Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
fast alles anders zu machen, als es in den
Konkurrenztheatern in Deutschland, Öster-
reich und in der Schweiz üblich ist. »Ich ken-
ne kein Stadttheater, in dem die Leute, die
dort arbeiten, glücklich sind«, sagt Stemann.
»Wir möchten eines sein.«
Richtig ist, dass in den vergangenen Jah-
ren durch Protestaktionen und manche
Eklats deutlich wurde, wie viel schiefläuft
in den deutschsprachigen Theaterhäusern.
Auf den Intendantenposten und in den Re-
giejobs sind die Männer immer noch in der
Überzahl, kurzfristige Verträge für Schau-
spieler und anderes künstlerisches Personal
begünstigen ausbeuterische Arbeitsbedin-
gungen, manche Bühnenchefs wurden des
Machtmissbrauchs beschuldigt. Künstlerver-
tretungen wie das Ensemble-Netzwerk for-
derten von Politikern und Theaterleitern die
Vereinbarung neuer Regeln, die vor »Feig-
heit und unnützem Verschleiß« schützen sol-
len. Beklagt wurden die bisweilen autoritä-
ren, aus feudalen Zeiten stammenden Zu-
stände an einigen Bühnen.
Stemann und Blomberg setzen nun auf
eine emotionale Umarmung, nicht bloß
ihrer künftigen Kundschaft, sondern auch
ihrer Belegschaft – und ändern die Arbeits-
regeln. Sie haben den 35 Frauen und Män-
nern ihres Ensembles versprochen, dass sie
maximal drei neue Arbeiten pro Spielzeit
einstudieren müssen. An anderen Theatern
kommt es vor, dass zumal jüngere Darstel-
ler verpflichtet sind, in deutlich mehr Neu-
inszenierungen pro Saison aufzutreten.
Ihre acht Hausregisseurinnen und Haus-
regisseure haben die neuen Chefs fest an
den Ort gebunden. Zumindest drei Jahre
lang werden sie in Zürich nicht nur arbeiten,

sischen Themen der Rechten, Europa und
die Flüchtlingskrise, würden keine Rolle
mehr spielen. Die AfD beschränke sich da-
rauf zu betonen, ausgegrenzt und unfair
behandelt zu werden. Und habe damit
größten Erfolg. »Für uns ist die Haltung
sehr wichtig. Dass wir Nazis bekämpfen.
Wir sind die Guten. Aber es wird nicht
einen AfD-Wähler abhalten, für diese
Partei zu stimmen.« Bei einer Ursache-
Wirkung-Analyse müsse man feststellen,
dass die derzeitige Strategie gegen die AfD
nicht zielführend sei.
Am Flughafen angekommen, steht Pal-
mer in der Warteschlange vor der Sicher-
heitskontrolle. Eine Frau tritt auf ihn zu.
Ob sie ein Selfie mit ihm machen könne?
Palmer grinst in die Kamera. »Ich finde
ihn toll«, meint die Frau. Später sagt Pal-
mer: »Das war jetzt mal die Ausnahme.«
Warum? »Weil jung und Frau.«
In einem langen, differenzierten Posting
ist Palmer nach dem Shitstorm um seinen
Facebook-Kommentar zur Bahn-Werbung
auch auf den Begriff »alter weißer Mann«
eingegangen. Für seine Kritik an der linken
Identitätspolitik ist der genauso zentral
wie für seine Analyse der Erfolge der Rech-
ten. Weil er dafür stehe, dass ein Feindbild
durch ein anderes ersetzt werde und neue
Benachteiligungen entstünden.
Das Flugzeug hebt ab und fliegt in einer
Kurve nach Norden. Palmer zeigt aus dem
Fenster. Unten liegt das Remstal, wo er
aufgewachsen ist. Wälder, grüne Höhen-
züge, dazwischen, ganz klein, die örtliche
Waldorfschule. Palmer hat hier das Abitur
gemacht, mit 1,0, er galt als hochbegabt,
als Außenseiter.
Seine Mutter lebt noch im Remstal. Zu
seinem Vater hatte Boris Palmer ein
schwieriges Verhältnis. Im Württembergi-
schen war Helmut Palmer lange Zeit eine
regionale Berühmtheit. Eine Ein-Mann-
Partei. Über Jahrzehnte ist er bei Bürger-
meisterwahlen angetreten. Immer ver -
gebens. Jahrgang 1930, er war der unehe-
liche Sohn eines jüdischen Handwerkers.
Als Kind musste sich Boris Palmer an -
hören, man habe vergessen, seinen Vater
zu vergasen.
Palmers Vater hat, das ist vielleicht die
Pointe dieser Geschichte, wie wenige an-
dere im politischen Betrieb mit Naziver-
gleichen um sich geworfen und nach ver-
lorenen Beleidigungsverfahren mehr als
400 Tage in Haft verbracht. Heute treffen
die Nazivergleiche den Sohn.
Manchmal, wenn Boris Palmer einen
Kommentar auf Facebook schreibt, denkt
er daran: »Mein Vater ist für seine Über-
zeugungen im Gefängnis gewesen. Alles,
was mir passiert, ist, dass die Leute einen
Shitstorm gegen mich entfachen.«
Auch eine Antwort auf die Frage, warum
er das macht.


124


Kultur

GINA FOLLY
Szene aus »Der erste fiese Typ«
Zur Eröffnung lauter Hits von anderswo

Kuschelkommune


BühneDie Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas
Stemann wollen in Zürich das Stadttheater
neu erfinden – als Wohlfühlzone. Kann das funktionieren?

D


er eine hatte in jungen Jahren den
Plan, Popstar zu werden, spielte in
mehreren Bands und verdiente wäh-
rend seiner Studienzeit nebenher Geld als
Hotel- und Barpianist.
Der andere hat zu Beginn seines Berufs-
lebens eine freie Truppe aus Musikern und
Sängern mitbegründet, bei deren Opern-
produktionen zunächst ruinöse Desaster
erlebt und, wie er sagt, »gelernt, dass man
gerade nach einem Scheitern weiterkämp-
fen und dranbleiben muss«.
Zusammen stehen Nicolas Stemann und
Benjamin von Blomberg nun im Foyer des
Zürcher Schauspielhauses vor einem wa-
ckelnden Mikrofonständer und begrüßen
die Menschen, die in den nächsten fünf Jah-
ren in ihr Theater kommen sollen, dessen
Betrieb pro Jahr 48 Millionen Schweizer
Franken kostet. Von der Betondecke blin-
ken schmale Leuchtröhren in Rot, Blau und
Grün. »Wir wollen einen Ort schaffen, an
dem sich die unterschiedlichsten Menschen
aufgehoben fühlen«, sagt Blomberg und
verwuschelt seine Haare. Stemann, kahles
Haupt und kleiner und muskulöser als sein
Nebenmann, trägt ein rot-schwarz gestreif-
tes Jackett von der Sorte, wie Popmusiker
es in den Siebzigerjahren mochten – und
greift nun tatsächlich zur Gitarre. »Ich habe
eine Lied für unsere Sponsoren vorberei-
tet«, verkündet er und singt die Namen von
Stiftungen und Unternehmen.
Es wirkt ein wenig, als hätte eine Hippie-
kommune ein Theater übernommen, was
da im traditionsreichen Zürcher Schauspiel-
haus zu bestaunen ist. Von »offenen Armen«
und »hierarchiefreien Räumen«, einem »Kli-
ma der Entschleunigung«, von »Formen der
kollektiven Führung, die auch außerhalb des
künstlerischen Betriebs Vorbild sein könn-
ten«, ist die Rede. Mit einem fünftägigen
»Eröffnungsfestival« präsentieren Stemann
und Blomberg das, was sie »ein Stadttheater
auf der Höhe der Zeit« nennen. Beide leiten
zum ersten Mal ein öffentlich subventionier-
tes Haus. Stemann kommt aus Hamburg, ist
50 Jahre alt und einer der wichtigen Re -
gisseure des deutschsprachigen Theaters,
preisgekrönt und gelobt unter anderem für
diverse Uraufführungen von Stücken der
Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Blom-
berg ist in Brüssel und Bonn aufgewachsen,
41 und hat unter anderem an den Münchner
Kammerspielen als Chefdramaturg gearbei-
tet. Gemeinsam treten die beiden in Zürich
mit dem Versprechen an, nicht alles, aber
Free download pdf