Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Vor Schmerzen in der Gallenblase konnte er nicht weiterschreiben. Er
legte das halb beschriebene Blatt auf den Tisch und streckte sich auf der
Eisenpritsche aus. Ohne sich auszuziehen oder die Schuhe abzustreifen. Und
sei er noch so krank, am Tage legt ein Soldat kein Nachtzeug an.
Am nächsten Morgen brachte sein Bursche ihm die Post. Darunter wie
fast jeden Tag einen Brief von Ines. Sie war besorgt. Gewisse Freundinnen
mit Kontakten zur Diplomatie hatten sie informiert, der äthiopische
Botschafter in London bemühe sich um seine Auslieferung.
»Embailé, kehrst du mit mir in dein Land zurück? Haile Selassie verlangt
von den Engländern, mir in Addis Abeba den Prozess machen zu dürfen.«
»Nein, Signore.«
Graziani sah auf.
»Warum nicht? Magst du mich nicht mehr?«
»Das wird nicht passieren, Signore.«
»Woher weißt du das?«
»Neger, die einen Weißen verurteilen ...« Der Offiziersbursche schüttelte
den Kopf, im Blick ein ironisches Blinken. »Das mögen Engländer nicht. Sie
lassen nicht zu, dass das passiert.«
Graziani forschte in den Augen seines Dieners. Dieser junge Mann,
aufrecht und dunkel wie ein Zuckerrohr, hielt ihm, seit er wenig älter als ein
Kind war, die Uniform in Ordnung, säuberte seine Stiefel vom Schlamm, ölte
seine Pistole. Embailé war es gewesen, der ihm jahrelang das Feldbett im Zelt
aufgeschlagen hatte. Den Alfa Romeo 6c 2500 in Richtung Schweiz auf der
Flucht vor Partisanen hatte er gelenkt. Des Marschalls Gesicht verdüsterte
sich, während er ihn ansah, als habe die Wüstensonne ihn mitten ins Gesicht
getroffen.
›Auch er wird mich eines Tages verraten, wie alle anderen.‹


Es gab nicht viel zu tun im Kolonialministerium eines Landes, das gerade all
seine Kolonien verloren hatte. Attilio kam ins Büro, stempelte seine Karte
und verließ es wieder. Er setzte sich auf eine Holzbank jener
Straßenbahnlinie, die immer im Kreis fuhr und dabei das Kolosseum, die
Basilika San Giovanni und die Trümmer von San Lorenzo passierte, aus
denen der Wind noch Staub aufwirbelte, durch die Reichenviertel, über denen
niemand gewagt hatte, Bomben abzuwerfen – Salario, Parioli –, bis zum
Viale delle Milizie. Hier stieg er aus, ging an dem ölgötzenhaften

Free download pdf