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s gibt wenige Sätze, bei denen so
schnell klar wird, dass es brenzlig
werden könnte. »Boris Palmer
schreibt einen Kommentar auf
Face book« ist einer dieser Sätze. Und so
beginnt auch dieser Text damit, dass Boris
Palmer einen Kommentar auf Facebook
schreibt. Es sind nur wenige Tage bis zum
Treffen mit ihm, als er Ende August einen
Artikel auf SPIEGEL ONLINEaufgreift.
Dort hatte eine junge Autorin, selbst Mus-
limin, ihre jüngere Schwester verteidigt,
die das Kopftuch tragen möchte.
Palmer sieht die Sache anders. An die
Verfasserin gewandt, schreibt er einen län-
geren Text, fragt: »Warum sagen Sie ihr
nicht, dass in diesem Land keine Frau als
Hure oder unrein gilt, wenn sie auf musli-
mische Kleidervorschriften verzichtet?«
Wenn es darum ginge, den Satz »Boris
Palmer schreibt einen Kommentar auf Fa-
cebook« noch weiter zuzuspitzen, hier wä-
ren alle nötigen Bestandteile enthalten:
der Islam, Frauenrechte, die Rolle von
Minderheiten in der Bundesrepublik. Es
gibt kaum einen Themenkomplex, bei
dem die Debatte so schnell überkocht. Bei
dem es passieren kann, dass das Wort
»Rassismus« im Raum steht, sogar ein Par-
teiausschlussverfahren bei den Grünen.
Genau das ist Boris Palmer passiert, als
er auf Facebook eine Werbung der Bahn
kritisiert hatte. Was folgte, war eine ziem-
lich beispiellose Eskalation.
Das war im April. Boris Palmer legte
eine Facebook-Pause ein.
Jetzt ist er wieder da. Und postet zum
Kopftuch. Und veröffentlicht ein Buch:
»Erst die Fakten, dann die Moral«*.
Auf Facebook hat Palmer mehr als
48 000 Follower, das sind mehr als die
Abonnenten der Lokalzeitung in Tübin-
gen, wo er Oberbürgermeister ist. Anders
als bei vielen anderen Politikern betreut
keine Agentur und kein Mitarbeiter seinen
Account, nicht einmal gegenlesen lässt er
seine Beiträge. Palmer ist ein öffentlicher
Intellektueller nach den Gesetzen des
Social-Media-Zeitalters. In einer Zeit, in
der vom Niedergang der Volksparteien die
Rede ist, zeigt er zudem, dass ein Politiker
eigentlich gar keine Partei mehr braucht,
* Boris Palmer: »Erst die Fakten, dann die Moral«. Sied-
ler; 240 Seiten; 20 Euro. Erscheint am 23. September.
um wahrgenommen zu werden. Palmer ist
seine eigene, eine Ein-Mann-Partei.
Ein Spätsommertag Anfang September.
Die Fachwerkhäuschen, die verwinkelten
Gassen Tübingens, das Rathaus aus dem
Jahr 1435, in dem Boris Palmer seit gut zwölf
Jahren amtiert. Schwungvoll geht er übers
Kopfsteinpflaster vom Marktplatz hoch
Richtung Schlossberg. Ein kleines Restau-
rant. Gut gelaunt fragt er sich, ob die Kellner
wohl noch wüssten, was er hier fast immer
bestellt: Zwiebelrostbraten und Spätzle.
Das Leben könnte so entspannt sein.
Aber Boris Palmer hat einen Kommentar
auf Facebook geschrieben.
Warum macht er das?
Die Kellnerin serviert eine Apfelschorle,
und Boris Palmer fängt an, sich zu erklä-
ren. Schnell kommt das Gespräch vom
Kopftuch im Speziellen auf Identitätspoli-
tik im Allgemeinen.
In seinem neuen Buch schreibt er: »Es
fällt auf, dass die meisten Shitstorms und
Empörungswellen ihren Ausgangspunkt
in einem gesellschaftlichen Konflikt über
Identität haben. Wenn es um Gender, Race
oder Religion geht, also die Frage nach der
sexuellen Identität, der ethnischen oder
der religiösen Zugehörigkeit, dann genü-
gen schon kleinste Anlässe dafür, regel-
rechte Schlachten um die Deutungshoheit
zu beginnen und mit den härtest denkba-
ren Vorwürfen die Delegitimierung ande-
rer Auffassungen zu betreiben.«
Die Vertreter der Identitätspolitik seien
dabei, im akademischen Milieu und in den
Medien die Meinungsführerschaft zu ka-
pern – in seiner Partei hätten sie die be-
reits: »Die Grünen sind noch vor der Lin-
ken diejenige Partei, in der die Identitäts-
linken die größte Mehrheit haben.«
Palmer bezieht sich auf die Soziologin
Sandra Kostner, wenn er in seinem Buch
den Begriff »Läuterungsagenda« verwen-
det: »Der Konflikt um Identität wird durch
das Interesse der Tätergruppen, sich rein-
zuwaschen, genauso befeuert wie durch
das Interesse der Opfergruppen, daraus
Vorteile zu ziehen.«
Der Abbau von Diskriminierung, meint
er, sei eine extrem wichtige Aufgabe. Dann
kommt das Aber. Und es ist dieses Aber,
das Boris Palmer in seiner Partei und in
Teilen der Öffentlichkeit zum Außenseiter
hat werden lassen.
Das Aber geht so: Mittlerweile habe sich
bei Minderheitenthemen durchgesetzt,
dass man Widerspruch gegenüber Minder-
heitengruppen eigentlich gar nicht mehr
artikulieren solle. Die Angehörigen von
Minderheiten sollten nicht weiter gekränkt
werden, weil sie es eh schon schwer genug
haben. »Menschlich ein sehr sympathi-
scher Zug, aber für den Diskurs tödlich.«
Palmers Satz fällt in eine Zeit, in der
laut einer Allensbach-Umfrage 71 Prozent
der bundesdeutschen Bevölkerung glau-
ben, dass man sich zur Flüchtlingsthematik
öffentlich nur mit Vorsicht äußern könne.
Eine Zeit, in der Palmer Mails von Wis-
senschaftlern bekommt, die das repressive
Meinungsklima an Universitäten beklagen.
Die Freiheit des Diskurses ist es, um die
es Palmer eigentlich geht. Hinter den Dis-
kussionen um Identitätspolitik, so sieht er
es, stecke »etwas viel Größeres: eine Ideo-
logie, deren Gehalt ich für radikal falsch
und gefährlich halte«. Eine Ideologie, die
keine Fragen zulasse: »Weil es plötzlich nur
noch eine zulässige Meinung geben soll.«
Boris Palmer hat eine andere. Er sieht
»einen echten Widerspruch: das Illiberale
bei den Liberalen«. Illiberal, das ist ein Be-
griff, den viele Grüne und ihre Anhänger
bislang für all jene reserviert hatten, die
auf der anderen Seite stehen: für Leute wie
Orbán, wie Trump. Für die Bösen. Die Grü-
nen sind die Guten. Die Partei der Moral.
Dass Boris Palmer sein neues Buch
»Erst die Fakten, dann die Moral« nennt,
wirkt wie eine eindeutige Geste, fast schon
wie eine Kampfansage an die Moralisten
in seiner Partei.
Beim Essen zählt er die Vorwürfe gegen
sich auf: »›Quartalsirrer‹ oder ›Rassist‹
oder ›Nazi‹ oder was immer sich die Leute
an schönen abwertenden Begriffen aus -
denken. Du bist dann in einer Schublade,
aus der du nicht mehr rauskommst. Das
ist der Preis.«
Es wäre unfair zu behaupten, dass Boris
Palmer bei Facebook ausschließlich »De-
DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 121
Kultur
Zwischen den Gräben
ZeitgeistIm Internet exponiert sich der Grüne Boris Palmer wie wenige andere Politiker – und
erreicht ein Publikum, das seine Partei nie wählen würde. Nun veröffentlicht er ein neues
Buch, kritisiert linke Moralisten und die Illiberalen im eigenen Milieu. Von Sebastian Hammelehle
»Identitätspolitik ist eine
Ideologie. Plötzlich soll
es nur noch eine zulässige
Meinung geben.«