Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Afrika zeigte in Blau die Büste eines lächelnden Soldaten mit Gewehr im
Arm. Es handelte sich um ein Wörterbuch aus dem Italienischen in die vier
verbreitetsten Sprachen der Kolonien: Galla, Amharisch, Arabisch und
Tigrinisch. Ein Wörterbuch ins Italienische, also andersherum, gab es nicht.
Im Sinne des Ministeriums mussten die Italiener sich in Äthiopien
verständlich machen, sie mussten nicht verstehen. So spiegelte das kleine
Büchlein in schöner Anschaulichkeit das Recht der Kolonisatoren wider, zu
reden, und die Pflicht der Kolonialisierten, zuzuhören – und zu gehorchen.
Attilio verstand daher nichts von den Gesprächen zwischen den Trägern,
die ihm die Postsäcke zur Zensur heranschleppten. Einer von
undefinierbarem Alter hatte hervorstehende Schneidezähne, die schwer aus
seinem Gesicht ragten wie zwei Steine aus einem Erdrutsch. Sein Name war
Afework, doch Attilio nannte ihn Alfredo. Er wandte sich nur mit Befehlen
an ihn. Beim Briefeöffnen saß er neben ihm und wurde häufig beauftragt, die
kompromittierendsten Seiten zu verbrennen. Attilio ahnte nicht, dass
Afework Italienisch sowohl sprechen als auch ganz gut lesen konnte. Als
kleiner Junge hatte seine Familie ihn in ein Kloster geschickt, wo er gelernt
hatte, antike Texte aus geez zu entziffern. Dann war er von einem
italienischen Arzt angestellt worden, der seinen Vater mit einem guten Gehalt
überzeugt und bei dem er das lateinische Alphabet gelernt hatte. Nun verbarg
sich Afework hinter seinem analphabetischen Äußeren, um seinen flinken
Geist geheim zu halten. Sobald sich ihm die Gelegenheit bot, versuchte er
diese Zeilen in den verschiedenen Handschriften – breit, fein, spitz,
krakelig – zu entziffern, bevor sie von Attilios Tintenstrich unleserlich
gemacht wurden. Wann immer er eine nützliche Information las – die
Gegend, wo ein neuer Trupp von Schwarzhemden operierte, die Lieferung
eines neuen Artilleriegeschützes –, merkte er sie sich. Später, wenn er das
Postbüro verließ, flüsterte er sie Personen seines Vertrauens zu. Wie
wertvolle Ware wurde die Information nun weitergetragen, von einem Mönch
auf dem Heimweg zu seinem Kloster an einen singenden
Geschichtenerzähler, von einer Frau, die ihren Vater besucht hatte, an die
Alten des Dorfes, bis sie dort ankam, wo sie weiterhalf: oben in der
Hochebene, in den Höhlen zu Füßen der Ambas, wo sich die armagnoch
versteckten, die Partisanen. Die Botschaften hatten zwei Schichten, wie eine
Wachshülle um ein Schmuckstück aus reinstem Gold. Die erste Botschaft
war für alle verständlich, auch für einen talian: »Er war ein Hausherr, er ist

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