Berliner Zeitung - 05.10.2019

(Marcin) #1

5./6. OKTOBER 2019 9


RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN


Judenvertreibung und


Tobias Seicherl


Landshut festnehmen.Siemüssen nach ei-
nerWoche mit ihrerHabe das Landverlas-
sen,sofernsiesichnichttaufenlassen.


  1. Oktober 1930


Seicherl:Mitdem ComicTobiasSeicherldes
KarikaturistenLadislausKmoch(1897-1971)
erscheintinderösterreichischenBoulevard-
zeitungDasKleineBlattdes Vorwärts-Verla-
gesderersteeuropäischedailystrip.Seicherl
istdie FigureinesmitHitlersympathisieren-
denKleinbürgers.EinVersuch,denFeindin
derKarikaturzubannen.

Und am 5. Oktober 1949 in der
Berliner Zeitung

Deutschland:AufeinerSitzungdesParteivor-
standes der SEDreferierte Wilhelm Pieck
überdiedurchdieSchaffungderSeparatre-
gierung in Westdeutschland entstandene

Ludwig der Reiche, Herzog von
Bayern(1417-1479). IMAGO

Tobias Seicherl, ein Antinazi-Co-
mic von 1930. LADISLAUS KMOCH

Lage.Pieckstelltefest,daßsichdasdeutsche
Volk niemals mit derBonner Separatregie-
rungabfindetunddaherimmerenergischer
dieForderungnachSchaffungeinerproviso-
rischen Regierung des demokratischen
Deutschlanderhebt.DerParteivorstandbe-
schloßaufVorschlagPiecks,mitdenanderen
demokratischenParteien undMassenorga-
nisationen inBeratungen über dieBildung
einer pr ovisorischenRegierung der demo-
kratischen deutschenRepublik einzutreten
(...) In einer Stellungnahme derDemokrati-
schenBauern-Parteiheißtes:„DerDeutsche
Volksrat als gesamtdeutsches Organ istvor
allem berufen und verpflichtet, entspre-
chend den nationalenNotwendigkeiten die
Bildung einer gesamtdeutschenRegierung
der deutschen demokratischenRepublik zu
übernehmen.“DerMinisterialdirektorGirke
(CDU), stellvertretenderHandels- undVer-
sorgungsminister inSachsen, erklärte,die
fürdieSchaffungeinergesamtdeutschenRe-
gierungmitdemSitzin Berlinerforderlichen
Maßnahmen dürften nicht länger aufge-
schobenwerden.


  1. Oktober 1338


Vereintes Europa:Nach einer gewonnenen
Seeschlacht auf dem Ärmelkanal überfällt
einemitfranzösischen,normannischen,ita-
lienischen und kastilischenSeeleuten agie-
rende Piratenflotte dieStadt Southampton,
plündertsie,tötetEinwohnerundführtGe-
fangeneindieSklaverei.



  1. Oktober 1450


Juden:Herzog Ludwig IX.vonBayer nlässt
alle Juden in seinemTerritoriumBayern-


D


er brasilianische Fotograf
Sebastião Salgado hattesechs
Jahrelangwartenmüssen,bis
diebrasilianischeRegierungihm
dieGenehmigungerteilte,dieGoldgräberin
SerraPelada(„DerkahleBerg“)zufotografie-
ren.AndereFotografen,jaganzeFilmteams
hattendieÖffentlichkeitbereitsinformiert
über den Ort, an dem 1979Gold gefunden
wordenwar.Salgadodurfteerst1986hin.
Der1944imbrasilianischenBundesstaat
Minas Gerais („allgemeineMinen“) gebo-
rene Sebastião Salgado zählt zu den großen
Fotografen unsererZeit. Berühmt ist er für
seine Langzeitprojekte.„Genesis“ zumBei-
spiel dokumentiertnoch unberührte Land-
schaften(Taschen).„Exodus“ ist ein Klassi-
ker zum ThemaMigration undVertreibung
(Taschen). Salgados Autobiografie „Mein
Land,unsereErde“istgeradeimVerlagNagel
&Kimche erschienen.Sebastião Salgado
wirdam2 0. Oktober denFriedenspreis des
DeutschenBuchhandels entgegennehmen.
WimWenderswirdihnpreisen.
Salgadoschreibtindemkurzen,2019ent-
standenenVorwortzuseinem Buch„Gold“:
„VormirsahicheinriesigesLochmiteinem
Durchmesservonvielleicht200Meternund
fastgenausotief.In ihmeinGewimmelvon
mehrerenZehntausendMännern,kaumbe-
kleidet. Ungefähr die Hälfte vonihnen
schleppteschwereSäckeüberbreiteHolzlei-
ternnach oben, während die anderen über
schlammigeAbhängezurückindenSchlund
derGruberutschten.“DieFotos,dieSalgado
damalsmachte,prägenunserBildder Gold-
gräbervonSerraPelada.Dasliegtam Genie
desbrasilianischenFotografen.
Es liegt aber auch am Schwarz-weiß. Es
hilft, denAufnahmen, die allenVorstellun-
gen vonmoderner Arbeitswelt widerspre-
chen, jeneAura vonarchaischerGewalt zu
verschaffen,die uns hier erstdieAugen öff-
net für dieWirklichkeit.Wirblicken aufSal-
gadosFotosunddenken:DasistGeschichte.
Desto vehementer brennt sich bald danach
die Erkenntnis in unserGehirnein: Dasist
Gegenwart.
Salgado schreibt: „Bald stellte ich fest,
dass das,was auf den erstenBlick wie ein
chaotischesMenschengewimmelaussah,in
WahrheiteinhochkomplexesSystemwar,in
demjederdermehrals50000dortarbeiten-
denMännerdieRollekannte,dieerdor tzu
spielenhatte.Ganzallgemeingesagt,waren
beijedemArbeitsablaufdrei’Klassen’invol-
viert: derEigentümer des Claims,meist ein
Pionier,der das Schürfrechtvonder örtli-
chen Kooperativ eerhalten hatte,der soge-
nanntecapitalista,derindasUnternehmen
investierte,und für dasGraben undTragen
etwadreißigTagelöhner.DieseGruppenwa-
renkeinSpiegelderUngleichheitenderbra-
silianischenSozialstruktur:Hier arbeiteten
Schwarze wieWeiße und Männer jeder an-
deren Hautfarbe Schulter an Schulter.Gold
wardieeinzigeFarbe,diesieimSinnhatten.
Undsow iedercapitalistaeinfacheinBauer
seinkonnte,dersein Viehverk aufthatte,um
das Geld in einen Claim zu investieren,
konntederTagelöhnerebensoeinUniversi-
tätsabsolvent, ein Lastwagenfahrer,ein Bä-
ckerausderStadtodereinLandarbeitersein,
der sich in derHoffnung, schnellreich zu
werden, nach SerraPelada aufgemacht
hatte.“
EinBildsagt,daszeigtSebastiãoSalgado,
nichtmehralstausendWörter.Diegeradezi-
tierten Sätzehelfen einem enormbei der
„Lektüre“desBildes.Sieerstmacheneinem
dieMachtdes Goldesklar .BevoresdieUn-
terschiede macht, macht es erst einmal alle
gleich. DasBild täuscht dieEinheitlichkeit
nicht vor. Es zeigt die real bestehendeEin-
heitlichkeit.Eszeigtnichtdieunterschiedli-
chenWege,die die Einzelnen dazu führten,
Teildieser Massezu werden.Fotossind Mo-
mentaufnahmen. Siezeigen keine Ge-
schichte.DasmachenGeschichten. Salgados Aufnahmen aus SerraPelada widersprechen ihrer archaischen Gewalt allenVorstellungen von moderner Arbeitswelt. SEBASTIÃO SALGADO


WieGesellschaft


entsteht

1979wurdeimbrasilianischenSerraPeladaGoldgefunden.1986


fotografierteSebastiãoSalgadodieGoldgräber.EinBlickaufdie


ArbeitsbedingungenunddieHerausbildungeinereigenenGesellschaft


VonArnoWidmann


Sebastião Salga-
do, September
2019.

IMAGO IMAGES

DasFotozeigtunsauchnichtdieClaims.
Siesindgerademal2x3Meterbreit.Biszu
zehnMannbuddelnaufdieserFläche.Um
dieClaimskommtesimmerwiederzuStrei-
tereien,dieauchbewaffnetausgetragenwer-
den.AberdasistweitgehendVergangenheit.
1988 wurdeninSerraPeladanoch 745 Kilo-
grammGoldgefunden.ZweiJahrespäter
warenesschonnurnoch250Kilogramm.
SchongarnichtssagendieBilderüberdie
immer wiederwechselndenBesitzverhält-
nisse,über die Gelüste,die die Goldfunde
nichtnurbeideninderGrubeTätigenweck-
ten,sondernnatürlichauchbeidengroßen
Multis der Berg bauindustrie.Die 1984 ge-
gründeteKooperativ eder Parzellenbesitzer
vonSerraPelada erlaubte der kanadischen
FirmaColussus2007denBaueinesvierhun-
dertMetertiefenTunnels.2012wurdendann
beide Partner wegen Korruption angeklagt.
Colossus erklärte sich für bankrott.Dasist
StofffürjedeMengeBücherundFilme.
Eine Weltöffentlichkeit fürSerraPelada
haben erst dieFotos vonSebastiãoSalgado
erreicht.DieSäckeschleppendenmenschli-
chenAmeisenergreifenuns.Diesichsicher
fühlendenBetrachtermögenMitleidmitden
Abgebildetenhaben. Anderewerden sich
fragen,wieschlechtesihnengehenmüsste,
um so zu leben. DieMutigen machensich
vielleichtaufundversuchen,alsTagelöhner
anzuheuern. Nurumeinmal dabei zu sein.
Einanderes Foto weckt unseren Zorn.Ein
bewaffneterMann richtet sein Gewehr auf
einenfastnacktenArbeiter.Derergreiftden
Gewehrlauf und drückt
den Mann auf den Bo-
den.MiteinerHandnur.
Also nicht wirklich effi-
zient. Istdas eine der
Auseinandersetzungen
umdieGrenzenderPar-
zellen?
DieFotos informie-
ren. Sieentstandenhier.
Siezeigen keine Schau-
spieler,sonderndie dort
arbeitendenMenschen.
Ob Salgado nicht doch
einmal einzelne Gruppen gebetenhat, sich
so oder so aufzustellen, weiß ich nicht.
Sebastião Salgados Aufnahmenverbinden
einenRealismus,dereinenbeimBetrachten
derBildermitschwitzenlässt,miteinerKraft,
dieunsereFantasieinGangsetzt.SeineAuf-
nahmensindEntmythologisierungundMy-
thosineinem.SiezeigendieWeltso,wiesie
ist.Abersiezeigensieso,alswürdensiesa-
gen:SoistderMensch.Mansiehtalsonicht
nur,was er mit dem Mitmenschenmacht,
sondernauch,waserderNaturantut.
DerBand„Gold“ zeigt auch einzelneTa-
gelöhner.Die „Ameisen“,so werden sie in
SerraPelada genannt,sind Individuen.So
setzensichdannausvielenMomentaufnah-
mendochfastsoetwaswieGeschichtenzu-
sammen.EsgibtSzenen,dastehteinBewaff-
neter hinter eine Gruppe vonArbeitern. Er
repräsentiertdieOrdnung.DieOrdnung,die
die Ausgräber sich gegebenhaben, um den
Kriegallergegenalleunmöglichzumachen?
Mitten in den 80er-Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts erleben wir,wie eine Gesell-
schaft entsteht. Zusammengehalten und
auseinandergerissendurchdasStrebennach
Gold.
SebastiãoSalgadosVorwortendetmitden
Sätzen: „SerraPelada ist heute wieder eine
arme Region. Geblieben ist eine Landschaft
vollerNarbenundeinriesiger,200Metertie-
ferSee.EinJahrzehntlangsahesdortwiedas
erträumteElDoradoaus,aberheuteistBra-
siliens wildesterGoldrausch nur nochStoff
für Legenden. Am Leben erhaltenwerden
diese durch ein paar glückliche und viele
schmerzlicheErinnerungen–unddurchFo-
tografen.“

SebastiãoSalgado:Gold,Taschen, 208 Seiten, 50 Euro.
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