Infanteristen in seinem steinernen Schilderhäuschen vorbei und durchschritt
das hohe Portal des Militärgerichts. Dort verbrachte er die Vormittage,
mischte sich unter das Publikum in der großen Anhörungshalle und wandte
keinen Moment die Augen von dem Mann auf der Anklagebank ab.
Mit seinen fast siebzig Jahren hatte Rodolfo Graziani immer noch die
Haltung, das Profil und die eleganten langen Hände des römischen Soldaten,
wie ihn der Duce einst definiert hatte. Doch trotz der vielen Kragenspiegel an
seiner Uniform schien sein Charisma mehr auf einer wehleidigen Hysterie zu
fußen. Den Darlegungen der Zeugen lauschte er angespannt wie ein
Pflanzenfresser, der das Raubtier wittert. Während der Einlassungen des
Staatsanwalts schlug er empört mit der Faust auf den Tisch. Als ein Zeuge
seine Worte während einer Zwangsmaßnahme zitierte (»Erschießt sie alle,
auch Frauen und Kinder«), packte Graziani seinen Anwalt an der Schulter
und zischte ihm zu: »Angreifen, greif ihn an!« Am unerträglichsten schien
ihm die wiederholte Beschuldigung zu sein, er habe Angst gehabt: als er das
Krankenhaus in Addis Abeba, in dem er nach dem Attentat lag, mit
Maschinengewehren hatte umstellen lassen; als die Truppen in der Sahara
von den Angloamerikanern überwältigt wurden und er sich nach Kyrene
geflüchtet hatte; als er vor Erleichterung, nicht in die Hände der Partisanen
gefallen zu sein, in den Armen des amerikanischen Offiziers, der ihm
Handschellen anlegte, das Bewusstsein verlor. »Ich habe vor nichts Angst!«,
brüllte Graziani irgendwann mit hochrotem Kopf die Richter auf ihrer
Richterbank an. »Vor nichts und niemandem!« Komplett verlor er aber erst
die Nerven, als der Staatsanwalt ihn fragte, ob er bestätigen könne, den
Oberbefehl über die Republik von Salò nur übernommen zu haben, um sich
seinem Dauerfeind, General Pietro Badoglio, zu widersetzen. Da fing er so an
zu schreien, dass der Anwalt Mühe hatte, ihn zu beruhigen. Seine Ausbrüche
wurden allerdings nicht streng behandelt. Der Prozess zeichnete sich durch
ein ruhiges, dem Angeklagten gegenüber nachsichtiges Klima aus. Rom war
nicht Nürnberg, wo wenige Jahre zuvor die Anhörungen getränkt waren von
Blut und blinder Wut. Das Italien des Jahres 1950 wollte von Wut nichts
mehr wissen, und von Blut schon gar nicht.
Beinahe jeden Tag mischte Attilio sich unter die eng gedrängten
neugierigen Zuschauer von Grazianis Prozess. Wie viele andere war auch er
schon als Kind der Faszination dieser fast mythischen Figur erlegen: der
jüngste Oberst des Großen Krieges, Befrieder der Kyrenaika, Triumphator
jeff_l
(Jeff_L)
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