sondern auch wohnen. Das soll der Team-
bildung dienen – und ist in einem Geschäft,
in dem praktisch alle auf dem Markt erfolg-
reichen Theatermacher gewöhnlich zwi-
schen Städten wie Wien, Berlin, München
oder Paris pendeln, um in wenigen Wochen
neue Arbeiten einzustudieren, höchst un -
gewöhnlich. Die aus Lettland stammende
Regisseurin Yana Ross sagt: »Ich war mein
ganzes Regisseurinnenleben eine einsame
Wölfin, die von Stadt zu Stadt gereist ist. Ich
fühle mich zum ersten Mal unterstützt von
den Kollegen.« Die in Heilbronn aufgewach-
sene Regisseurin Leonie Böhm formuliert
es so: »Es geht um ein anderes Miteinander.
Im Theater, aber auch in der Stadt. Daraus
entsteht vielleicht eine andere Kunst.«
Natürlich gibt es Zweifel, ob die kollek-
tive Entscheidungsarbeit, die Stemann und
Blomberg vorschwebt, in der Praxis nicht
vor allem für Konfusion und Streit sorgen
wird. Radikale Mitbestimmungsmodelle im
Schauspiel Frankfurt und an der Berliner
Schaubühne sind in den Siebzigerjahren
krachend gescheitert.
Unklar ist auch, ob das mit Tanz und Per-
formance angereicherte Programm, das Ste-
mann und Blomberg präsentieren, über-
haupt funktionieren kann. Zürich ist eine
berüchtigt konservative Theaterstadt. Als
zu Beginn der Nullerjahre der europaweit
geschätzte Schweizer Theatermacher Chris-
toph Marthaler das Theater übernahm, wur-
de er von einem zögerlichen Publikum und
den Zürcher Kulturverantwortlichen schnell
wieder vergrault. Die künftigen Theaterlei-
ter werden von den konservativen Medien
der Stadt denn auch argwöhnisch begrüßt:
Die »Neue Zürcher Zeitung« druckte unmit-
telbar vor dem Schauspielhaus-Start die
Polemik eines Autors mit dem Titel »Warum
ich nicht mehr ins Theater gehe«, in dem ge-
gen eine »Blase« vorgeblich fortschrittlicher
Künstler und deren »müden Selbstbestäti-
gungsmechanismus für das eigene Weltbild«
agitiert wurde. Die »Weltwoche« warnte vor
einer »radikalen Wende« im Schauspielhaus
und befand: »Ein Einbruch der Zuschauer-
zahlen scheint unvermeidlich.«
Immerhin sind Stemann und Blomberg
clever genug, ihren Start ausschließlich mit
Hits zu bestreiten. Statt zum Auftakt fri-
sche, am neuen Standort einstudierte In-
szenierungen zu präsentieren, darf jeder
der acht Regisseure eine ältere Lieblings-
produktion von anderswo fürs Repertoire
in Zürich aufmöbeln.
»Ein Signal der Nachhaltigkeit anstelle
der großspurigen kuratorischen Geste, un-
bedingt etwas Neues zeigen zu wollen«,
nennt Blomberg das. Machen es sich die
Chefs damit zu bequem? Tatsächlich sind
die Startaufführungen für die allermeisten
Zürcher Zuschauer neu – selbst der sieben-
stündige »Faust«, den Stemann 2011 in
Salzburg inszeniert hat und der seither mit
vielen Preisen bedacht wurde. Die ameri-
kanische Transgender-Performerin Wu
Tsang, die im internationalen Kunstbetrieb
ein echter Star ist, präsentiert ihr im April
im New Yorker Whitney Museum urauf-
* Yana Ross, Wu Tsang, Trajal Harrel, Suna Gürler,
Alexander Giesche, Leonie Böhm, Christopher Rüping.
geführtes Spektakel »Sudden Rise«, ein wil-
des Traumspiel aus Nebel, Filmszenen und
schamanischer Menschenprozession. Und
der aus Hannover stammende Theaterma-
cher Christopher Rüping, gerade von einer
Jury aus Kritikern zum »Regisseur des Jah-
res« gewählt, zeigt seine 2017 in München
entstandene Arbeit »Der erste fiese Typ«
nach einem Roman von Miranda July.
Vor der zweiten Spielstätte des Schau-
spielhauses, dem »Schiffbau«, einer ehe-
maligen Werfthalle, hat das Leitungsteam
für eine Kunstaktion einen riesigen Kom-
posthaufen aufschütten lassen. »Er steht
symbolisch dafür, dass hier Neues gedei-
hen soll«, sagt Blomberg. Aber kann in
der Wohlfühlzone, in die sich das Theater
nach den Wünschen des Teams verwan-
deln soll, noch brisante, womöglich ver-
störende Bühnenkunst entstehen?
Ende Oktober soll die erste echte Neu-
produktion am Schauspielhaus herauskom-
men. Eine Bühnenversion von John Stein-
becks Roman »Früchte des Zorns«, insze-
niert von Christopher Rüping. Es sei ein
Stoff, der »von Wirtschaftsflüchtlingen und
einer existenziellen Not handelt, die viele
Menschen in der reichen Stadt Zürich nicht
kennen, die Künstler hier im Theater aber
auch nicht«, sagt der Regisseur. Was man
in Zürich im Theater anstrebt, sollte für die
Welt als Ganzes gelten. »Wir sind aufge-
fordert, ein strukturell verstaubtes System
so fortzuentwickeln, dass nicht mehr wir
den Strukturen folgen, sondern die Struk-
turen uns.« Wolfgang Höbel
DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 125
GINA FOLLY
Leiter Blomberg (l.), Stemann (4. v. l.) mit Hausregieteam*:Symbolischer Komposthaufen