Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

gibt’s Prügel!«, verschwanden die letzten drei Wörter unter Attilios
schwarzem Balken.
Eines Tages fand er in einem der Briefumschläge ein Foto. Der
grobkörnige Abzug war offenbar in einem Feldlabor hergestellt worden, die
hellen Schlieren darauf machten das Bild fast unkenntlich. Es stellte einen
jungen Mann im Halbkörperporträt dar, ein Schwarzhemd, dessen
Gesichtszüge durch den schlechten Abzug kaum zu erkennen waren. Nur die
weiße Zahnreihe im Gesicht ließ auf ein Lachen schließen. Hinter ihm
standen drei weitere Männer, die ebenfalls sorglos froh in die Kamera
blickten. Der Milizsoldat hielt einen Gegenstand in Kamerahöhe, den Attilio
sofort erkannte: die klare Stirnlinie, die geschlossenen Lider, die ausgeprägte
Nase. ›Woher hat das Schwarzhemd nur die Maske?‹, fragte er sich verblüfft.
War vielleicht irgendwo in Abessinien noch eine anthropologische
Expedition unterwegs? Ob Cipriani davon wusste? Doch dann explodierte
plötzlich die Erkenntnis in seinem Gehirn wie eine Handgranate: Was das
Schwarzhemd da lächelnd an den Haaren in die Luft hielt, war kein
Gipsabdruck, sondern ein abgeschlagener Kopf.
Attilio saß lange am Schreibtisch, die Hände auf der Tischplatte, und
wusste nicht, was tun. Er befahl sich, klug zu sein. Das Bild durfte Italien
nicht erreichen, so viel war klar. Aber einfach vernichten konnte er es auch
nicht. Das verbot ihm die Frage, die er – wie Carbone ihm zu verstehen
gegeben hatte – bisher hatte umgehen können und die nun wieder in ihm
wühlte: Was hätte ich anstelle dieser Schwarzhemden getan? Nie in seinem
Leben war Attilio so nah an einer Art Selbsterkenntnis wie in diesem
Moment. Doch der Moment währte nur kurz, einige Sekunden. Dann nahm er
das Foto und warf es in das Kohlebecken.
Der Großteil seiner Arbeit war weniger traumatisch, aber
besorgniserregender: Wie viel von der Mutlosigkeit vieler Kolonisten durfte
ein Jahr nach Ausrufung des Imperiums durchdringen? »Ich bin
hierhergekommen, um keine Herren mehr zu haben, doch die italienischen
Herren reißen sich auch hier alles unter den Nagel. Uns bleiben nur die
Fliegen, schrecklich viel Arbeit und überall schwarze Gesichter.« Viele
Ansiedler verwünschten den Tag, als sie ins »verdammte Afrika« emigriert
waren statt nach Amerika. Attilio überlegte lange, ob er diesen trostlosen Satz
schwärzen sollte: »Ich bete zum Herrgott, dass er mich erst sterben lässt,
wenn ich nach Hause zurückgekehrt bin, nicht in diesem Land der

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