Bald hatte sie einen kleinen Kreis treuer Anhänger um sich versammelt, die
immer wieder kamen. Das ersparte ihr die Mühe, neue Klienten zu suchen.
Manchmal, wenn sie mit dem hellhäutigeren Ietmgeta an der Hand
vorbeispazierte, sangen die Männer hinter ihr her:
Schöne dunkle Frau
du hast die deinen entehrt
gehst du an mir vorbei
dann mit gesenktem Kopf.
Doch das waren mehr Neckereien als Verurteilungen. So viele ehemalige
»Madame« gab es in Addis Abeba, die in derselben Lage waren wie sie. Und
sie war eine reife Frau, zweimal verheiratet, davon einmal mit einem talian –
wer von ihnen wollte da ihre Freiheit in Frage stellen? Schließlich war es für
alle hart, den Kindern das tägliche injera zu beschaffen, niemand hatte Zeit,
über andere zu urteilen.
Gewiss, in den ersten Jahren wurde Ietmgeta manchmal »Sohn der zwei
Fahnen« gerufen, oder auch solato in Anlehnung an die italienischen
Soldaten, die kommen und ein Heer an Kindern zurücklassen. Oder, noch
einfacher, dikala – Bastard. Abeba war das gleich. Ihr war wichtiger, dass er
nicht »Muttersohn« genannt wurde, wie die Kinder ohne väterliche Führung,
die am Ende wie Frauen im Sitzen pinkelten. Abeba wusste genau, welche
Erziehung sie ihrem Sohn zukommen lassen wollte: Ietmgeta war ein Junge,
also gehörte er zu seinem Vater. Da zählte es wenig oder nichts, dass er ihn
niemals kennenlernen würde.
Als Ietmgeta groß genug war, schickte sie ihn auf die Schule der
Trostreichen Mutter, auf die viele dikala gingen. Die Schwestern fragten sie,
ob ihr Sohn das amharische Alphabet lernen solle oder das lateinische, und
Abeba sagte ohne zu zögern: »Das italienische.«
Ietmgeta war zehn, als eine Mitschwester starb, die zu alt war, um nach
Italien zurückzukehren. Die Nonnen nahmen die Schüler mit auf den
italienischen Friedhof, um ihr das letzte Geleit zu geben.
Der Friedhof lag auf einem Hügel außerhalb der Stadt, inmitten eines
Waldes voller Hyänen, Warzenschweine und kleiner Antilopen. Die
Grabsteine waren gelb vor Staub und unter Unkraut erstickt, die Gesichter