Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

D


a ist dieser Turm. Wer in den
vergangenen Jahren auch nur
ab und zu in soziale Netzwerke
geschaut hat, der hat es wahr-
scheinlich gesehen, dieses sie-
ben Stockwerke hohe und zylinderförmige
Bauwerk mit Namen Spectra. Spectra ist
Kunst, genauer gesagt eine Installation,
noch genauer gesagt ein farbenfroher Fil-
ter, der über die Wirklichkeit gelegt wird,
wenn man im Turm steht und durch die
regenbogenbunten Fenster hinausschaut
auf das Coachella Valley Music and Arts
Festival, dieses alljährliche Treffen von
Leuten, die der Welt spektakuläre Bilder
von sich selbst präsentieren wollen.
Der Turm namens Spectra ist sehr foto-
gen – und genau darum geht es bei dem
Festival in Kalifornien vor allem: um Fo-
tos, um Selfies vor coolem Hintergrund. Es
gibt Hunderttausende dieser Fotos aus
Coachella. Von Menschen in Blumenklei-
dern, rosaroten Nickelsonnenbrillen und
bunten Stirnbändern, mit Friedenssymbol-
Halsketten und Save-the-World-Armbän-
dern. Palmen, ein Riesenrad und eine gi-
gantische Astronautenfigur werden zum
Hintergrund, und drinnen im Turm, da
wird es psychedelisch: Die Besucher lau-
fen auf einer Spirale nach oben, es gibt
300 Fenster, die von 31 Farbpaneelen und
mehr als 2000 Metern Kabel mit LED-Lich-
tern daran ausgeleuchtet wer-
den. Wer drin ist, der glaubt, ge-
nau das zu erleben, was die Leu-
te einst beim Woodstock-Festi-
val erlebt haben.
Auf den Bildern und Videos
aus Coachella blickt niemand
ernst oder gar betrübt drein. Es
ist der immer gleiche Gesichts-
ausdruck und damit die immer
gleiche Botschaft, auf Millionen
von Fotos: Seht mal her, wie cool
wir doch sind! Der Musiker
Prince, der in seinem zu kurzen
Leben allerhand coole Dinge er-
lebt und selbst erschaffen hat,
rief den Leuten auf diesem Festi-
val mal zu: „Ihr seid am coolsten
Ort der Welt!“
Coolness ist ein Lebensge-
fühl und ein Geschäftsmodell
hier in der kalifornischen Wüs-
te: Mit ihren Hippie-Armbän-
dern und der Woodstock-Ästhe-
tik sind die Festivalgäste ihrer Zeit unfass-
bar hinterher, und das durchaus bewusst,
und deshalb sind sie wiederum all den
Trends immer ein kleines bisschen voraus.
Alles kommt wieder, und wer geduldig
wartet, der ist dem Trend irgendwann vor-
aus. Wer Trends verstehen will, muss hier-
her kommen, in die Wüste des Coachella
Valley.
Jetzt, im Sommer und ohne Festival, da
leuchtet der Spectra-Turm nicht in Regen-
bogenfarben. Er sieht aus wie ein Wasser-
turm, der kein Wasser spendet. Die Wiesen
sind arg verdorrt im Empire Polo Club in
der Kleinstadt Indio, dem Veranstaltungs-
ort, der außerhalb des coolen Festivals
wirklich genau dies ist: ein Poloklub. Das
ist ein bisschen überraschend, denn der
Reichen-Pferdesport will kaum passen zu
diesen Coachella-Besuchern, die den Besu-
chern des Woodstock-Festivals vor exakt
50 Jahren so ähnlich sehen.
Es lässt sich jedenfalls ordentlich Geld
verdienen mit Leuten, die unbedingt auf
der Höhe der Zeit sein möchten. Hier in der
kalifornischen Wüste spielen sie mit dieser
Sucht. Und die Zahlen belegen den Erfolg:
Coachella und das Country-Music-Treffen
Stagecoach kurze Zeit später generieren
für die Region zusätzliche Einnahmen in
Höhe von 1,4 Milliarden Dollar. Es kom-
men Leute, die auf Seminaren in der Wüste


den Sinn des Lebens oder sich selbst su-
chen. Es gibt Partys für Menschen, die hier
so sein dürfen, wie sie sind, weil sie es an-
derswo nicht können. Und alle von ihnen
geben Geld aus. Das billigste Wochenend-
ticket für das Coachella-Festival in diesem
Jahr: 429 Dollar. Wer das Festival besucht,
der gibt einer Studie zufolge durchschnitt-
lich 2500 Dollar aus.
Selbst die Indianer vom Stamm Agua Ca-
liente Band of Cahuilla machen mit, sie ver-
pachten ihr Land und lassen Touristen in
den heiligen Canyons wandern, sie verdie-
nen ihr Geld mit Casinos und Golfplätzen.
Ein bisschen nördlich vom Coa-
chella Valley gibt es auf heili-
gem Boden das sogenannte In-
tegratron: Der Ufologe George
Van Tassel wollte damit im Jahr
1957 Kontakt mit Außerirdi-
schen aufnehmen, heute lassen
sich die Leute in dieser Kuppel
mit einem Durchmesser von 18
Metern für 40 Dollar durch eso-
terische Klänge beschallen, da-
nach meditieren sie unter dem
größten freistehenden Felsbro-
cken der Welt oder beobachten
in der Dunkelheit mit bloßem
Auge die Galaxien Andromeda
und Triangulum. Insgesamt
sorgt Tourismus für einen Um-
satz von mehr als vier Milliar-
den Dollar pro Jahr – in einer Ge-
gend, in der im Sommer gerade
mal 200 000 Menschen leben.
Warum nur? Wie hat es das
Coachella Valley geschafft, zum
Inbegriff der Coolness zu werden? Es wol-
len ja immer alle cool sein. Doch dazu ge-
hört nun mal die Eigenschaft, sich aber so
was von überhaupt nicht dafür zu interes-
sieren, was andere von einem denken. Wer
sich davon befreit, anderen gefallen zu
müssen, der kann tun, was er will, und er
darf dann sein, wer immer er sein möchte.
Dieses Tal in der kalifornischen Wüste mit
solch herrlichen Städtenamen wie Thou-
sand Palms, Sky Valley und Bermuda Du-
nes hat genau das zum Lebensmotto ge-
macht. Zuerst versammelten sich hier all je-
ne, denen egal ist, was andere von ihnen
denken. Und dann folgten diejenigen, die
auch gerne so frei und so cool sein wollten.
Das Coachella-Festival gibt es seit 1999.
Begonnen hat die Kultivierung der Cool-
ness in der Wüste aber in den 1950er-Jah-
ren, als Hollywoodstars einen Ort suchten,
an dem sie nicht sein mussten, wie es die
mächtigen Filmstudios von ihnen erwarte-
ten und in die Verträge schrieben, sondern
an dem sie sein durften, wie sie sein woll-
ten. In der Wüste interessierte niemanden,
ob der Entertainer Liberace nun homose-
xuell war oder nicht – in Los Angeles dage-
gen verklagte er jeden, der das behauptete.
Es war nicht von Bedeutung, ob Steve
McQueen die zwei Stunden Autofahrt hier-
her in einem Ford Mustang GT 390 oder im
Jaguar XKSS absolvierte, hier konnte er un-

behelligt im Geländewagen Baja Boot
durch die kalifornische Wüste heizen.
Kaum einer kann solche Geschichten
besser erzählen als Kurt Cyr. Er trägt einen
roten Schal zu rosarotem Hemd und
hellblauen Hosen. Vor 20 Jahren hat der
Designer ein Haus der legendären Bauher-
ren George und Bob Alexander in Palm
Springs gekauft, dem Städtchen im Coa-
chella Valley. Mittlerweile bietet Cyr Tou-
ren zu den Villen an, zum Arthur Elrod
House von Architekt John Lautner zum Bei-
spiel, zu bestaunen im James-Bond-Aben-
teuer „Diamonds Are Forever“. Oder zum
„Honeymoon House“ von Elvis und Priscil-
la Presley. Ganz nebenbei erklärt Cyr ei-
nem auf der Martini & Mid Century Archi-
tecture Tour, dass es hier einst Partys gege-
ben hat wie sonst nur in der Playboy-Villa
in Los Angeles oder im Studio 54 in New
York und warum man einen Martini ge-
schüttelt und nicht gerührt trinken sollte.
„Palm Springs war abgelegen, die Leute
bewohnten ihre Häuser nur ein paar Wo-
chen im Jahr und mussten sie deshalb
nicht renovieren oder modernisieren“,
sagt Cyr. Die Gegend habe, auch weil sie in
dieser Zeit als uncool galt und wegen der äl-
teren Einwohner das „Wartezimmer Got-
tes“ geschimpft wurde, die architektoni-

schen Offenbarungseide der 1980er und
90er verpasst und den Mid-Century-West-
Coast-Style, der nun so gefeiert wird, im
Originalzustand erhalten: „Es ist, als hätte
man all die wunderbaren Gebäude in ei-
nem Gefrierschrank gepackt und dann En-
de der 90er wieder aufgetaut.“ Das Gebäu-
de in Manhattan, in dem das Studio 54 ge-
wesen ist, beherbergt heute Büros, die Play-
boy-Villa gehört dem Milliardärserben
Daren Metropoulos. Das Flitterwochen-
Haus der Presleys in Palm Springs sieht
noch genauso aus wie damals. Palm
Springs ist ein architektonisches Open-Air-
Museum in Technicolor. Die Presley-Villa,
ein Gebäude von vorvorvorgestern, heißt
„House of Tomorrow“ und erinnert wieder
an diese Coolness, die sich die Besucher et-
was kosten lassen hier in Coachella: Alles
kommt wieder, und wer geduldig wartet,
der ist dem Trend irgendwann voraus.
Es ist nun cool, einen Plattenspieler und
Vinyl-Platten zu besitzen, Fotos mit der an-
tiken Polaroidkamera zu machen (oder we-
nigstens einen Polaroidfilter zu benutzen)
und beim Blick aufs Haus von Frank Sina-
tra zu erfahren, dass ein geschüttelter Mar-
tini kälter ist, wegen des geschmolzenes Ei-
ses weniger Alkohol enthält und wegen des
emulgierten Öls klarer daherkommt.

„Kaum jemand ist hier geboren. Wer
hier lebt, hat es sich ausgesucht“, sagt De-
bra Hovel über das Coachella Valley. „Man
darf sich hier finden, man darf sich aber
auch neu erfinden.“ Hovel hat jahrzehnte-
lang Trends für Konzerne wie Target und
Best Buy erspäht, vor neun Jahren ist sie
mit Ehemann Richard, ebenfalls ein soge-
nannter Trend Hunter, nach Palm Springs
gezogen. Sie arbeitet nun als Schuhdesig-
nerin, sie ist Präsidentin des Center for
Creativity und betreibt gemeinsam mit
Cyr einen Thinktank, dem mittlerweile
mehr als 800 Leute angehören: „Wir wol-
len das Bestehende bewahren,
bei der Architektur etwa. Wir
wollen aber gleichzeitig Risiken
eingehen und neue Dinge aus-
probieren. Ein Ort muss sich per-
manent verändern.“
Die Gegend hat sich verän-
dert, und wieder hatte es damit
zu tun, dass sie einen sein lässt,
wie man ist, ohne Rücksicht dar-
auf zu nehmen, was andere den-
ken. In den 1990er-Jahren ka-
men Mitglieder der LGBTQ-Sze-
ne hierher, also Lesben, Schwu-
len, Bisexuelle, Transgender
und queere Bevölkerungsgrup-
pen. Hier im Valley fühlten sie
sich verstanden und akzeptiert.
Sie eröffneten kleine Bou-
tiquen, schicke Restaurants und
hippe Nachtklubs. Der Bürger-
meister von Palm Springs, Ro-
bert Moon, und alle fünf Mitglie-
der des Stadtrats gehören zur
LGBTQ-Gemeinschaft, das hat
es in den USA davor noch nie gegeben. Dies-
mal haben sie nicht gewartet, sondern wa-
ren dem Trend aufgrund ihrer Offenheit
und Toleranz einfach so voraus. Passte
eben zu Coachella.
Es hilft der Coolness dieser Gegend au-
ßerdem, dass hier ein paar Leute wohnen,
die dafür sorgen, dass die in einem Think-
tank erarbeiteten Ideen auch umgesetzt
werden. Der Chef eines Filmstudios zum
Beispiel, der sich kümmert, dass der oscar-
prämierte Regisseur Alfonso Cuarón und
der oscarprämierte Schauspieler Rami Ma-
lek zum Filmfest erscheinen. Oder ein Milli-
ardär, der in der Lage ist, einen Skandal in
einen Triumph zu verwandeln.
Denn es gibt noch eine Geschichte, die
man kennen sollte, wenn man verstehen
will, was da passiert in der Wüste. Es gibt
hier nicht nur ein Musik- und Kunstfest,
sondern seit 45 Jahren auch ein großes Ten-
nisturnier. Und um das gab es lange einen
Skandal: Beim Endspiel im Jahr 2001 war
die damals 19-jährige Serena Williams be-
lästigt, beschimpft und beleidigt worden.
Das ist der schlimmstmögliche Fehlschlag
für diese Region, die weltoffen und inklu-
siv sein möchte, plötzlich aber als rassis-
tisch und vielleicht auch sexistisch galt.
Auftritt Larry Ellison. Er hat mit der Soft-
warefirma Oracle Milliarden Dollar ver-

dient und im Jahr 2009 den finanziell ange-
schlagenen Indian Wells Tennis Garden
mitten im Coachella Valley gekauft – und
damit auch das Turnier. Er ärgerte sich
maßlos darüber, dass bei den Frauen die
beste und berühmteste Spielerin fehlt, al-
so jene, mit der man die meisten Eintritts-
karten verkaufen kann. Er holte Williams
zurück und sorgte dafür, dass sie ihre Rück-
kehr vermarkten durfte. In einem Essay
für dasTime Magazinezitierte sie Nelson
Mandela und das Markusevangelium, sie
philosophierte über Vergebung und Nach-
sicht. Nach dem Comeback-Turnier 2015
vermeldete der Tennis Garden einen Zu-
schauerrekord.
Die Stadt Indian Wells nimmt wegen die-
ses Turniers allein über Steuern in diesem
Jahr 18,5 Millionen Dollar ein, der gesamt-
wirtschaftliche Effekt für die Region: mehr
als 400 Millionen Dollar. Man muss sich
das schon mal auf der Zunge zergehen las-
sen, dass die bedeutendsten Tennisveran-
staltungen der Welt stattfinden in: Mel-
bourne, Paris, London, New York – und im
5000-Einwohner-Städtchen Indian Wells.
Sie verkaufen einem keine Sachen in die-
sem Tal, sondern ein Gefühl, von dem man
erzählen kann. Wer das Turnier damals be-
suchte, darf jedem von diesem Moment
erzählen, als Serena Williams zu Jubel ins
Stadion marschierte. Wer bei einem ge-
schüttelten Martini über die
Bauwerke von Bill Krisel und Do-
nald Wexler staunt, der darf
sich, so nennen sie das hier,
„educated“ und „sophistica-
ted“ fühlen, gebildet und an-
spruchsvoll. Wer im Integraton
bei der Klangmeditation mit-
macht, kann später verbreiten,
wie ganz besonders sich das al-
les angefühlt habe.
Das Coachella-Musikfestival
selbst könnte die Geschichte,
die sich immer wiederholt,
kaum besser widerspiegeln. Im
zweiten Jahr des Fests gab es
die Wiedervereinigung der
BandJane’s Addiction. „Als wir
das verkündet haben, sind die
Leute ausgeflippt“, sagt Paul
Tollett, der das Festival gemein-
sam mit Rick Van Santen
initiiert hatte. „Da haben wir
bemerkt: ‚Oh, das scheint den
Leuten zu gefallen, wenn wir
Bands präsentieren, die lange nicht zusam-
mengespielt haben.‘“ Ein paar weitere Coa-
chella-Reunions: Iggy and The Stooges
(2003),The Pixies(2004),Rage Against the
Machine (2007), My Bloody Valentine
(2009),Faith No More(2010),Pulp(2012),
Outkast(2014),Guns N’ Roses(2016).
In diesem Jahr trat Billie Eilish auf. Die
17-Jährige ist die gefragteste Künstlerin
weltweit. Sie spielte nicht auf der Haupt-
bühne, sondern im Outdoor Theatre, das
man vom Regenbogen-Turm Spectra aus
am besten sehen kann. Sie vergaß den
Text, was ihre Fans noch viel bezaubern-
der fanden als eine perfekt choreografierte
Show. Eilish durfte sein, wie sie ist, und da-
nach sagte sie: „Ich habe mich so wohl ge-
fühlt wie selten zuvor.“
Dass das Festival inzwischen weniger
Musikveranstaltung als eine Art Fashion
Week für Millennials ist, stört hier nieman-
den. Warum auch? Man darf hier sein, wie
man sein will, und wenn die jungen Leute
am liebsten Selfies machen wollen, sollen
sie das gefälligst tun dürfen.
Danach fahren sie heim in der Gewiss-
heit, ein bisschen cooler zu sein als vorher


  • und es schadet ja nicht, das über soziale
    Netzwerke mitteilen zu dürfen und so Gra-
    tiswerbung zu machen für das coole Tal in
    der Wüste.


„Outkast“,
„GunsN’
Roses“:
Etliche
Bands
haben sich
hier wieder-
vereinigt

Die
Indianer
verdienen
ihr Geld
mit
Casinos
und
Golfplätzen

32 WIRTSCHAFT REPORT HF2 Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH


Spektuläre Bilder, vor allem darum geht es inzwischen
beim Coachella Festival. Viele liefert
diese Attraktion namens Spectra.FOTO: KYLE GRILLOT / AFP

Seht mal her, wie cool wir doch sind: Das ist die immer gleiche Botschaft der Bilder aus Coachella. FOTO: ANDREW RUIZ / UNSPLASH

Tal der Coolen


Das Coachella Valley in Kalifornien hat in den vergangenen 60 Jahren ein interessantes


Geschäftsmodell entwickelt: Die Region verdient Milliarden mit Festivals,


einem Tennisturnier – und mit dem Versprechen, dass jeder hier sein darf, wie er möchte


von jürgen schmieder

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