Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
Kirsten Fuchs:
Leiderhat sich sein Ver-
halten ja für ihn ge-
lohnt. Das ist schade.
So hat er ja schon fal-
sches Verhalten ge-
lernt. Andererseits
glaube ich, dass er mit
fünf noch nicht geschäftsfähig ist, und
dann müsste der Ladenbesitzer den
Großeinkauf eventuell zurückneh-
men. Medienverbot finde ich nicht die
passende Strafe. Und Ihre moralischen
Argumente scheint er noch nicht rich-
tig nachvollziehen zu können. Ich wür-
de ihm einen kindgerechten Vergleich
geben: „Wie würdest du dich fühlen,
wenn jemand ein Bild, das du gemalt
hast, wegnimmt oder zerstört?“ Be-
kommt er denn schon Taschengeld?
Geld scheint für ihn ja eine große Rolle
zu spielen, ebenso Süßigkeiten. Also
könnte ein Taschengeld gut sein, um
den richtigen Umgang mit beidem zu

üben. Er könnte sich sogar was dazuver-
dienen (Brötchen für Nachbarn holen
oder andere kleine Botengänge). Viel-
leicht muss er mehr die Gelegenheit ha-
ben, selbst etwas zu schaffen, und
braucht Verantwortung, damit er an
diesem Einkaufsding teilnehmen
kann.

Herbert
Renz-Polster:
FÜNF ist dieser Klein-
kriminelle, fünf Jahre
alt! Ich war in der zwei-
ten oder dritten Klasse,
als wir vor dem Kiosk
neben der Grundschu-
le munter Süßwaren in der Clique ver-
teilten – zumindest bei meinem Zwil-
lingsbruder und mir vom Geld meines
Vaters gekauft (nein, wir haben das
nicht „gefunden“, sondern aus seiner
Geldbörse geklaut). Was bin ich froh,
dass er uns nicht erwischt hat! Denn

erstens haben wir mit dem Diebesgut
Teilen geübt. Vor allem aber hätte es
nicht einmal meinen Bruder zu einem
besseren Menschen gemacht (der war
von uns beiden immer der Schneller-
Checker). Warum nicht? Weil Moral
nicht durch Ansagen von oben oder rati-
onale Argumente entsteht. Sondern
von unten, auf langsamen Trampelpfa-
den. Vorwärts kommen die Kinder, die
nicht schon deshalb zur Lüge greifen
müssen, weil die Kosten der Wahrheit
so verdammt teuer sind (zu Tode ent-
täuschte Eltern, Medienverbot usw.).
Nein, mit kleinen Dieben kann man RE-
DEN ohne die Moralkeule in der Hand,
mit denen kann man REGELN finden,
die sie selber umso länger mittragen, je
gütiger der Richter und je vertrauter
die Beziehung zu den Eltern ist. Und ge-
nau das ist unsere „Werteerziehung“:
dass wir unseren Familiengarten gut
bestellen. Moral, „Werte“ und die ande-
ren Grenzen drumrum ergeben sich

dann von selbst – weil sie etwas Wertvol-
les schützen.

Collien
Ulmen-Fernandes:
Wichtig ist, dass Ihr
Kind nachvollzieht,
was ein Vertrauens-
bruch im Gegenüber so
auslösen kann. Diese
Enttäuschung sollten
Sie ihm sehr deutlich machen und un-
terstreichen, dass nicht jeder Mensch,
dem es begegnet, so schnell verzeihen
wird, weil nicht jeder Mensch seine Mut-
ter ist. Dass Freundschaften kaputt ge-
hen können, wegen einer bescheuerten
Summe von zwölf Euro – oder nur 50
Cent. Spontan kam mir die Idee, dass
Sie ihm zu Demonstrationszwecken
ebenfalls mal was klauen könnten, aber
bitte vergessen Sie diesen spontanen
Racheansatz wieder. Ich ticke manch-
mal etwas alttestamentarisch.

Kirsten Fuchsist Schriftstellerin und lebt mit
zwei Töchtern, Mann und Hund in Berlin. Sie
schreibt vor allem Kurzgeschichten und Roma-
ne, aber auch Theaterstücke sowie Kinder- und
Jugendbücher. Ihr Buch „Mädchenmeute“ erhielt
2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Herbert Renz-Polsterist Kinderarzt, Wissen-
schaftler und Autor von Erziehungsratgebern
und des Blogs „Kinder verstehen“. Er hat
vier erwachsene Kinder und lebt mit Frau
und jüngstem Kind in Ravensburg.

Collien Ulmen-Fernandesist Schauspielerin
und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter
hat mehrfach Texte zum Thema Elternsein
veröffentlicht, 2014 erschien von ihr das
Buch „Ich bin dann mal Mama“.

 Haben Sie auch eine Frage?
SchreibenSieeine E-Mail an:
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FAMILIENTRIO


Mein Sohn (5) sagt zuletzt öfter, er


habe Geldauf der Straße „gefunden“.


Er geht dann Kaugummi kaufen.


Jetzt kam er mit einem Großeinkauf


vom Kiosk. Auf meinem Nachttisch


fehlten zwölf Euro. Ich habe mit ihm


geschimpft, er erhält Medienverbot.


Aber meine moralischen Argumente


(Vertrauensbruch, Enttäuschung,


Traurigkeit) perlen an ihm ab. Wie


kann ich das Gewissen in ihm wecken?


Sonja G. aus Mexiko-Stadt


von cerstin gammelin

A


n einem Samstag im Frühjahr
1991 liegt der Brief da. Die Fami-
lie ist gerade dabei, sich zum
Mittagessen zu versammeln.
Mein Schwiegervater, damals
Mitte fünfzig, macht noch schnell das
Schreiben auf, Absender ist die Wohnungs-
baugenossenschaft. Er liest – und geht zur
Schrankwand, dahin, wo der Cognac steht.
Der Brief hat ihn endgültig in die neue Welt
katapultiert.
Dank der Kooperation mit der Kreis-
handwerkerschaft Coesfeld, schreibt die
Wohnungsbaugenossenschaft Neuruppin,
werden überall in den Altbauten die alten
Kohleöfen rausgerissen und Zentralheizun-
gen eingebaut. Noch im Sommer! Es soll
eine gute Nachricht sein: Seht, es wird
doch was mit den blühenden Landschaf-
ten. Für meinen Schwiegervater aber ist es
ein Albtraum. Er hat ein ostdeutsches Ar-
beitsleben lang Briketts gehortet, um sie
tauschen zu können gegen andere rare Din-
ge. Und jetzt? Lebt er, ohne umgezogen zu
sein, plötzlich in einer grenzenlosen Kon-
sumgesellschaft.
In diesen Wochen, da viel über die Wah-
len in Sachsen, Brandenburg und die anste-
hende Wahl in Thüringen berichtet wird
und die Ratlosigkeit angesichts der Wahler-
folge der AfD wächst, lohnt es sich, einen
ruhigen Blick zurückzuwerfen auf die wil-
den Neunzigerjahre und die Wendewirren
dieser Zeit. Denn der Verlust des vertrau-
ten Lebensalltags hat dazu beigetragen,
dass die Stimmung im Osten so anders ist
als in der restlichen Republik.
Man kann das erzählen am Beispiel mei-
nes Schwiegervaters. Einer von 16 Millio-
nen Menschen, die sich eingerichtet hatten
in den ostdeutschen Lebensverhältnissen
und sich nach der Wende abrupt ganz neu
orientieren müssen. Es zeigt, wie dabei oft
unbeabsichtigt absurde Situationen entste-
hen, weil die Deutschen im Osten und im
Westen keine Ahnung voneinander haben.


Mein Schwiegervater ist ein unauffälli-
ger, friedfertiger Bürger mit sozialdemo-
kratischem Herzen, der in Neuruppin lebt
und sich am liebsten nur so weit weg be-
wegt, wie er den Turm der Klosterkirche se-
hen kann. Er hat ein Grundstück am See ge-
pachtet, dessen Eigentümer nach dem
Krieg im Westen geblieben sind. Beherzt
packt er in der Schrebergartenidylle alle
Dinge an, er drechselt Kerzenständer,
pflanzt und erntet, baut Bungalows für die
Kinder und deren Familien. Jedes Jahr am



  1. Mai wird gebadet; egal, wie kalt es ist.
    Heimatverbunden, würde man heute sa-
    gen. Hat er damals von Reisefreiheit ge-
    träumt, von freien Wahlen, unbegrenztem
    Konsum und nationaler Einheit? Ja, na ja,
    aber nicht so, sagt er, als wir beim Kaffee
    sitzen. War plötzlich alles ganz anders da-
    mals. Aber nicht besser.
    Anders, aber nicht besser. Warum? Um
    das zu verstehen, helfen ein paar Fakten:
    Vier von fünf Ostdeutschen verlieren nach
    der Wende ganz oder vorübergehend den
    Arbeitsplatz, die meisten Betriebe werden
    an westdeutsche Eigentümer verkauft, vie-
    le Berufsabschlüsse nicht anerkannt. Die
    Menschen im Osten erleben, wie ihr bishe-
    riges Leben dramatisch entwertet wird.
    Die friedliche Revolution, geboren aus un-
    geheurem Mut und aus eigener Kraft,
    führt nicht in den Neuaufbau Ost oder in
    den Aufbau einer neuen Bundesrepublik,
    sondern zur Vereinnahmung.
    Es zählen nur noch das Geld des Wes-
    tens, seine Konsumgewohnheiten und
    Werte, seine Machtstrukturen und politi-
    schen Parteien. Selbst Bewährtes wird ab-
    geschafft oder taucht später unter ande-
    rem Namen wieder auf. Polikliniken wer-
    den zu Ärztehäusern. Das bezahlte Baby-
    jahr der DDR, bei dem nach der Geburt des
    Kindes zwei Drittel des Gehalts weiterge-
    zahlt wurde, wird Jahre später als Eltern-
    geld wiedererfunden. Und statt der selbst-
    bewussten Ostfrauen werden Französin-


nen angeführt, wenn es um die gleichbe-
rechtigte Teilhabe am Arbeitsleben geht.
„In Westdeutschland wäre es nicht mög-
lich gewesen, den Leuten eine Verände-
rung dieses Ausmaßes zuzumuten“, sagt
Birgit Breuel, die als frühere Treuhand-
Chefin das Betriebsvermögen der DDR
abgewickelt hat, Ende Juli in der FAS.
Den Ostdeutschen aber mutet man es
zu. Mit der Folge, dass sich die Bürger
fremd zu fühlen beginnen im eigenen
Land. Das Leben, das sie vor der Wende ge-
führt haben, sieht im Licht der neuen Ver-
hältnisse falsch aus. Angela Merkel trägt
zur langsam schwelenden Wut bei, als sie

die DDR zum Unrechtsstaat erklärt. Aner-
kannt wird nur noch der Teil der Biografie,
in dem man aufbegehrt hat. Dabei haben
viele gar nicht aufbegehrt, sondern nur ver-
sucht zurechtzukommen.
Mein Schwiegervater hat damals sein
ganz persönliches Auskommen um Bri-
ketts der Marke Rekord herum aufgebaut.
In Neuruppin gibt es Ende der Achtziger-
jahre noch viele Ofenheizungswohnungen.
Briketts sind Mangelware, vor allem die gu-
ten, auf die der Schriftzug Rekord gepresst
ist; sie heizen prächtig, verbrennen zu
brauner Asche und sind „nur unter dem La-
dentisch“ zu haben. Heißt, wer solche Re-

kord-Briketts haben will, muss Tauschwa-
re bereithalten. Wer Rekord-Briketts hat,
kann sie tauschen.
Rekord-Briketts sind für die Bürger
schwer zu kriegen, weil sie in Kombinaten
zum Aufbau des Sozialismus eingesetzt
werden. Kohle mit hohem Heizwert wird in
DDR-Hochöfen zur Stahlschmelze ge-
braucht; das Land hat ja keine Steinkohle,
sondern nur wässrige Braunkohle, die auf-
wendig verkokt werden muss, um damit
Stahl schmelzen zu können. Nur ein klei-
ner Teil der abgebaggerten Kohle wird zu
Rekord-Briketts verarbeitet. Zu den bevor-
zugten Kunden zählen die in der DDR stati-

onierten Sowjets. Mein Schwiegervater
heuert in den Fünfzigerjahren in der sowje-
tischen Kommandantur in Neuruppin als
Hausmeister an, in einer der prächtigen Vil-
len. Karl Friedrich Schinkel ist hier gebo-
ren, Fontane hat die Stadt berühmt ge-
macht. Sie kommt preußisch daher mit ei-
ner breiten Hauptstraße und dem Parade-
platz. Marschiert sind dort erst deutsche
und dann sowjetische Soldaten. Tausende
sowjetische Soldaten sollen zu DDR-Zeiten
in den Wäldern rund um Neuruppin statio-
niert gewesen sein. Zu sehen sind sie
kaum. Die Deutschen sind in der Stadt. Die
Russen im Wald.
Jedes Jahr, kurz vor dem 1. Mai, kom-
men ein paar in die Stadt, blutjunge Kerle,
und streichen die Zäune der Kommandan-
tur weißhellgraublau an. Weil die Farbe
wasserlöslich ist, wäscht sich der Anstrich
mit dem nächsten Regen ab. Die Anstreich-
trupps kommen so regelmäßig wie die sozi-
alistischen Feiertage im Kalender. Einhei-
mische und Fremde leben miteinander, oh-
ne sich zu kennen.

Mein Schwiegervater fährt vier Jahr-
zehnte lang morgens zur Villa. In einer Um-
hängetasche bringt er Stullen mit. Wenn er
heimfährt, hat er die Stullen durch Briketts
ersetzt, Marke Rekord. Obwohl er, wie er
heute noch sagt, gern in der Kommandan-
tur arbeitet, fühlt er so was wie eine Berech-
tigung, die Briketts mitzunehmen, als pri-
vaten Ausgleich zu den Reparationen, die
Ostdeutschland an die Sowjetunion wegen
des Krieges zahlen muss. Wenn die So-
wjets hier schon wertvolle Güter wie Schie-
nen abmontieren und in die Sowjetunion
bringen, denkt er, kann ich auch paar Koh-
len mitnehmen, sozusagen als ausgleichen-
de Gerechtigkeit. So geht es also jeden Tag,
sommers wie winters: Hin fährt er mit Bro-
ten. Zurück mit Rekord-Briketts.
Als ich Mitte der Achtzigerjahre erst-
mals zu Besuch komme, bitten meine
Schwiegereltern mich auch in den Keller.
Als sich die Tür öffnet, muss ich an Ali Ba-
ba und die 40 Räuber denken und an die
Schatzhöhle. Nein, da sind keine Regale
mit Eingewecktem. Dort stehen, säuber-
lich preußisch korrekt geschichtet, manns-
hohe Reihen von Rekord-Briketts. Der Kel-
ler des Schwiegervaters ist eine ostdeut-
sche Schatzkammer. Pures Gold im über-
tragenen Sinne: Briketts, die er gegen Hohl-
blocksteine tauscht, aus denen er dann ei-
nen weiteren Bungalow am See baut, mit
denen er sich Ersatzteile für den Trabant
oder den Wartburg besorgt. Und die er für
schlechte Zeiten hortet.
Stolz erzählt man mir damals, dass das
nicht alles sei. Es gebe auch noch eine Gara-
ge halb voll mit Kohlen. Die Botschaft: Ma-
che dir keine Sorgen, alles ist gerichtet für
eine auskömmliche Zukunft.
Ein bisschen ein schlechtes Gewissen ha-
be er schon gehabt, sagt mein Schwiegerva-
ter. Vor allem wegen der Solidarität, die er
unter den Sowjets erlebt: Die jungen Rus-
sen, die unter spartanischen Bedingungen
im Wald hausen, spenden nach der Reak-
torkatastrophe von Tschernobyl die letzte
Kopeke, um Hilfspakete zu schicken. Mein
Schwiegervater ist beeindruckt, packt
selbst mit ein.
Das war das Leben bis zur Wende und je-
nem Brief im Frühling, der alles neu bewer-
tet. Die Briketts sind kein Gold mehr wert,
die tauscht keiner mehr, man kann ja alles
kaufen. Wenn die Öfen rauskommen, neh-
men sie im Keller nur noch Platz weg.
Was ist eigentlich aus den Kohlen gewor-
den, frage ich meinen Schwiegervater an
Weihnachten vergangenes Jahr. Ach, wie-
gelt er ab, weiß ich nicht mehr. Die hat je-
mand weggefahren. Und dann sagt er wie-
der: Es war plötzlich alles anders damals.
Aber auch nicht besser. Es klingt resi-
gniert, zugleich irgendwie versöhnt. So
wie: hat eben nicht sollen sein mit den Koh-
len. Die Russen sind schon lange weg. Der
Garten am See ist geräumt, die Bungalows
sind abgerissen, der Alteigentümer zu-
rück. „Es ist trotzdem weitergegangen.“

FOTOS: STEFANIE FIEBRIG,VERLAG, ANATOL KOTTE

Beim Anblick der Kohle muss
ichan Ali Baba und
an die Schatzhöhle denken

Er pachtet ein
Grundstück am See,
auf das er Bungalows
für die Kinder und
den Enkel baut, und er
hat einen Keller voller
Kohle, wertvoll wie
Gold. Der Schwieger-
vater hatte alles
gerichtet für eine
Zukunft, die dann ganz
anders kam.
FOTO: PATRICK PLEUL/PA/DPA

Der Mann mit der Kohle


Jahrelang hortet der Schwiegervater unserer Autorin Briketts der Marke Rekord im Keller. In der DDR macht


ihn das reich. Heute sind sie wertlos. Eine Geschichte über die Verluste der Wiedervereinigung


Hat er damals von Reisefreiheit


geträumt, von unbegrenztem


Konsum? Ja, aber nicht so


52 GESELLSCHAFT FAMILIE UND PARTNERSCHAFT Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH

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