10 5./6. OKTOBER 2019
Gutsch
Leo
Dieser ungemein
besondere Herbst
J
edes Jahr freue ich mich auf denHerbst.
Dasmag eine unverständliche Liebhabe-
reisein,dennderHerbstin Berlin,insbeson-
derederNovember,hatkeinengutenRuf.Er
giltgemeinhinalsverregnet,kalt,suppig-ne-
blig,graueralsGrau,unddauertgefühltein
ganzes Jahr.Manche sagen:DenHerbst in
Berlin, insbesondereden November,kann
man nur mit täglichem Alkoholkonsum er-
tragen. OderaufdemFlughafenTegel,sofern
maneinFlugzeugRichtungSüdenbesteigt.
Solcherar tgescholten tut man dem
Herbstin Berlin,insbesonderedemNovem-
ber,aber großesUnrecht. Deshalb möchte
ichindieserKolumneaufdiescheuePracht
unddieseltengewürdigtenVorzügedes Ber-
linerHerbstesverweisen.
Ungemein schön ist zumBeispiel, dass
nachdem3.OktobereineZeitbeginnt,inder
die meistenTouristen Berlin meiden.Nur
hartgesotteneBerlin-Liebhaber trauen sich
bei Dauer-Nieselregen und sechsGrad Au-
ßentemperatur noch in dieStadt. DieRad-
wege?Freivon30-köpfigenGruppengeführ-
terBike-Touristen.DieRestaurants?Gewäh-
renEinlass ohneReservierung.Mitetwas
Glück spricht einen dieBedienung sogar
wieder aufDeutsch an.Selbst derMauer-
park, BallermannvonOst-Berlin, sieht im
HerbstplötzlichauswieeineParkanlage.
Im Herbst kann man Pilzesammeln in
den Wäldern.Dies ist eine ungemein kon-
templativeTätigkeit,verg leichbar mitYoga
oderExerzitienimKloster.Völligegalistda-
bei,obmaneinenPilzfindet.Vielhübscher
istesja,erfolglosPilzezus ammeln,nurum
anschließend ein Restaurant im Berliner
Umland zu betreten und dorteine Pilz-
pfanne zuverk östigen.Im Herbst zählt der
Weg.Nichtdas Ziel.
Im Herbst, insbesondereimN ovember,
gibt es ansonsten überhaupt nichts zu tun.
Gut,mansollteaufdenFriedhofgehenund
Totensonntagfeiern.Aberdie Totensindzu-
rückhaltende,angenehme Gesprächspart-
ner,sie belästigen einen nicht mit denPro-
blemenderGegenwart,sowieesdieGarten-
nachbarngerneim Sommertun.Halloween?
Auch kein Problem. Gibt man den betteln-
denKinderneinSäckchengetrockneterAp-
felscheibchenmitaufdenWegoderstockbit-
tereHerrenschokolade,dann kommen sie
niewieder.
DerSommer ist stets fordernd und flüs-
terteinemzu:Dumusstwastun!Baden!Gril-
len! Ernten! Freiluftkino!DerHerbst aber,
insbesondereder November,haucht nur
träge:Legdichhin,meinFreund.Schlaf.Sitz
vorderGlotze.Trinkein GlasKakaomit Rum.
Oder nur Rum. Du verpasst nichts.Der
Herbst, insbesondereder November,macht
einem nie ein schlechtesGewissen. Sparen
kann man sich nun auch den bangenBlick
auf die Wetter-App und dieFrage: Wird es
besser?Nein!
Schönistdoch,dassmanindieserJahres-
zeitoftnichtweißm,wiespätesist.10Uhr?
Oder16 Uhr?Deshalbgilt:AmWochenende
im Zweifel im Bett bleiben und demRegen
VonJochen-Martin Gutsch
lauschen.Regenisteinesderschönsten,be-
ruhigendstenGeräuschederWelt.MitRegen
schläftmanimmergut.UndRegenistsoab-
wechslungsreich! Starkregen, Platzregen,
Sprühregen,Dauerregen,Landregen,Steige-
rungsregen,Frontregen,gefrierenderRegen,
Schneeregen.
Im Herbst, insbesondereimN ovember,
beginnt die großeZeit der Melancholie,das
bitter-zarteste allerGefühle.Der Treibstoff
für ergreifendeLyrik, tiefe Gedanken und
wunderbarePopsongs.Jetzt hör tman end-
lich wiederElement ofCrime,eine Berliner
Band,dieausschließlichnachHerbstklingt.
„Esregnetundwiedernichtsgetan/Nurwie-
derwieimWahnein Luftschlossaufgebaut/
EsregnetundwiedereineNachtam Fenster
zugebrachtundTräumedurchgekaut.“
KurzbevormaninMelancholiezuersau-
fen droht, ertöntEnde November dann ein
rettendes Gebimmel. VomWeihnachts-
markt. Advent, Advent. DerHerbst ist eine
JahreszeitmitHappyEnd.
Ausden
Tiefen
DiePilzsaisonisteingeläutet.Jean-HenriFabre,
französischerNaturwissenschaftler,malteim19.Jahrhundert
HunderteAquarellederNaturgebilde
VonSarah Pepin
W
enndasLaubsichblutrotfärbtundesunterdenSchuhenraschelt,hatderHerbstEinzug
gehalten.Mitihmschießen–beiguten Bedingungen–dieFruchtkörperderPilze,eineder
biodiversestenArtenderWelt,ausdenmoosbedecktenBödenunsererWälder.Siefaszinie-
rendie Menschheit seitJahrtausenden, nicht zuletzt,weil manchevonihnen so köstlich
schmecken und andereuns das Leben kosten können, aber sicherlich auch,weil sie weder wahrlich
PflanzenochTiersind,sondernwundersameGebilde,dieausunterirdischenGeflechtenentstehen.
Jean-Henr iFabre,französischerNaturwissenschaftlerundMitgliedderAcadémieFrançaise,warschon
im19. Jahrhundertvonden verschiedenenFormen,FarbenundGerüchendieserGeschöpfebeflügelt.Ge-
boren1823imheutigenDépartementAveyron,lebternachseinerLehrerausbildunginderProvenceund
aufKorsika,bevorer1879mitseinerFamilieinSérignan-du-Comtat,etwa40MinutennördlichvonAvi-
gnon,einHausmit Gartenerwirbt.DortsetzterdieNaturbeobachtungfort,dieermitunermüdlichem
EnthusiasmusschonseinganzesLebenbetreibt.ZahlreicheSchriftenüberInsekten,FlechtenundPilze
hatFabreveröffentlicht,diebekanntestedavon„Souvenirsentomologiques“,ErinnerungeneinesInsek-
tenforschers.1879beginnter,diePilz e,dieihminundumSérignanbegegnen,mitseinemWasserfarbkas-
tenzumalen.Diefeinen,präzisenAquarelleerscheinenwieeineLiebeserklärungandieMykologie.Insge-
samtentstehteinPilzpanoramaaus616Bildern,diemanheuteimOriginalinseinemehemaligenHaus,
dem„HarmasdeFabre“bestaunenkann,dasheuteeinMuseumist.OderaneinemverregnetenNachmit-
tagaufderCouch:Matthes&Seitzhat Fabres Aquarelle vorvierJahrenals Buchbandveröffentlicht.
Vorzüglich und gesellig: der echte Pfifferling. Der Rote Gitterling sieht nicht nur bizarraus, er verströmt auch einen aasartigen Geruch von verdorbenem Fleisch. Eine Ikone unter Pilzen: der Fliegenpilz, Amanita muscaria.
Der Schopf-Tintling ist im jungen Alter ein guter Speisepilz.
Der Hut des Gemeinen Riesenschirmlings schmeckt toll.
Köstlich: Die Spitz-Morchel mit ihremwabenartigenKopf.
Der Steinpilz ist ein Sammel-Klassiker in unseren Wäldern.
Der giftige Braunwarzige Kartoffelbovist. DerWettersternrollt die Arme seiner sternförmigen Außenhülle bei trockenemWetter ein, bei feuchtem wieder aus. Das essbareViolette Schweinsohr gibt es nicht häufig.
MUSÉUM NATIONAL D’HISTOIRE NATURELLE, PARIS