Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1

Pausbäckiger Pianopop


Als Oasis Anfang derNullerjahreals Band
langsam, aber sicher abschmierten, stellten
sich Keane als Alternativevor.Statt Krawall
und Größenwahn boten dieJungs aus der
englischenProvinzpausbäckigenPianopop,
die Melodien der frühenHits „Somewhere
Only We Know“, „Everybody’sChanging“
oder„Bend AndBreak“ pfiff 2004 jeder mit,
der Radio gehörtoder ein Festival besucht
hatte.Keane waren eineZeit lang omniprä-
sent–wiehäufiggingesdanachflottbergab.
DiefolgendenPlattenfloppten,SängerTom
ChaplinmusstedurcheinenDrogenentzug,
seitdemsinddiePausbackenweg.2012löste
er die Band auf, mit der ehrlichenBegrün-
dung,erfühlesichzualt,umweiterhindiese
Popsongszusingen.DassKeanesiebenJahre
späterwiederdasind,hatsicherauchdamit
zutun,dassdieMietebezahltunddieFami-
lie ernährtwerden muss.Und warum sollte
dasMusikernauchnichterlaubtsein?Zumal
„CauseAndEffect“wederaltersschwachda-
herkommt noch kalkuliertauf kommerziel-
len Erfolg zielt:Keane bieten das,was sie
schon immer geboten haben, also wolken-
verhangenePopsongs,ind enen viel ge-
träumt und gehofft wird–veredelt vonden
Melodien desBandkomponistenTimRice-
OxleysowieTomChaplinshoherStimme.Es
gibt wahrlich
schlechtereAlben,
um sich dem na-
hendenHerbstent-
gegenzustellen.

Keane:
CauseAnd Effect
Island/Universal

Die Privilegien der Männer


DraußenimRustBeltvonPennsylvania,wo
kaumnocheinerArbeithatundalleaufden
Umschwung warten, brodelt es,und das
nichtnurmetaphorisch:UnterdemDorfBu-
chanan brennt seitJahren eineKohlemine.
AlsmanineinemderSchlündeeineübelzu-
gerichteteMädchenleichefindet,mussPoli-
zeichefin Dove Carnahan an die Arbeit.Die
besteht inTawni O’Dells intensivem und
brillantemCountry-No ir„WennEngelbren-
nen“ hauptsächlich daraus,die vielenMit-
gliederderRedneck-FamilieTrulynichtnur
zu befragen, sondernsie auch dauernd in
Schachzuhalten.MitDovehatTawniO’Dell
einePrachtfigur in eineWelt gestellt, wo die
Männer zwar längst denFaden verloren ha-
ben,abermitZähnenundKlauenanihrenlä-
cherlichenPrivilegien festhalten.DieFrauen
halten den Laden am Laufen, und Dove hat
mehr Ahnung,Erfahrung und Überblick, als
ihren KollegenundderFamilieTrulyliebist.
SieversuchenesmitGeschrei,mitPistolen,
Prahlereien und mit Schuldgefühlen,„einer
trüben, verwirrenden, selbstsüchtigenJau-
che,genährtvon Verfehlung und amBlub-
berngehaltenvoneinemGefühlder
Unzulänglichkeit“. Dove
aber weiß Bescheid, wir
folgenihrbisindieübels-
ten Ecken. Undwenn Sie
beim Lesen nichts mehr
sehen –ess ind die Trä-
nen.


TawniO’Dell: Wenn Engel bren-
nen.Kriminalroman. Deutschvon
DaisyDunkel,Ar gument,Hamburg


  1. 352S.,21Euro


88 21./22. SEPTEMBER 201921./22. SEPTEMBER 2019


BRITPOP


Reimenwiefrüher


WährenddergroßeBruderNoelernsthaft
versucht,Dance-Rockcoolklingenzulassen,
verschwendetLiamGallagherwenigerGe-
dankenanWandeloderInnovation.Seine
zweite Soloplatte beginnt mit einemGlam-
rock-Gitarrenriff und einer sehnsüchtigen
Mundharmonika, imText von„Shockwave“
gehtesumdieTypendadraußen,dieihmdie
Freiheitraubenwollen,erbeschimpftsieals
Schlangen undWiesel. Ganz ohne Scham
reimtGallagher„back“auf„black“und„cry“
auf„sky“.Oasis-FanskennendieseFormvon
Poesieundkönnendeshalbschonbeimers-
tenDurchlaufbegeistertmitsingen.Dasge-
lingt ihnen auch beimRefrain von„Once“,
einer Ballade mit lieblicherMelodie.Man
könnte fast ein bisschen Angst bekommen,
LiamGallagherwandeleaufdenSpurenvon
RobbieWilliams–bisderRefrainkommt,in
demereinerExdiebösenZeilenwidmet,ge-
wesenzuseinwieSonnenschein,lieblichwie
ein GläschenWein, aber leider nur für eine
Nacht. DieIdee zum Gospel-Soul-Chor,der
dortund auch anderswoauftaucht,hatte
AndrewWyatt, der seit seiner Arbeit an den
Lady-Gaga-Liedernfür den Film „A Star Is
Born“zuden begehrtesten Songwritern
zählt. WasNoel Gallagher wohl davon hält,
dass sein kleiner Bruder jetzt mitVollprofis
rumhängt?Er wird
es Liam erzählen,
auf dessen anste-
hender dritter
Hochzeit.

Liam Gallagher:
WhyMe?WhyNot.
Warner

VonAndréBoße

DieHandander Wand


RobertMacfarlanesfabelhafteunderschreckendeReiseins„Unterland“unsererWelt


I


msprichwörtlichen Sinn steckt der
Mensch nur zu gernden Kopf in den
Untergrund.Tatsächlich duckt er sich
fastimmerüberderErdoberflächevor
der Wirklichkeit wegoder in Rückzugsräu-
men desHeimeligen–vielleicht konnte der
moderneMensch gar nicht anders,als den
Partykellerzuerfinden,dieDeckenburgder
Erwachsenen.Undspäter dasComputer-
spiel und denStreamingdienst.Denn der
Mensch möchte ja gar nicht nichts sehen –
vielmehr sich ablenken, sichverführen las-
sen.DassdannmanchmaldochSchlimmes
passiert, dass sichAbgründe auftun, steht
aufeinemanderenBlatt.
Aber gleich erzählt dasWort Abgründe
wiedervonunserensymbolischvorwiegend
untenvero rtetenÄngsten:Niestelltsichder
Mensch gleichsam hochfliegendesGrausen
und die Hölle als über ihm liegendvor. Als
könnenurdieTiefeinihrenWinkelnsoeine
Qualbeherbergen.UnserWortschatzspricht
Bände,auch wenn es unsnicht bewusstist.
Katastrophebeginntmit„kata“,wasimGrie-
chischen„hinunter“bedeutet.
Gerecht gegenüber demUnten ist das
nicht,findetderSchotteRobertMacfarlane,
einer der wichtigstenzeitgenössischen na-
turewriter.Mankonnteihmschonüber„Alte
Wege“folgen,überPfadeunddurchFurten.
Doch sein langwierigstes–gut zehn Jahre–
und gefährlichstesProjekt trägt nun, da es
beschrieben ist, denTitel „I mUnterland“
(„Underland“). Es bestand für den Autor
darin,herabzusteigeninRäumenatürlichen
odermenschlichenUrsprungs:InPariserKa-
takomben wie in den slowenischenKarst.
TiefineineGletschermühleundsogarindas
„finnischeGrab“,dasunterirdischeHochsi-
cherheitsgefängnisfürAtommüll.„Soendet
dieWelt“,scherztMacfarlaneüberdasEnd-
lager vonOnkalo,„nicht mit einem Knall,
sondernmiteinemBesucherzentrum.“
Manmussüberhauptnichtklaustropho-
bischveranlagtsein,ummancheseinerprä-

zisen,unerbittlichenSchilderungenfastkör-
perlich unangenehm zu finden.Aber Mac-
farlane schenkt einem dadurch vielerleiEr-
kenntnis.NüchterneFakten–„andiefünfzig
Millionen Kilometer Stollen und Bohrlö-
cher“hatderMenschindieErdegetrieben,
führteran–stellt er neben philosophische
ÜberlegungenzurZeit,zum Todestrieb ,zum
seltsamenZwangdes Menschen,dieBüchse
derPandorazuö ffnen.DieseÜberlegungen
wiederum stehen neben Beschreibungen
seiner eigenenBeklemmung und, manch-
malauchdas,Panik.„ZwingenSiesich,tiefer
zu schauen“, schreibt er im erstenKapitel,
denn: „DasUnterland ist elementar für die
materiellen Strukturen unserer heutigen
Existenz ebenso wie für unsereErinnerun-
gen,MythenundMetaphern.“
RobertMacfarlanekannverdammtdirekt
sein: „Wasvonuns überlebt, sindPlastik,

Die Katakomben inParis: RobertMacfarlane scheut sich nicht, in die Dunkelheit undTiefen unsererWelt vorzudringen. AFP

VonSylvia Staude


RobertMacfarlane: Im Unterland.
Ausd.E ngl. v. Andreas Jandl u. Frank Sievers. Penguin,
München 2019. 560S.,24Euro

Schweineknochen undBlei-207, das stabile
BleiisotopamEndeder Zerfallsreihedesra-
dioaktivenUran-235.“Aberdannfindetsich
aufdiesenSeitenauchwieeinZauberpilzder
riesige Hallimasch, Armillaria solipides,der
in Oregon sechseinhalbQuadratkilometer
einnimmt.Werweiß, welche Sammler sich
schon anAbgesandten dieses gigantischen
Pilzlebewesens erfreut haben. „ImUnter-
land“ kommunizieren auch die Pflanzen
miteinander;wiesehr Macfarlanebeiseinen
Ausführungen auf der Höhe derForschung
ist, zeigt die umfangreiche Literaturliste am
Endedes Bandes.
HinabzusteigenbeschränktdieGedanken
alsokeineswegs.Esk onzentriertsie.Und,an-
dersalsmanmeinenkönnte,alsauch Macfar-
lane am Anfang glaubte,ist es im Unterland
keineswegs einsam. Es sei sein„geselligstes“
Buch. Dasliegt vorallem daran, dass er auf
seinenAbstiegenKletter-undKriechkundige,
Spezialisten undBefugte braucht. An deren
ProfessionalitäthängtseinLeben.
MacfarlanefasstdieDingeweit,schweift
abauf Nebenwege,magesandenrealenOr-
tenauchnochsoengundbeklemmendzu-
gehen.ErschreibtüberdieArchitekturunse-
rerStädte,wieReichtuminihnennachoben
steigtundArmutnachuntensinkt.Ererzählt
vomMenschenalserbauendewieinstinktiv
begrabendeSpezies:umzuschützen,wasihr
wertvollist. SelbsteinganzfrüherVerwand-
ter,Homonaledi,scheint„schonvor300000
JahrenseineTotenunterdieErdegebracht“
zuhaben.SounruhigaberwirdunsereErde
derzeit,durchuns,dassmancheTotevonihr
undihremEiswiederfreigegebenwerden.
Im realen und im übertragenenSinn hat
RobertMacfarlane sich nicht gescheut, in
Lücken und insDunkel vorzustoßen. An
„dünnenOrten“erfährtera ucheineandere
Zeit:WounsereVorfahrenvorJahrtausenden
denUmrissihrerHändehinterließen,schei-
nensieunssonah,alswartetensienurhin-
terder Felsecke.

OL


KRIMI


AufdemRückenderFrauen


DerTitelvonEstelleSurbrancheszweitem
Kriminalroman„NimmmichmitinsPara-
dies“istderblankeHohn–hierkommtnie-
mandauchnurindieNäheeineshimmli-
schenGärtchens,diearmenMädchennicht,
denendiegroßeLiebevorg egaukeltwird;Ba-
bysnicht, dievonder serbischenMafia ver-
kauftwerden;dieknallharteKillerinausBel-
grad natürlich nicht; undNatalie,die hyper-
aktivePolizeichefinvonToulouse,amE nde
auch nicht.Surbranche,die aus derTechno-
Eckekommt,malteindüsteresBildvondieser
Welt,undihrFeminismusstecktvollerSkep-
sis:BisdieseGesellschaftkeinenarzisstischen
MachoswiedengrausamenMehdimehrher-
vorbringt,musssehrvielpassieren.Einesver-
bindet denBosnienkrieg, den Mädchenhan-
delunddieDrogenhöllenvonToulouse–alles
wirdseit ewigen Zeiten auf dem Rücken der
Frauen ausgetragen. Manverspricht ihnen
das Blaue vomHimmel und macht sie dann
zu Nutten, richtet sie zuKillerinnen ab oder
lässtsietodunglücklichzurück.Undalletau-
meln dann amRande der Hölle dahin.Man
fragtsichmanchmal,wieSurbranchedievie-
len Erzählfäden zwischen Frank-
reich,SchwedenundSerbien
in diesem bitterbösen
Noir zusammenbringen
will,abersieisteinegroße
Könnerin.


Estelle Surbranche:
Nimm michmit in sParadies
Kriminalroman.Ausdem Französi-
schenvon CorneliaWend. Polar-
Verlag Stuttgart2019. 326 S.,
20 Euro

VonGüntherGrosser
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