedersonstsowohler-
zogeneBritezunehmendkratzbürs-
tig und genervt auf kritischeFragen
geantwortet.In Richtung der popu-
lären BBC-ModeratorinGabbyLo-
gan, die für seinenGeschmack zu
hartnäckig auf den geringen Zu-
schauerzahlenimStadionvonDoha
herumgehackthatte,patzteer ,ess ei
leicht, „ein paarGabby-Logan-typi-
sche Bemerkungen“ imStudio zu
machen,wenn man dann schnell
wieder zumMatch des Tages in der
Premier League zurückkehren
könne.Erhingegen müsse „das
große Bild“ sehen und sich um die
„langfristige Entwicklung unseres
Sports“kümmern.
DieHoffnung,dasssichdieAufre-
gung um die klimatischenBedin-
gungen mit der spätsommerlichen
Hitzeund die trotz angeblich um-
fangreicherTicketverkäufe oft gäh-
nend leeren Ränge irgendwann le-
genwürdeundderSportind enVor-
dergrund rücken könnte,machte
dann dieUsada zunichte.Mit dem
Coup,dievierjährigeSperredesseit
langem umstrittenenTrainers Al-
berto Salazar mitten in die WM zu
platzieren, war das Thema für den
Rest der Veranstaltung gesetzt und
die imagemäßige Katastrophe für
denWeltverbandperfekt.
KlosterhalfenalsLeidtragende
Leidtragende waren die in Doha
startendenAthletendesNikeOregon
Project (NOP), dessen ChefSalazar
ist, darunterKonstanzeKlosterhal-
fen, die amSonnabend dasFinale
über die5000 Meter bestreitet. An
einekonzentrierteVorbereitungwar
unterdiesenUmständennichtmehr
zu denken, wasUsada-ChefTravis
Tygartoffenbarziemlichegalwar.Er
kannpositivePRg ebrauchen,nach-
dem seine Organisation selbst ins
Zwielichtgeratenwar,alsdie Hacker
vonFancy Bear nach Olympia 2016
enthüllten, dass dieUsada äußerst
freigebig mit medizinischen Aus-
Freie Platzwahl: Das WM-Stadion in Doha zeichnet sich während derWettkämpfe durch luftig besetzteTribünen aus. FP/CACAE
DEUTSCHES, ROT–GOLD
Schlusspunkt:Nach dem Gewinn der Gold-
medaille im Zehnkampf ging Niklas Kaul erst
mal baden. „Wir haben den Abend im Swim-
mingpool ausklingen lassen“, erzählte der
mit 21 Jahren jüngsteWeltmeister aller Zei-
ten übernächtigt nach dem CoupvonDoha.
Mit 8691 Punktenkonnte sich Kaul 32 Jahre
nach Torsten Voss als zweiter Deutscher die
WM-Krone aufsetzen. Zugleich gilt er nun als
heißer Anwärter auf Gold bei den Sommer-
spielen 2020 inTokio. Dortmöchte der Main-
zer die Nachfolgeder OlympiasiegerWilli Hol-
dorf (1964) und Christian Schenk (1988)
antreten. „Dass er irgendwannWeltklasse
wird, habe ichgewusst. Dass es aber so
schnellgeht, hat mich überrascht“, sagte
Holdorf. „Mit Bronze für ihn hätte ichgelieb-
äugelt. Gold ist unglaublich“, sagte Guido
Kratschmer,1976 Olympia-Zweiter.
Schlussspurt:Den unerwarteten Rollen-
wechselvomJäger zum Gejagten hält Kaul
„nicht wirklich“ für problematisch: „Für mich
ist es die gleiche Situation wie zwei, dreiTage,
bevorich Weltmeister wurde: Ich will Spaß
haben“, sagte der Lehramtsstudent für Sport
und Physik am Freitag.„Wenn derSpaß vor-
bei ist, würde ichkeinen Zehnkampf mehr
machen.“ Ob bis zur nächsten WM 2021 in
Eugene odergarbis zu den Spielen 2024 in
Paris Zehnkämpfe bestreiten wird, ließ er of-
fen. Dennoch schmiedet der 1,90 Meter
großeAthlet Pläne, wie er mit Hilfe seiner ihn
trainierenden ElternStefani eund Sebastian
Kaul noch besserwerden kann. Kaul junior
hatte in Doha zur Halbzeit auf Platz elfgele-
gen. Dann schaffte er mit dem Speer 79,05
Meter und rannte danach die1500 Meter in
4:15,70 Minuten.
Finaler Kniefall: Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul. GETTY IMAGES/HASSENSTEIN Matti Lieske
ist gespannt auf die WM
2021 in Eugene.
nahmegenehmigungen fürAthleten
umging.
Wohl nicht ganz zufällig wiesSe-
bastianCoeinD ohadaraufhin,dass
es seinemVerband inzwischen ge-
lungensei,dieseFreifahrtscheinefür
eigentlichverboteneMitteldrastisch
zureduzieren.„Ichdenke,wirhatten
Tausende,jetztistesbloßnocheine
Handvoll“, so der IAAF-Chef.Nach-
demCoekurznachseinemAmtsan-
tritt vorvier Jahren Enthüllungen
über Doping noch als „Krieg gegen
unserenSport“ gegeißelt hatte und
seinen wegen Korruption angeklag-
ten Vorgänger Lamine Diack in
höchstenTönenpries,isterbalddar-
auf umgeschwenkt und profiliert
sich alsVorreiter einerErneuerung
der Leichtathletik. DieDopingbe-
kämpfunggaberindieHändeeiner
Integritätskommission, und als ein-
zigerVerbandhieltdieIAAFamAus-
schlussRusslandsfest,wasihrange-
sichts der jüngstenVorkommnisse
mit gefälschten Labordaten viel Är-
gervorderWMersparte.
ZurückinsschöneLondon
Auch im Fall Salazar,einst ein guter
Freund vonihm, versucht erEnt-
schlossenheit zu demonstrieren.
Athleten,dieweiterbeidemgesperr-
ten Coach trainierten, müssten mit
einer zweijährigenSperrerechnen,
verk ündete er.Eigentlich selbstver-
ständlich, doch stellt sich dieFrage,
ob das nur für diePerson oder das
gesamte OregonProject gilt, dessen
LeiterSalazarbeirechtskräftigerVer-
urteilung natürlich nicht mehr sein
kann.VorgehenwillCoeauchgegen
die Verwendung verschreibungs-
pflichtiger Medikamente zur Leis-
tungssteigerung, etwa Asthma-Mit-
tel oder das Schilddrüsenhormon
Thyroxin.NebenkonkretenDoping-
vorwürfen eines der Hauptargu-
ment ederUsadagegenSalazar,aber
vorallem auch ein Problem der
Sportmedizin insgesamt. Thomas
Bach,Präsident desInternationalen
OlympischenKomitees (IOC), for-
derte dieWelt-Antidoping-Agentur
auf, alleAthleten unter dieLupe zu
nehmen, die beim OregonProject
trainieren, also auch Klosterhalfen,
den neuen 800-Meter-Weltmeister
DonavanBrazierund10000-Meter-
Siegerin SifanHassan.
SebastianCoejedenfallswirdfroh
sein,w enndieseausdemRuderge-
laufene Leichtathletik-Weltmeister-
schaftvorbeiistunderausdemhei-
ßenKatarwiederinsschöneLondon
reisen darf.Dienächste großeHer-
ausforderung wartet dann in zwei
Jahren ,wenndie WM inEugene
stattfindet, selbsternannte Haupt-
stad tder Leichtathletik in den USA,
Sitz des Sporta rtiklers Nike und von
dessen Oregon Project. Biszum
DonnerstagwiesderMedaillenspie-
gelinDohafürdieUSAzwarsoviele
Plaketten aus wie für die folgenden
drei Länder China, Jamaika und
Großbritannien zusammen, aber
dasLeichtathletik-InteresseimLand
istüberschaubar.„Wirkönnennicht
nurineinpaareuropäischenHaupt-
städtenwurzeln“,hat Coedekretiert,
dennochdürfteerfrohsein,dassdie
WM 2023 nachBudapest vergeben
wurde.
SchlägeinsGenick
DieLeichtathletik-WM2020inDohagehtaufdieZielgerade.SiehattezurWerbeveranstaltungfür
ihrenSportundWeltverbandsbossSebastianCoewerdensollen,dochsieisteinPR-Desaster
VonMatti Lieske