Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1

21./22. SEPTEMBER 2019 9


RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN


Raumzeit,Telefon


und Süleyman



  1. September 1908


Raumzeit:DerMathematikerHermannMin-
kowski (1864–1909) spricht in Köln auf der
VersammlungDeutscherNaturforscherund
Ärzte überRaum undZeit. Er beginnt mit
denWorten:„MeineHerren! DieAnschauun-
genüberRaumundZeit,dieichIhnenent-
wickeln möchte,sind auf experimentell-
physikalischem Boden erwachsen. Darin
liegt ihr eStärke .IhreTendenz ist eineradi-
kale.VonStundansollenRaumfürsichund
Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken
undnurnocheineArtUnionderbeidensoll
Selbstständigkeitbewahren.“


  1. September 1916


SPD:DerParteivorsitzendeFriedrich Ebert
erklär tauf der Reichskonferenz derPartei:
„NachdenAngabenderWahlkreisorganisa-
tionenbetrugamSchlussedesGeschäftsjah-
res,alsoam31.März,derMitgliederbestand
1914: 1085 905, davon 174 754weibliche;

Süleyman I., Sultan des Osmani-
schen Reiches. IMAGO IMAGES

Der Mathematiker Hermann Min-
kowski (1864–1909). ETH-BIBLIOTHEK

1915 insgesamt: 558 722, davon 132 475
weibliche; 1916 insgesamt: 395 216, davon
107136 weibliche.DerGesamtrückgangder
Mitglieder seit 1914 beträgt danach 64Pro-
zent, und zwar der Rückgang der männli-
chen68,derderweiblichen39Proz ent.“

Und am 21. September 1969 in der
Berliner Zeitung

Telefon:DieAusstellung„Kämpfer undSie-
ger“ in derKarl-Marx-Allee war amSonn-
abend starkbesucht. DasNachrichtenzent-
rumderDeutschenPost,vonwoP ostminis-
ter SchulzeamEröffnungstag das erste
Selbstwählgespräch mit Moskau geführt
hatte,fanddas InteressevielerBesucher.Die
ausgestelltenGeräte und Dokumentezeig-
tenerheblicheFortschrittederDDRimFern-
meldewesen.DerTelefonverkehrinderDDR
hatjetzteinenAutomatisierungsgradvon70
Proz ent erreicht.Dievolle Automatisierung
wirdind ennächstenJahrenzielstrebigwei-
terverfolgt.


  1. September 1520


Osmanen:SüleymanI.(ca.1494–1566),spä-
ter genannt derPrächtige,wirdSultan und
Kalif vonKonstantinopel. DieHistoriker
streiten darüber,obers eine Brüder hat er-
mordenlassenoderobdasseinVaterschon
für ihn erledigt hat.Unter SüleymansHerr-
schaft erreicht das osmanischeReich seine
größte Ausdehnung.Eine ökonomisch eher
ruinöse Veranstaltung.Damit torpedierter
seine Verwaltungsgesetzgebung, die den
Staat stützen soll.Er stirbt –als einervon
30000 wohlRuhrerkrankten–während der
BelagerungderungarischenBurgSzigetvár.


E


inGanzkörper-Selfie,entstandenum1499.DerKuratorder
großenDürer-AusstellunginderWienerAlbertina,Christof
Metzger,erklärt:„AlswürdeergeradeausdemBadhaustre-
ten,sostehtDürervoruns.“EsisteineinmaligesBild.Erst
JahrhundertespätergabesandereKünstler,diesichnacktdarstell-
ten.Ichhatteniedarangedacht,aberangesichtsderSelbstverständ-
lichkeit,mitderAlbrechtDürer(1471–1528)sichhierzeigt,erscheint
mirdieVorstellung,dassniemandetwasVergleichbaresgemachtha-
ben soll, doch eher etwas abartig.So einzigartig kann einMensch
dochnichtsein.VordieserZeichnungstehendhabeichjetztdenVer-
dacht,dassdiejungenMännerindenAteliersvielgemachtundge-
malthaben,dasniedenWegind ieÖffentlichkeitfand.Sostehtjetzt
Dürers kleine (29x15Zentimeter) Aktzeichnung als einziger Über-
resteinsaminderKunstgeschichte.
„Es gab damals noch keine großenSpiegel, vordie Dürer sich
hättestellenundabzeichnenkönnen.DieserGanzkörper-Aktwurde
zusammengesetzt ausverschiedenenTeilansichten“, fährtMetzger
fort.„SchauenSiesichdie Beinean. Siesindzulang.“DerKopfführt
aucheinEigenleben.UndwasistmitderHüfte?Je nähermanhin-
schaut, desto mehrzerfällt der schöne Männerkörper.Das Blatt
wurde allerdings nicht zusammengesetzt ausverschiedenenBlät-
tern, sondernverschiedene Ansichten auf unterschiedlichenBlät-
ternsindhier vonDürerineinereinzigenZeichnungzusammenge-
fügtworden.
Mitviel Liebe zumDetail. Beachten Sieden Hodensack!Wie
schöndasLichthinterihmvorkommt.JedesDetailinteressiertDü-
rer.DievertrackteKnochen-undMuskelbildungderSchultern–mit
welcherAufmerksamkeitDürersichihrwidmet.KeinFitzelchenKör-
perbehaarung.NichtanderBrust,nichtandenBeinenundaucham
Glied nirgends ein Haar.Das wüsstenwir nicht, wenn es nicht be-
leuchtetwäre.DahateinBarbierganzeArbeitgeleistet.Esmussein
SchönheitsidealfürnackteMännergegebenhaben.Dürererfülltes.
Daszeigt er uns.Erist nicht nur einer der größtenKünstler.Erist
auchindiesernarzisstischenZunfteinervondenen,dieamlautes-
tenihreeigeneSchönheitfeiern.Mandenkenuranseinlangmähni-
gesSelbstporträtvon1500inderAltenPinakothekinMünchen.Er
schrecktnichtdavorzurück,sichselbstalsChristusdarzustellen.Der
Künstlerals Erlöser,als Retter der Welt. Aber wenn Gott Mensch
wurde,warumkanneinMenschdannnichtauchGottwerden?
Auch bei diesem Akt könnte man an Ecce-homo-Darstellungen
denken.Vonden Leiden Christi ist hier allerdings nichts zu sehen.
DieNähezurAntikewirdgeschaffendurchdenBronzetonderZeich-
nungunddadurch,dassDürersichalsTorsodarstellt.DassindAsso-
ziationen,diesicheinstellen,wennmandasGlückhat,eineWeilevor
derZeichnungstehenzukönnen.Nochsindhierkeineeinhundert-
tausendBesucher.AufdemWeginsHotelaberfragtmansich,warum
Düreresnichtgelang,dievonihminsomühsamerKleinarbeitzu-
sammengetragenenTeilansichten–ermusssichmiteinemkleinen
Spiegel Stück für Stück abgezeichnet, gewissermaßen abgescannt
haben–ineinembeeindruckenden,dieBetrachterbannendenGe-
samtbildzusammenzufassen.
Daswäredocheinfachgewesen,denktderLaie.Erhättenurein
DoublehinstellenundesdurchjeweilspassendeTeilansichtenerset-
zenmüssen. Dann wären die auffälligenVerrenkungenvermieden
worden.Wirhätteneinschönes,tadellosesBild.Vielleichtsolltenwir
jedoch davon ausgehen,dass gerade diese„Fehler“ Dürer interes-
sierten.
EinpaarSäleweiterhängtderHeiligeHieronymusausdemJahre



  1. EinGemälde,das mir völlig vermanscht vorkommt. Eine rie-
    sige Schulter,ein merkwürdig verknappterUnterarm, eine verbo-
    geneKörperhaltung.Manwürdesofortweitergehen,wenndanicht
    die großartigen Zeichnungenwären, dieVorzeichnungensind und
    gleichzeitig mehr als das.Aus dem Katalog sei ein Satz zitiert, aus
    demmannurdas„fast“streichenmuss,umdieWahrheitüberDü-
    rersKunstzuhaben:„DieArbeitamHieronymuswurdevonmehre-
    renHell-dunkel-Studienbegleitet,indenenDürerseineBildideemit
    höchsterunddasGemäldeschlussendlichfastübertreffenderPräzi-
    sionausarbeitete.“
    DiegenaueBeobachtung,dieAnalyse–dawarDürerunübertreff-
    lich.DassindFähigkeiten,diezeigterambestenindenZeichnun-
    gen.Vorihnenstehtmanstaunend.DiegroßenKompositionen,die
    das19. Jahrhundertsos ehrliebte,alsozum Beispieldiemonumenta-
    len vierApostel in München, die nochHelmut Newton so beein-
    druckten,erreichenmichnicht,aberdieseZeichnungzumBeispiel,
    dieeineneinaufgeschlagenesBuchhaltendenFingerzeigtundsonst
    nichts,diehautmichum.DasBuch,dassichauflöstimPapierdes
    Hintergrundes.Ichweiß,dassinddielächerlichenReaktioneneines
    durchdenSurrealismushindurchgegangenenBeobachters,aberich
    gebeihnengernenachbeimeinemGangdurchdieAlbertina.
    Andererseits aber erfahreich vomKurator ,dass gerade dievon
    mirals vermanschtbezeichneteKompositiondesBildesvomHeili-
    gen Hieronymus bei denZeitgenossen einriesiger Erfolg war .Das
    BildwurdevielfachkopiertundimmerwiederwurdegeradedieKör-
    perhaltung desHeiligen Hieronymus,wie er seinenKopf in die
    rechteHandlegtunddielinkeaufeinenTotenkopf,denZeigefinger
    aberabwinkelt,damitdernocheinmalaufdenunterihmliegenden
    Totenkopfzeigenkann.Einestar kverkrümmteAngelegenheit.Zeit-
    genossenundunmittelbarerNachweltabergefieles,undesmehrte
    Dürers Ruhm.


Albrecht Dürer:Selbstbildnis als Akt,Feder und Pinsel in Schwarz,weiß gehöht, auf grün grundiier-
temPapier,entstanden um 1499. ALBERTINA, WIEN

DieAktzeichnung,umdieeshiergeht,hattenichtdieChanceei-
nersolchenWirkung.SiekamerstspätandieÖffentlichkeit.Heute
istsieindenGraphischenSammlungenderKlassikStiftungWeimar.
DasobenlinkszufindendeDürer-Logostammtnichtvonihm.Das
sagtabernichtviel,weilZeichnungenimmerwiederbeschnitten
wurdenundsodieSignatur,dasberühmteAunterdessenQuerbal-
kendasDsteht,schonmalverschwindenkonnteunddannanande-
rerStellenachgetragenwurde.BeieinemGemäldeinderAlbertina-
Ausstellung sieht man sogar,dass das unten abgeschnittene Logo
obeneingefügtwurde.
ZurückzudemGanzkörper-Akt.Dürerhatnichtversucht,diever-
schiedenenAnsichtenzueinereinzigenzuverschmelzen.Erhatdie
verschiedenenDraufsichten bewahrt, aufgehoben.Wirkennen das
ins Extrem getrieben aus kubistischenGemälden. Dortwurde es
gernealsderVersuchbewertet,dieWirklichkeitausallenGesichts-
punktenzusehen.Hierscheintesmiretwasandereszusein:Dürer
will den Schaffensprozess nicht imProdukt verschwinden lassen.
DieAbbildung soll alsKonstruktion deutlich bleiben.DieIllusion
wirderzeugt,abergleichzeitigwirdgezeigt,wiesiezustandekommt.
WirhabenesmiteinemMalerzutun,dersichgenauestensRechen-
schaftablegtüberdas,wasermacht.
Dürers Neugierde richtetsichaufdieihnumgebendeWelt,aber
auchdieVerfahren,mittelsdererwirsiewahrnehmenundabbilden.
Albrecht Dürer hat darüber gelehrteAbhandlungen geschrieben.
ZumBeispiel:„VierBüchervondermenschlichenProportion“oder
„Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt,in
Linien,Ebenenundgantzencorporen.“1604erschieneneinpaarda-
vonunter demTitel„OperaAlberti Dureri,Das ist, Alle Bücher des
weitberühmbtenund Künstreichen Mathematiciund Mahlers Al-
brechtenDurersvonNürenberg“.WirsehenDürerganzfalsch,wenn
wirihnalseinenperfektenBeobachtersehen.DürerwarkeinAbbil-
dungskünstler.Erw arein Konstrukteur.
Esscheintmirnurnatürlich,dassesDürergeradebeiBlättern,die
erfürsichmachte,reizte,dieEntstehungdesMotivssichtbarzulas-
sen.DerKünstlerwillnichtverschwindenimProdukt,sondernsich
in ihm zeigen. Einer der am häufigsten zitierten Dürersätzelautet:
„DennwahrhaftigstecktdieKunstinderNatur,wersieherauskann
reissen,derhatsie.“DieNaturistkeineKunst.Diemussihrentrissen
werden.OhneTechnik,ohnedierichtigenInstrumente,gehtdagar
nichts.
WirsindinderRenaissance,unddasindKunstund Konstruktion
eines.Der Ausdruck, den wir so lieben, wirdmit„Zirkel und Richt-
scheit“hergestellt.Vernünftig.Selbstdie EkstaseisteinProduktder
Vernunft. Selbstentblößung istWissenschaft.Weretwas kann,zeigt
nichtnur,dasser ,sondernauchwieereskann.DerKünstlerfeiert
sichinseinemKönnen.GroßeGestenwiedieserAkt–größeregibtes
kaum–werden reflektiert,jaironisiert.DasnimmtindenAugender
Kennerihnennichtnurnichtsvonihrer Großartigkeit,essteigertsie
vielmehrnoch.DieSouveränitätderKunstzeigtsichgeradeda,wo
siesichnichtindenProduktenversteckt,sondernzeigt,wiediezu-
standekommen.
SiekennenDürersHasen?EswarschonbaldnachseinerEntste-
hungeinesderberühmtestenBilderDürers.KeinHasekonnteDürer
Porträtsitzen.Keinertutes.HatDürereinentotenHasengenommen
und hingesetzt? ChristofMetzger meint, es habe eineUnzahl von
Skizzen gegeben, aus denen Dürer dann diesen einenHasen ge-
zeichnethabe.Esg ibtauchBilder,diezeigendiesenHasendraußen
aufdemFeld.InWahrheitabersaßder1502entstandeneAlbertina-
Hase,denesfreilichsogarnichtgab,aufeinemBlattPapieraufei-
nemTischinDürersAtelier.Sok onnteereinenSchattenwerfen,und
sokonntesichdasAtelierfensterinseinemrechtenAugespiegeln.Als
Metzgerdaserklärte,binichsofortranandasBlatt.Aberichkonnte
nichtserkennen.ZurückinderRedaktionvergrößereichdas Bild–
unddaistes:dasAtelierfenster.
Einetolle Geschichte.DasdembloßenAugekaumsichtbareAte-
lierfenster macht denKunsthasen, den es in derWirklichkeit nicht
gibt,zueinemlebendenTier.Dasist KonzeptkunstmitteninderVor-
spiegelungäußerstenRealismus’. Dürers HaseistnichtdasProdukt
genauesterAbmalerei.Er ist das Ergebnis einerKonstruktion.Die
DichtigkeitseinesFells,ind asmanhineingreifenmöchte,istmiter-
staunlichwenigFederstrichenerzeugt.Manentdecktdas,sowieman
näherherantrittandasAquarell.
WennaufeinemGemäldeetwasaussah,alswäreesl ebendig,so
sprach man seit der Antikevom„Hasen desPolygnotos“. Dürers
Aquarell„Feldhase“von1502isteineDemonstration.Erzeigt,waser
kann,underzeigt,dassdieneueKunstesaufnehmenkannmitder
alten,dassdieModernedieAntikeübertrifft.DerFeldhaseistganz
undgarnichtniedlich.Eristein ProduktdesStolzes .Wirstehennicht
mehraufdenSchulternvonRiesen.WirsinddieRiesen,sagtdieser
Feldhase.

AlbrechtDürer,AlbertinaWien,Ausstellungkuratiertvon Christof Metzger undJulia
Zaunbauer.Mehrals zweihundertZeichnungen, Druckgrafikenund Gemälde.Die reichen
BeständederAlbertina wurdenergänzt um Leihgaben u.a. aus den Staatlichen Museen Ber-
lin, di eUffizien in Florenz, dem Städel in FrankfurtamMain,der National GalleryinL ondon,
dem PradoinMadrid ,dem Louvre inParis und der NationalGalleryofAr tinWashington. Die
Dürer-Ausstellungwirdind erAlbertina noch bis zum 6. Januar2020gezeigt. DerKatalog
erscheint im PrestelVerlag,hat 488 Seitenund kostet 49 Euro.

Selbstentblößungist


Wissenschaft


AlbrechtDüreristeinegroßeAusstellung


inderAlbertinagewidmet.


EineGelegenheit,einenvielleichtgarzu


intimenBlickaufihn,seinWerkundseine


Arbeitsweisenzuwerfen.


VonArnoWidmann

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