batten anzündet«, wie er das nennt. Ein
Gutteil seiner Beiträge ist seriös, unauffäl-
lig oder gänzlich banal. Aber wenn er auf-
fällt, dann richtig. Das liegt nicht nur an
ihm, sondern auch an der Eskalationslogik
der sozialen Netzwerke. Unter Palmers
Lesern sind Provokateure, mit falschen
Namen angemeldet. Sie warten, bis er ei-
nen Fehler macht, darauf, ihn, wie er sagt,
»aufs Glatteis zu führen«.
Mehrere Grünenpolitiker und ein Intel-
lektueller wurden für diesen Text um ihr
Urteil zu Palmer gebeten. Niemand wollte
sich öffentlich äußern. Im vertraulichen
Gespräch war dann von Ressentiments die
Rede, davon, dass Palmer narzisstisch sei,
autoritär, ein Provinzler. Aber auch davon,
dass er sich selbst im Weg stehe. Dass er
grundverschiedene Seiten habe. Sehr in-
telligent, sagen die einen. Engstirnig, die
anderen.
Boris Palmer ist 47, das ist kein Alter,
um eine politische Laufbahn im schwäbi-
schen Hinterland ausklingen zu lassen.
Seine Karriere ist längst überregional,
bloß findet sie im virtuellen, im medialen
Raum statt, nicht in seiner Partei. Denn
das Verhältnis zu dieser Partei ist schlecht.
Er schaue auf zerstörte Beziehungen zu-
rück, auf Beziehungsabbruch oder Geg-
nerschaft, auf Gespräche oder SMS-Nach-
richten, bei denen er denke, »das kann al-
les gar nicht wahr sein«: »Das war’s jetzt
mit uns«; »Du bist wirklich ein Rassist,
und ich will nichts mehr mit Dir zu tun
haben«.
Palmers Buch läuft auf den Satz zu, es
gebe für ihn als überzeugten Ökologen
keinen Platz in einer anderen Partei als
den Grünen. Es klingt eher trotzig als
versöhnlich.
Dabei könnte es Boris Palmers Triumph
sein, dass das Jahr 2019 von einem Thema
beherrscht wird, um das er sich früher ge-
kümmert hat als andere Politiker: den Kli-
mawandel. In Tübingen wurden die CO
²
- Emissionen während seiner Amtszeit um
30 Prozent gesenkt. Im Gemeinderat hat
er gerade für ein großes, symbolpolitisches
Projekt geworben. Ab dem 20. September,
dem weltweiten Klimastreiktag, wird eine
zentrale Verkehrsachse der Stadt acht Wo-
chen lang für den Autoverkehr gesperrt.
»Mir brennt der Kittel«, sagt Palmer auf
Schwäbisch. Man könnte das für eine Va-
riante von Greta Thunbergs Klimaschutz -
slogan »Our house is on fire« halten.
Aber Palmer weiß nicht so recht, was
er von »Fridays for Future« halten soll: Er
bewundert die Wirkung, doch er bezwei-
felt die Mittel, die Figur der Greta als Heils-
bringerin, die Panik, die Flugschamdebat-
te, den Fleischverzicht. »Das so moralisch
aufzuladen, den Individuen die Weltret-
tung aufzubürden kann meiner Meinung
nach nur schiefgehen.«
Später am Tag hat Boris Palmer noch
einen Termin in Weilheim, einem kleinen
Ortsteil von Tübingen. Die Stadt besteht
auch aus etlichen eingemeindeten Dör-
fern. Es riecht nach Tieren hier. Ställe,
Silos und Weiden. Und eine Mehrzweck-
halle, wie es sich für einen Vorort gehört.
Hier wird der Ortsvorsteher verabschie-
det. 300 Kilometer weiter nördlich wird
an genau diesem Abend in der Wetterau
ein NPD-Mann zum Ortsvorsteher ge-
wählt. Der Begriff kommt bundesweit in
die Schlagzeilen. Der Weilheimer Orts-
vorsteher aber ist in der SPD. Die Rechte
hat in Tübingen unterdurchschnittliche
Wahlergebnisse.
Boris Palmer hält eine kleine Rede, in
der er in einer Anekdote die schwäbischen
Tugenden Sparsamkeit und Bescheiden-
heit mit seinem eigenen Thema, dem Um-
weltschutz, verbindet: Der Weilheimer
Ortsvorsteher ging im Winter im Pullover
ins Büro und habe deshalb die klimaschäd-
liche Ölheizung kaum benutzt. Später gibt
es Butterbrezeln und Tannenzäpfle-Bier.
Eine Blaskapelle spielt »One Moment in
Time« von Whitney Houston, es klingt
ziemlich schleppend. Das Lied war die
Hymne der Olympischen Sommerspiele
- Eigentlich hätte der ganze Abend
so auch in den Achtzigerjahren stattfinden
können.
Es ist in der öffentlichen Debatte viel
vom ländlichen Raum die Rede, von den
Abgehängten, die dort hausen. Die west -
lichen Gesellschaften sind gespalten, in
urbane und ländliche Regionen, in liberale
und in traditionalistische Milieus, in die
eher Linken und die eher Rechten. In den
USA hat Trump davon profitiert, in Frank-
reich die Gelbwesten, in Großbritannien
die Brexiteers. In Deutschland sieht es
manchmal so aus, als wäre die Kluft zwi-
schen der AfD und den anderen Parteien
auch ein Graben der Sprachlosigkeit zwi-
schen Stadt und Land.
Boris Palmer ist in beiden Welten zu
Hause. Ein einsamer, manchmal irrlich-
ternder Wanderer zwischen den politi-
schen Schützengräben. Einer der wenigen
deutschen Politiker, der mal die einen und
mal die anderen erreicht und manchmal
sogar beide.
Am nächsten Morgen um halb sechs
bricht er zum Stuttgarter Flughafen auf.
Er hat einen Auftritt im Hamburger Mi-
chel, beim Wirtschaftsforum der »Zeit«.
Sein Thema: »Wie können wir eine ideo-
logische Spaltung der Republik überwin-
den?« Das Taxi saust durch die Dunkel-
heit. Die Sprache kommt auf die Erfolge
der AfD. Ob der Brandenburger AfD-Chef
Andreas Kalbitz wirklich ein Nazi sei, kön-
ne er nicht wissen, sagt Palmer: »Das aber
ist auch gar nicht die Frage. Die Frage ist:
Was ist die Wirkung? Es geht um die Leute,
die man erreichen will.«
Er habe sich die Fernsehauftritte der
AfD-Politiker genau angeschaut. Die klas-
122 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019
Kultur
»Dass wir Nazis bekämp-
fen, wird nicht einen
AfD-Wähler abhalten, für
diese Partei zu stimmen.«
RAINER KRUSE / PICTURE ALLIANCE / DPA
Vater Helmut Palmer (l.) 1971: »Für seine Überzeugungen im Gefängnis«