Berliner Zeitung - 05.10.2019

(Marcin) #1

Feuilleton


30 * Berliner Zeitung·Nummer 231·5./6. Oktober 2019 ·························································································································································································································································································


SONNTAGSKRIMI


VonTorstenWahl

F


rauKönig (AnnekeKimSarnau)
hat starkeKopfschmerzenund
ringtum Worte–dieLKA-E rmittlerin
stehtnebenderSpur.Esb elastetsie
nichtnurihreManipulationvonBe-
weisen gegen einenSerienmörder
im Fall„Für Janina“ voreinem Jahr,
sondernauch der neue Fall: zwei
Frauenleichen,denen Gliedmaßen
oderOrganefehlen–dieSchuheste-
henordentlichdaneben.DenRosto-
cker Ermittlernfällt auf, dass schon
voreinigenJahren Opferähnlichzu-
gerichtetwordenwaren.
DasGenreder Serienkiller-Thril-
ler zerfällt in zwei Arten:Entweder
kreist derFilm um einen auffälligen
Psychopathen,dereinSpielmit Op-
fernundVerfolgernspielt. Oder der
TäteristeinangepassterMenschvon
nebenan–„NoMo nstersHere“heißt
dieses Phänomen im Englischen,
dem sich auchAutor und Regisseur
Damir Lukacevic hierverpflichtet
fühlt. DerBerliner Regisseur mit
kroatischenWurzeln drehtwenige,
aberstetsbesondereFilme.Zwei„No
Monsters“ präsentiertder „Polizei-
ruf“ gleich zuBeginn. Nach sechs
Minuten tauchtSimon Schwarzals
Umzugsunternehmer Frank Kern
auf,mitdessenRiemendieOpferge-
fesselt wurden.Nach acht Minuten
folgt AlexanderBeye rals malender
Jura-StudentJanHansen, der eines
derOpferporträtierthatte.
So erzählt der Krimi dreiZweier-
Geschichten parallel, die geschickt
miteinanderverzahnt werden. Kern
muss sich mit seiner 16-jährigen
Tochter auseinandersetzen–Emilia
Nöth hat hier ein starkesDebüt.
Hansen lebt in einer seltsamenBe-
ziehungmiteinerFrau,diemanerst
fürseineMutterhält,diesichaberals
seineGattinentpuppt(AngelaWink-
ler).Voller Spannungen steckt auch
dasVerhältniszwischenKatrinKönig
undKollegeBukow(CharlyHübner),
diesichunerwartetstarkannähern–
Regisseur Lukacevic wollte hier ei-
nen Kontrast zum düsterenFall set-
zen.DiezentralenFragen–Wertraut
wem? Wemkann man überhaupt
vertrauen? –treiben diesen packen-
den, schauspielerisch überdurch-
schnittlichenKrimian,mitdemder
Rostocker„Polizeiruf“seineSonder-
stellungeindrucksvollbehauptet.


Polizeiruf110:Dunkler ZwillingSo, 20.15(ARD).


Die


Monster


vonnebenan


Kommen sich diesmal besondersnah:
AnnekeKim Sarnau und Charly HübnerARD


TOP 10


Donnerstag,3.O ktober

1Tagesschau ARD 6,09 21 %
2DerAnfang von ... ZDF 5,10 16 %
3Leichtathletik ARD 4,64 17 %
4Sportschau ARD 4,55 17 %
5heute ZDF 3,79 16 %
6heute-journal ZDF 3,48 11 %
7Leichtathletik ARD 3,12 16 %
8Berliner MauerparkZDF 2,78 11 %
9Voice of Germany Pro7 2,73 9%
10 Kampf ums Land ARD 2,64 10 %
ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %


F


asthätteFelixKummertun
müssen,waseigentlichun-
denkbar schien: Fallsdie
AfDinSachsenzurstärks-
tenParteiaufsteigenwürde,sohatte
der Musiker angekündigt, wolle er
seine Heimatstadt Chemnitzverlas-
senundmitseinemeisernen,schon
im erstenHitseiner Band Kraftklub
formulierten Grundsatz brechen,
der da lautete: „Ich will nicht nach
Berlin.“Zwarseien27Proz entfürdie
Rechten noch immer schwer zu er-
tragen. Aber natürlich bleibt er.
NichtzuletztausSolidaritätmitallen
anderen, den „vielen tollen Men-
schen“, insbesonderenatürlich in
Chemnitz. Dortund nur dortwird
am11. OktoberauchseinerstesSo-
loalbum „Kiox“ erscheinen –und
manwir desa usschließlichamkom-
mendenWochenendein einem ei-
gens dafür eingerichtetenPlattenla-
denkaufenkönnen.

Herr Kummer,brauchen Siemal Ur-
laubvomKraftklub?
Nein, aber es hatten sich einfach
paarTexteangesammelt,diemirein
Stück zu persönlich waren.Unddie
Band besteht ja aus fünf Leuten, es
wäremirkomischvorg ekommenzu
sagen: „Leute,lasst uns malzehn
Songsmachen,dieallevonmeinem
Seelenlebenhandeln.“

Wiehaben IhreBandkollegenrea-
giert, alsSieihnen vonden Plänen
dazuerzählthaben?
Ichhabe angefangen mit: „Hey,
wirmüssenmalreden.“Dadachten
alle,dass ich Vater werdeund eine
Babypause machen will.„Fast“, hab
ichgesagt.Aberdiehabensichtrotz-
demfürmichgefreut.Istjaq uasiwie
einBaby,soe inePlatte.

Eswirdsieallerdingsnichtregulärim
Handelgeben.Warumdas?
Mirkam es einfach unzeitgemäß
vor,imJahr2019nochPlastikschrott
zu produzieren und in denElektro-
nikfachmarktzustellen.InderHoff-
nung, dass jemand beimKauf einer
Waschmaschine auf demWegnach
draußenmeineCDmitnimmt.

Aber Ihr Album ist doch auf CD und
aufVinylerhältlich.
Ja,aberesistnuraufzweiWegen
zubekommen:Mankannbeidesbe-
stellen oder imZeitraum zwischen
dem 11. und 13.Oktober in einem
extradafür eingerichteten Laden in
Chemnitz erwerben. DerLaden ist
dem ehemaligen Plattengeschäft
meinesVatersnachempfunden.Der
hieß auchKiox.Das war der Ort, an
demichzumerstenMalmitMusikin
Berührung kam. Meine Sozialisie-
rung mit Musik war stets haptisch.
IchwillMusikanfassenkönnen.Da-
hergibtesmeinePlatteauchaufCD
und blauemVinyl. EinAlbum aus-
schließlich zumStreamen hätte ich
blödgefunden.

WannhatIhrVaterKioxeröffnet?
In den Wirren derNachwende-
zeit,alsernichtsorechtwusste,was
ermachensollte.Erh attedenLaden
zusammen mit einemKumpel, der
Secondhand-Kleidungverk auft hat.
Kiox war so eine ArtIndependent-
Kaufhaus.

DasIndependent-Kaufhaus des
Ostenssozusagen.
Genau!DaswarineineraltenFa-
brik. Im Erdgeschoss gab es neue
Jeansund HipHop-Klamotten,inder
ersten Etage Secondhand und oben
das CD- undVinyl-Segment meines
Vaters.Dab in ich aufgewachsen.
MeinkleinerBruderundichsindda
die ganzeZeit rumgeflitzt.Heute
sind da Loftwohnungen drin. Die
Gentrifizierungmachthaltauchvor
Chemnitznichthalt.

WiealtwarenSiedamals?
DenLadengabes,bisichsieben,
acht Jahrealt war .Die Mitarbeiter
habenimmeraufunsaufgepasst.Ei-
ner davon war übrigens derRapper
Trettmann, der später auch unser
Babysitterwar.Derkenntunsschon
als kleineRotzlöffel, die nurStress
gemachthaben.

ErzählenSieweitervondemLaden.
DieKasse war kaputt.Daher lag
immer ein Schraubenschlüssel da-
neben, mit der man die aufhebeln

soeineK ackmusik!Unser Bassist
Steffen,derSkaterwar ,erzähltgerne
die Geschichte,dass der beste Ort
zum Skaten auf demWegzum Fuß-
ballstadion lag –bei Schlusspfiff
musstemanaberschauen,dassman
wegwar,denn dann kamen die
Hools,umd ieBoardskaputtzuklop-
pen.Dasbeschreibtganzgut,warum
michdieseFaschosbisheutesoab-
turnen:Alles,wasschönistundSpaß
macht,wollendiekaputtmachen.

Washaben Siestattdessen für sich
entdeckt?
HipHop ,BritpopunddanndieIn-
diewelle: The Strokes,The Hives,
Arctic Monkeys–daswareineOffen-
barung. Undsahsovielcoolerausals
derFascho-Lifestyle.

Warum lebenSietrotzdem immer
nochinChemnitz?

anderenSeite die Gefahr durch die
Glatzen. Dasgehörtefürunszusam-
men.Wirwussten gar nicht, dass es
auch Leute gibt, die unbeschwert
ausgehenkönnen.

WiehäufigkamenÜbergriffevor?
Regelmäßig.Aber wirklich kas-
sierthabenwirselten,weilwirmeis-
tensweglaufenkonnten.Wieichauf
der Platte sage: „Es war nie ein
Kampf. Wirsind immer nur ge-
rannt.“

WiehabenSieesg eschafft,demideo-
logischenEinfluss vonrechts zu ent-
gehen?
Daswar nicht so schwer.Beson-
dersanziehendwirktedieNaziszene
nicht.Dasisteinfachsowahnsinnig
unsexy:eine unangenehme Män-
nerwelt, so streng und spaßbefreit.
Unddannist Rechtsrockauchnoch

musste,wenn jemand bezahlt hat.
Undich erinneremich an denGe-
ruch. Damals war es ja noch selbst-
verständlich, dass in solchen Läden
gerauchtwurde.Esr ochimmernach
ZigarettenundKaffee,undzwarinso
einer ganz besonderen Mischung.
VieleLeute,dieinChemnitzgroßge-
worden sind, fühlen sich sofortan
Kiox und die eigeneKindheit erin-
nert, wenn sie das heute irgendwo
riechen.

WarumgibtesdenLadendennnicht
mehr?
Manstellt sich das immer soro-
mantisch vor, so wie bei Nick
Hornby,aberEinzelhandelistderto-
taleHorror .Furchtbarstressig.Mein
Vater wollte irgendwann mehrZeit
für uns Kinder haben und hat den
Absprung gerade noch rechtzeitig
geschafft,bevor der CD- undVinyl-
markteingebrochenist.

WasmachtIhrVaterjetzt?
EristbildenderKünstler.

GibtesMusik,dieSieinseinemPlat-
tenladenentdeckthaben?
IchhabeeigentlichmehrVerbin-
dungzuderMusik,diemeineMutter
gehörthat: die Cardigans und das
„Dummy“-Album vonPortishead
zum Beispiel. Dassind so die Sa-
chen,diemichfürdiePopmusikge-
wonnenhaben.

Wiewaressonstso,inChemnitzgroß
zuwerden?
Schön –zumindestmit der Ver-
gangenheitsbrille betrachtet. Ich
hatte eine glücklicheKindheit, tolle
Freunde,ein gutes Umfeld. Außen-
stehendekönnendas nie nachvoll-
ziehen und fragen sich immer:Wie
musseswohlsein,inderNachwen-
dezeitineinersolchenOststadtauf-
zuwachsenmit krasser Arbeitslosig-
keitundNeonazis.AberalsKindbe-
kommstdudavonjanichtsmit.

MathiasHielscher,derdenInterview-
Podcast „Hotel Matze“ betreibt und
früher bei der Band Virginia Jetzt!
spielte, erzählteeinmal über seine
Band: „Inder Schule in Elsterwerda
waren wir die einzigenfünf Jungs
ohne Glatzen und Springerstiefel.So
haben wir uns gefunden.“ Beim
Kraftklubwardasnichtso?
Matzeist etwas älter und Elster-
werdawohl noch krasser als Chem-
nitz. Chemnitzfühlt sich zwar im-
mer an wie Provinz, ist aber eine
Stadt mit 250000 Einwohnern. Zu
klein, als dass es da nur eine Szene
gibt, in der man abhängen kann,
aberdochgroßgenugfüreinpaarAl-
ternativen.Manmusste zwangsläu-
figmiteinanderklarkommen.

UnddieGlatzen...
...haben großzügig jedem aufs
Maul gehauen, der keinNazi war.
Alles,was nach alternativerJugend-
kultur roch, war imZweifelsfall An-
tifa. Es gab also eine sehr vielfältige
Subkulturwelt, in der wir uns wohl-
gefühlthaben,undalleindieserWelt
haben als Angriffsziel für Glatzen
fungiert.

Wannsind Siedaserste MalmitRas-
sismus undRechtsextremismus kon-
frontier tworden?
IchbinindenNeunzigernaufge-
wachsen, als das richtig schlimm
war.Aber ich war da noch zu klein.
Daswaren abstrakte Gruselge-
schichten.Dashat sich abervonei-
nemTagaufdenanderenverändert,
als wir angefangen haben auszuge-
hen.

Inwiefern?
Chemnitz hatte immer eine sta-
bile Clubszene.Die zu entdecken,
war superaufregend: tanzen, laute
Musik, knutschen!Aber die Gefahr,
irgendwann aufsMaul zu bekom-
men, schwang immer mit. Es kam
vor, dassplötzlichdreiGolfsmitab-
geklebtenNummernschildernvorm
AlternativenJugendzentrumhielten,
deren Insassenlosstürmten,alleszu-
sammengeklatschthabenunddann
schnell wiederwegsind, weil ja alle
aufBewährungdraußenwaren.Aber
wir haben das damals gar nicht als
sonderlich krass empfunden. Das
warunsereNormalität:einerseitsdie
glitzernde neue Welt aus Musik,
Weggehen und Knutschen, auf der

Felix Kummer mit Kraftklub bei Lollapa-
looza (oben) und am 24. September in
Berlin-Kreuzberg (rechts). ROLAND OWSNITZKI

ºNazis


sindso


Ýahnsinnig


unseÞß»


eliÞKummer,Sängerder-ockband


Kraftklub,überseine-olleals


menschlichesAntlitzseinereimatstadt


Chemnitzrundüberseinerstes


Solo-AlbumºKioÞ»,dasnurdortundnur


amnächstenWochenendezukaufen


seinÝird


ZUR PERSON

Felix Kummerwurde 1989 in Karl-Marx-
Stadtgeboren, seit 1990 wieder Chem-
nitz, undwohnt noch immer dort. Seit
2009 spielt er zusammen mit seinem
BruderTill bei Kraftklub.Am11. Oktober
erscheint sein erstes Solo-Album „Kiox“.

Kraftkluborientierten sich bei ihrer Grün-
dung am GaragenrockvonBands wie The
Hives oder den Libertines und sind inzwi-
schen eine der erfolgreichsten deutschen
Bands der Dekade. Ihre bislang erschie-
nenen drei Alben erreichten allesamt den
Spitzenplatz der Charts. Zu ihren popu-
lärsten Songsgehören „Karl-Marx-Stadt“,
„Schüsse in die Luft“ und „Dein Lied“.
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